Grigorij Sokolov spielt beim Rheingau-Musik-Festival im Kurhaus Wiesbaden Schubert und Beethoven
Rezensenten und Kritiker von Kulturveranstaltungen halten sich generell für kompetent, kulturelle Leistungen aus der erhöhten Warte der Zuschauerränge zu beurteilen, bis hin zum genüsslichen Verriss. Doch bisweilen fehlen selbst diesen – zu Recht?? – selbstbewussten Schreibern die Worte, um die präsentierte Leistung angemessen zu beschreiben. Natürlich kann man in Begeisterung und Superlative ausbrechen, doch diese zeugen meist mehr von Hilflosigkeit als von echter Sachkenntnis. So erging es dem Verfasser dieser Zeilen bei dem Auftritt des russischen Pianisten am 18. August in Wiesbaden. Die Veranstalter des Rheingau-Musik-Festivals hatten aus gutem Grund den größtmöglichen Saal gewählt, da der Name eine außergewöhnlich hohe Kartennachfrage zur Folge hatte. So war der „Friedrich-von-Thiersch“-Saal im Wiesbadnener Kurhaus auch bis auf wenige Plätze ausverkauft, als kurz nach 19 Uhr das Podium betrat. Solokov ist ein becheidener, zurückhaltender Mensch, der die Starattitüde offensichtlich verabscheut. Nach einer kurzen Verbeugung ins Publikum nahm er vor dem Flügel Platz, konzentrierte sich und hob dann langsam die Arme für das erste Stück.
Der erste Teil des Abends war Franz Schubert gewidmet. Auf dem Programm standen die vier Impromptus op. 90, D 899, sowie „Drei Klavierstücke“ D 946. Das erste Impromptu in c-Moll begann Sokolov ausgesprochen langsam; er tastete sich nach derm einleitenden Oktav-Akkord in G geradezu an das Thema in der rechten Hand heran und erzeugte damit gleich zu Beginn eine besondere Spannung. Im weiteren Verlauf dieses Stücks zeigte Sokolov jedoch, dass man Schubert nicht verträumt-lyrisch sondern zupackend und markant spielen kann. Die Triolen-Akkorde – mal in linker, mal in rechter Hand – markierte er deutlich und energisch, und die Melodielinien modellierte er mit markanter Betonung. Unter seinen Händen entwickelte dieses Impromptu einen entschiedenen und kraftvollen Charakter. Das zweite Impromptu (Es-Dur) kam leicht und locker daher, im zweiten Thema (h-Moll) konsequent akzentuiert. Das dritte Impromptu in Ges-Dur ist in der herkömmlichen Literatur mit der Tempobezeichnung „Andante“ übertitelt, bei Sokolov jedoch mit „Andante mosso“. Worauf diese Tempowahl beruht, war dem Programmheft nicht zu entnehmen, aber Sokolov spielte es denn auch schneller als man es gewohnt ist. Das hatte jedoch den Vorteil, dass dieses Stück seine gefährliche Süße verlor und dafür an musikalischer Strenge gewann. Dieses Impromptu verleitet Pianisten leicht zu einer gefühligen Interpretation, und diese Erwartungshaltung wollte Sokolov offensichtlich nicht bedienen. Durch diese Tempowahl passte das Stück auch besser in den Rahmen der anderen drei Impromptus. Das vierte (As-Dur) ist mit seinen schnellen Läufen im 3/4-Takt recht lebendig und wird durch ein akkordisch-ostinates Trio in der Mitte noch zusätzlich angereichert. Sokolov spielte alle vier Impromptus ohne größere Pausen, wohl auch, um Zwischenapplaus zu vermeiden, der den Gesamteindruck beeinträchtigt hätte. Aber das Publikum erlag dieser Versuchung von vornherein nicht, sondern sparte sich den kräftigen Beifall für das Ende auf.
Die „Drei Klavierstücke“ unterscheiden sich gattungstechnisch nicht von den Impromptus, die auch nicht von Schubert sondern von seinem Verleger so benannt wurden. Man darf also auf solche Bezeichnungen nicht allzuviel geben. Das erste, ein „Allegro assai“ in der Grundtonart es-Moll, wandert über Es-Dur und H-Dur nach es-Moll, Es-Dur, im Andantino dann nach As-Dur, schließlich wieder nach es-Moll und endet in Es-Dur. Seine Länge und Strukturierung machen dieses Klavierstück fast zu einer kleinen Sonate, die am Ende das Anfangsthema wieder aufnimmt. Sokolov verlieh diesem Stück mit seinen von Moll-Triolen untermalten Oktavgriffen geradezu dämonische Züge. Sollte irgend jemand aus dem Publikum dem Irrglauben des 19. Jahrhunderts angehängt haben, Schubert sei ein unbedeutender Salonmusiker gewesen, dann hat ihn Sokolov mit dieser Interpretation eines Besseren belehrt. Das zweite Klavierstück, ein Allegretto, beginnt dagegen eher liedhaft-lyrisch in Es-Dur, wechselt dann aber zu c-Moll mit düsteren Terzfolgen und einer ostinaten Begleitung, abwechselnd in der linken und rechten Hand. Sokolov verdeutlichte mit seinem zupackenden Spiel die atmosphärische Verwandschaft der beiden Stücke in überzeugender Weise. Das dritte Klavierstück fällt dagegen etwas aus der Reihe, trägt es doch eher bizarre Züge der Zerrissenheit. Liedhafte Motive sucht man hier vergebens, da schnelle Akkordverbindungen und flüchtige Motive dominieren. Sokolov präsentierte das Stück in hohem Tempo und verlieh ihm damit einen schillernd-brillanten Charakter. Dabei bestach vor allem seine hohe Virtuosität und die trotz des Tempos strenge Transparenz.
