Andreas Platthaus: „1813“

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Eine detaillierte Chronologie der Völkerschlacht um Leipzig

In der ersten Dekade des 19. Jahrhunderts hatte Napoleon ganz Europa überrannt. Die in Frankreich neu eingeführte  Wehrpflicht und das durch die Revolution gestärkte Nationalgefühlr sorgten für höhere Motivation der Soldaten als bei den Söldnerarmeen der anderen Staaten, und Napoleons bewegliche Kriegführung führte zu einem bedeutenden strategischen Vorteil. Doch die unterworfenen Staaten begehrten zunehmend auf: die Herrscher, weil ihr Ego und ihre reale Macht beschnitten war – alle mussten Napoleons Kontinantalsperre gegen England einhalten -, die Völker, weil es ihr erwachendes Nationalgefühl kränkte. Als Napoleon sich schließlich 1812 mit dem Feldzug gegen Russland übernahm und fast ohne Armee zurückkam, witterten Preußen, Österreich und Russland Morgenluft und wagten wieder militärische Offensiven gegen Napoleon.

Dessen Truppen standen Mitte 1813 in Sachsen bei Leipzig. Napoleon hatte in seiner strategischen Klugheit erkannt, dass Sachsen sich ständig gegen die territorialen Ansprüche Preußens und Österreichs wehren musste, und das kleine Königreich folgerichtig zu seinem Verbündeten gemacht. Mit dem gleichen Ziel – eine Pufferbildung gegen Österreich und Preußen – hette er den „Rheinbund“ gegründet, ein Bündnis aufgewerteter oder neu gegründeter Staaten entlang des Rheins, die durch ihren plötzlichen Aufstieg alle Napoleon verpflichtet waren und sein Bündnisangebot annahmen. Napoleons Truppen bei Leipzig bestanden also zum nicht geringen Teil aus Sachsen und anderen Deutschen, und es stellte sich bereits damals die Frage, wie lange diese Bündnistreue halten würde.

Nachdem Frühjahr und Sommer 1813 mit wechselndem Kriegsglück der Parteien vergangen waren, rüsteten sich die Alliierten – Österreich, Preußen, Russland und Schweden – zum entscheidenden Schlag. Mitte Oktober standen drei große Armeeblöcke im Süden, Norden und Osten zum Kampf bereit. Vom 16. bis zum 19. OKtober tobte eine erbitterte Schlacht, die etwa hunderttausend Soldaten das Leben kostete und die Dörfer um Leipzig herum dem Erdboden gleichmachte. Am 19. Oktober verließ Napoleons Heer fluchtartig durch den einzig freien Weg im Westen Stadt und Schlachtfeld und zog sich mit Unterbrechungen nach Frankreich zurück, wo es die Allierten m Jahr 1814 endgültig besiegten und Napoleon nach Elba schickten.

In dem vorliegenden Buch schildert Andreas Platthaus anlässlich des 200. Jubiläums dieser Schlacht die Chronologie der Ereignisse ausführlich. Dabei geht er sowohl auf militärische wie auf politische und gesellschaftliche Hintergründe ein. In den ersten vier Kapiteln stehen die politischen Randbedingungen und die Beziehungen der Alliierten untereinander im Mittelpunkt. Dabei zeigt er deutlich, dass Österreich und Russland als Kaiserreiche sich dem kleinen Königreich Preußen überlegen fühlten und dies den preußischen König auch fühlen ließen – vor allem protokollarisch. Darüber hinaus betrachtete Österreich Preußen als unerwünschten Konkurrenten auf deutschem Boden und wollte dessen Einfluss möglichst gering halten.

Napoleon wich in diesem Krieg zum ersten Mal von seiner Strategie der beweglichen, offensiven Kriegführung ab und wartete auf den Angriff der Alliierten – mit fatalen Folgen. Vielleicht wäre die Auseinandersetzung anders ausgegangen, wenn er mit all seinen Kräften einen Alliierten zuerst angegriffen hätte. Vielleicht fehlte ihm dazu aber auch die Kraft, denn nach dem Russlandfeldzug fehlten ihm gut ausgebildete, erfahrenen Soldaten, mit denen er eine Angriffsstrategie hätte verfolgen können. Platthaus geht auf all diese Aspekte ein und zeigt sowohl die Brüchigkeit der Koalition als auch die strukturellen Schwächen der napoleonischen Armee.

Ein wichtiges Thema ist für Platthaus auch die Zivilbevölkerung, die erheblich unter den kriegerischen Ereignisse leiden musste. Da alle Armeen ihre Versorgung – Unterkunft, Proviant, Pferde – „ad hoc“ aus dem Land requirierten, blieb der Bevölkerung bald kein Korn Getreide, kein Stück Vieh und kaum eine Scheibe Brot, von den niedergebrannten und zerschossenen Häusern gar nicht zu reden. Platthaus lässt verschiedene Leipziger Bürger zu Wort kommen, die in unterschiedlichem Umfang Tagebücher und Notizen über die vier Tage der Schlacht verfasst haben. Dabei liegt der Schwerpunkt dieser Berichte immer wieder auf der schlechten Versorgungslage, der Überfüllung mit Soldaten – in und um Leipzig waren rund 600.000 SOldaten versammelt – und die Menge der verwundeten und sterbenden Franzosen, die Häuser und Straßen in Leipzig auf unerträgliche Weise füllten.