Schon zur Pause verabschiedete das Publikum den Solisten mit kräftigem Beifall. Alle warteten jedoch auf den Höhepunkt des Abends, Beethovens „Große Sonate für das Hammerklavier“ op. 106. Dieses Werk gilt als einzigartig; Beethoven selbst hat prophezeit, dass sich die Pianisten erst in fünfzig Jahren an eine Interpretation wagen würden, und behielt darin fast Recht. Jeder Satz dieser Sonate ist auf seine eigene Weise von höchster Komplexität und dichtester Aussage. Bereits der erste beginnt mit einem fanfarenartigen Motiv, das sich immer wieder Bahn bricht und das „Leitmotiv“ dieses Satzes darstellt. Dazwischen löst Beethoven das Motiv in höchst eigenwillige Läufe und Oktavketten in beiden Händen auf. Vom einleitenden B-Dur geht es über G-Dur nach Es-Dur, dann über h-Moll nach H-Dur und wieder zurück nach B-Dur. Ein wahrhaft höllischer Tonartenreigen! Dieses weitverzweigte musikalische Gebilde im Griff zu behalten erfordert höchste Fähigkeiten, technisch wie künstlerisch. zeigte sich bereits hier, im ersten Satz, als Meister. Energisch, kraftvoll und doch feinfühlig bei der Interpretation des komplexen Notenmaterials. Die stufenweise sich fortsetzenden, in unterschiedlichem Gewand wiederkehrenden Motive und Figuren können leicht den Eindruck der Ziellosigkeit vermitteln, wenn sie nicht mit höchster Transparenz und Innenspannung vorgetragen werden. Sokolov hielt diesen Spannungsbogen vom einleitenden Fanfarenstoß bis zum letzten Oktavsprung abwärts aufrecht und forderte bereits hier im ersten Satz die ganze Aufmerksamkeit des Publikums. Denn einfach nur zuhören und genießen geht bei der „Hammerklavier-Sonate“ gar nicht.
Der zweite Satz ist ein fast diabolisches Scherzo, das mit wachsender Spannung und hoher Dichte vorwärts drängt. Fast klingt es so, als habe Beethoven sich nach dem langen und strengen Anfangssatz Luft für andere musikalische Überlegungen verschaffen wollen. Doch das Scherzo wirkt deswegen nicht leicht und heiter sondern kompromisslos und im kurzen Presto geradezu vorwärts stürmend. Letztlich verweist das Scherzo auf die Höhepunkte dieser Sonate, das Adagio und das Finale.
Das „Adagio“ gilt als einer der berührendsten und gleichzeitig schwierigsten Sätze der Klavierliteratur. Zwei aufsteigende Noten, eine große Terz bildend, steigen von unten auf und eröffnen ein akkordisches Motiv, das im Folgenden bis zur melodischen und harmonischen Unkenntlichkeit aufgelöst und durch verschiedene Tonarten geführt wird. An den Pianisten stellt dieses Adagio die höchsten Anforderungen, muss er doch aus einem scheinbar chaotischen Notengebilde eine Form herausarbeiten, die ihre Spannung über den gesamten Satz aufbaut und hält. gelang dies auf eine Weise, die das Publikum zu gebannter Stille verdammte. Selbst die obligatorischen Huster blieben während dieses abgründigen Adagions aus, derart konzentriert modellierte Sokolov dieses verschachtelte Notengebilde, das sich dem intuitiven Verständnis weitgehend entzieht. Man kann nur versuchen, die hier ausgedrückten Emotionen aufzunehmen und nachzuempfinden. Als das Adagio mit zwei oktavierten Duodezim-Akkorden im Pianissimo endete, verharrte auch das Publikum in fast andächtiger Stille und erwartete den letzten Satz.
Der kam dann als äußerst komplexer Fugensatz, der an Dichte nichts zu wünschen übrig lässt. Dem Laien bleibt dabei unverständlich, wie ein einzelner Mensch die komplexen Tonfolgen nicht nur in den Fingern sondern auch im Kopf haben kann, denn thematische Anhaltspunkte oder gar melodische Linien scheint es nicht mehr zu geben. Das ganze Tonmaterial löst sich auf in fugierte Verzahnungen, die sich unablässig verwandeln, sich steigern und gegenseitig geradezu verfolgen. Das Geflecht der Stimmen wird immer dichter und für den Normalzuhörer kaum noch nachvollziehbar. Man kann hier mit gutem Grund das Wort von der „absoluten Musik“ zitieren. Was nach den drei anspruchsvollen Eingangssätzen hier präsentierte, ist – wie am Anfang bereits erwähnt – mit den dürren Worten eines Rezensenten nicht mehr zu beschreiben. Man kann nur in stiller Bewunderung danebenstehen und dem Solisten anschließend begeistert applaudieren.
Das tat das Publikum nach dem Schlussakkord denn auch und entbot dem Solisten „stehende Ovationen“, die diesen dazu motivierten, noch drei Scarlatti-Sonaten als Zugabe zu spielen. Diese leichte und trillerreiche Musik löste die Angespanntheit, die der große Bogen der Hammerklavier-Sonate hinterlassen hatte, ein wenig und bereitete die Zuhörer wieder auf den Alltag vor den Toren des Kurhauses vor.
Frank Raudszus
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