Den eigentlichen Schlachtverlauf schildert er chronologisch, angefangen bei dem Gemetzel des Reitergefechts am 16. Oktober bis zum Einmarsch der Monarchen am 19. Oktober. Dabei geht er auf jeden Tag detailliert ein: die Versuche der Allierten, bestimmte Stellungen einzunehmen; das Problem der freien Ebene, die den Soldaten kaum eine Deckung ermöglichte; die topologischen Verhältnisse – die durch den Regen angeschwollenen Flüsse, die morastige Auenlandschaft im Westen – und die verlustreichen Kämpfe um strategisch wichtige Punkte. Bis auf wenige Gegenangriffe blieben die Franzosen stets in der Defensive und erlebten schließlich fast ein frühes „Stalingrad“, das letztlich nur die Österreicher verhinderten. Platthaus zeigt, dass die Österreicher leicht den westlichen Zugang hätten absperren können. Dass sie dies nicht taten, führt er auf ihre Antipathie gegenüber den Preußen zurück, die bei einer schnellen, vernichtenden Kesselschlacht den Sachsen die Möglichkeit des Seitenwechsels genommen und anschließend das gesamte Königreich – mit russischer Unterstützuing –  annektiert hätten. Durch den Abzug der französischen Truppen – wenn auch unter großen Verlusten – konnten die sächsischen Truppen noch recntzeitig die Seite wechseln und später bei den Siegern am Tisch sitzen. Nur König Friedrich August blieb bis zum Schluss an Napoleons Seite, allerdings ohne militärischen Einfluss, und büßte dafür zwei Jahre lang als Gefangener der Preußen.

Platthaus vermittelt mit diesem Buch einen guten Eindruck von der politischen und gesellschaftlichen Situation im frühen 19. Jahrhundert. Napoleon stellt er als einen Neuerer dar, der nicht nur militärisches sondern auch politisches Genie aufwies. Er war jedem seiner Kontrahenten intellektuell und miltärisch-politisch deutlich überlegen, aber wie so oft gilt auch hier der Satz: zu viele Hunde sind des Hasen Tod. Er hatte es mit ganz Europa aufgenommen und sich damit übernommen. Dagegen kommen weder Franz I. von Österreich noch Friedrich Wilhelm III. von Preußen oder Zar Alexander I. gut weg. Sie sind Monarchen alten Stils, fühlen sich im Geheimen als Sonnenkönige und haben vom Militärischen kaum Ahnung. Letzteres wussten sie allerdings selbst und delegierten die Kriegsführung an ihre Generäle, z. B. Schwarzenberg (Österreich) oder Blücher (Preußen).

Auch dem Kapitel „Goethe und die Völkerschlacht“ widmet Platthaus ein längeres Kapitel. Er verweist auf die erstaunliche Tatsache, dass Goethe keinen – dichterischen, politischen – Kommentar zur nur 130 Kilometer entfernten Schlacht abgab und sich erst eine Dekade später als stiller Befürworter des nationalen „Befreiungskrieges“ offenbarte. Platthaus führt diese indifferente Haltung darauf zurück, dass Goethe Napoleon als „Gleichen unter Großen“ bewunderte und akzeptierte, d.h. für Goethe war Napoleon auf praktisch-politischem Gebiet das, was er selbst auf dem geistig-intellektuellen war. Daher wünschte er dem Franzosen im Stillen Glück bei der Völkerschlacht, war aber klug genug, das nicht zu deutlich werden zu lassen. Zur Untermauerung dieser These verweist Platthaus auf das berühmte Gespräch zwischen Goethe und Napoleon einige Jahre vorher in Weimar, bei dem sich Goethe wohl sehr geschmeichetlt gefühlt hatte.

Natürlich zeigt Platthaus auch die Folgen der Schlacht, die im Gegensatz zu dem Schlagwort „Eine Schlacht, nach der nichts mehr so wie vorher war“ die alten Verhältnisse wieder herstellten. Die Monarchen schafften die von Napoleon in der Folge der verhassten Revolution eingeführten Neuerungen und bürgerlichen Freiheiten wieder ab und eröffneten das Zeitalter der Restauration, das 1848 nur angekratzt wurde und erst gegen Ende des jahrhunderts zu Ende gehen sollte.

Im letzten Kapitel hält Platthaus eine Rückschau aus dem Jahr 2013, bei der er per Auto und zu Fuß alle wichtigen Stationen und Denkmäler der Stadt aufsucht und ihre heutige Einbettung in das Stadtbild beschreibt. Viele dieser Stellen, die damals im freien Feld lagen, sind heute im Häuser- und Straßenmeer der Stadt Leipzig keum noch erkennbar.

Dem Buch sind ein ausführlicher Anmerkungsteil sowie ein detailliertes Register und umfangreiche Literaturverweise angefügt. Einzig die Karten des Schlachtfelds, Originaldarstellungen aus dem 19. Jahrhundert, sind zwar authentisch aber wenig aussagekräftig, da zu klein beschriftet. Hier hätte man sich ein Faltblatt mit gut lesbaren Detailangaben sowie einen zusätzlichen Stadtplan von Leipzig aus dem Jahr 1813 gewünscht.

Andreas Platthaus‘ Buch „1813“ ist im Rowohlt-Verlag unter der ISBN 978-3-87134-749-8 erschienen, umfasst 476 Seiten und kostet 24,95 €.

Frank Raudszus

 

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