Cédric Villani: Das lebendige Theorem
Ein geradezu spannendes Buch über die Entwicklung eines mathematischen Beweises
Cédric Villani, Jahrgang 1973, ist einer der führenden Mathematiker Frankreichs. Im Jahr 2010 errang er durch einen wichtigen mathematischen Beweis die Fields-Medaille, die alle vier Jahre an Mathematiker unter vierzig Jahren verliehen wird und in Mathematikerkreisen als „Nobelpreis“ für die Mathematik gilt. In seinem Buch beschreibt Villani die langwierige und schwierige Entstehung dieses Beweises und reichert die Beschreibung durch viele andere – familiäre und berufliche – Eindrücke an. Im Grunde genommen handelt es sich um die Autobiographie eines entscheidenden Lebensabschnitts.
Der österreichische Physiker Ludwig Boltzmann entwickelte eine Formel für das Verhalten von Gasen. Nach dieser sogenannten „Boltzmann-Gleichung“ erreichen alle Gase nach einer bestimmten Zeit den stabilen Endzustand größter Entropie. Dieser Begriff sagt etwas über die Ordnung eines Systems aus. Bei der größten Entropie (normiert auf 1) sind alle Energieunterschiede verschwunden; es stellt sich ein Zustand allgemeiner Unordnung ein. In der Praxis kann man diese Hypothese daran erklären, dass bei der Vermischung von zwei Gefäßen mit heißem und kaltem Wasser nicht das kalte noch kälter und dafür das heiße noch heißer wird, sondern dass sich eine Durchschnittstemperatur einstellt.
Boltzmann hat diese Gleichung aufgrund seiner experimentellen Erkenntnisse entwickelt. Ihm als Physiker genügte es, dass die Gleichung seine Erfahrungen beschrieb. Ein Mathematiker betrachtet eine solche Gleichung jedoch aus einem anderen Blickwinkel. Wenn die Gleichung einen stabilen Endzustand beschreiben soll, muss sie „konvergieren“, d.h. sie darf nicht beliebige Endwerte annehmen. Sollte das der Fall sein, ist entweder die Gleichung falsch oder die gesamte Physik stimmt nicht. Normalerweise ist ersteres der Fall, da die Materie sich nicht nach abstrakten mathematischen Erkenntnissen richtet. Das beste Beispiel sind dafür die Newtonschen Gesetze, die für unsere irdischen Verhältnisse „stimmen“, bei sehr großen Geschwindigkeiten jedoch nicht mehr gelten. Einstein hat diesen Fehler mit der Relativtätstheorie beseitigt, doch diese beinhaltet immer noch die Newtonsche Mechanik für kleinere Geschwindigkeiten.
Für Villani ging es darum, die Gültigkeit der Boltzmann-Gleichung für alle Werte und Zeiten zu beweisen, d.h. ihre Konvergenz nachzuweisen. Diese Aufgabe ging er mit einem jüngeren Kollegen zusammen an, wobei sie von Anfang an auf elementare mathematische Schwierigkeiten stießen. Auf Umwegen landeten sie bei anderen Gleichung, die sie dann in einem schwierigen Prozess bewiesen. Selbst für Leser mit naturwissenschaftlich-technischem Studium ist es außerordentlich schwierig bis unmöglich, den komplizierten Formeln und den Häufungen von Fachausdrücken und Abkürzungen zu folgen. Wer nicht gerade jahrelang auf diesem oder einem verwandten Gebiet geforscht hat, sollte daher den Versuch des Nachvollziehens von vornherein aufgeben.
Darauf kommt es letztlich in diesem Buch auch nicht an. Villani geht es nicht darum, dem Leser die Beweisgänge im Detail zu erklären, sondern vielmehr, den Prozess der Erkenntnis zu beschreiben. Zwar führt er immer wieder teilweise seitenweise Formeln an, doch sollen diese eher einen Eindruck von der Welt der Mathematik vermitteln als fachlisches Verständni erzeugen. Villani zeigt, dass ein großer Teil der mathematischen Forschung in harter Detail- und Fleißarbeit besteht. Immer wieder landen die beiden Forscher in Sackgassen, wollen schon aufgeben, und finden doch wieder einen Weg, die aktuellen Probleme zu meistern. Der Beweisgang bewegt sich sozusagen im Krebsgang vorwärts: ein Schritt zurück, zwei vor.
Während dieser Zeit besucht Villani verschiedene internationale Institute, in den USA und anderswo, wo er seine (Teil-)Erkenntnisse vorstellt und auch auf Skepsis stößt. Diese Reisen benutzt er dazu, die mathematischen Koryphäen unserer Zeit kennenzulernen und den Lesern vorzustellen,. Dabei legt er ebenso viel Wert auf die fachliche Einordnung wie auf die menschlichen Seiten des jeweiligen Kollegen. Einer von ihnen ist schon jenseits der achtzig und widmet sich immer noch der mathematischen Forschung wie ein Vierzigjähriger. Freizeit und Ruhestand gibt es in der Welt der Spitzenmathematiker nicht. Sie sind alle besessen von der Schönheit und den Geheimnissen der Mathematik.
Auch wenn Villani selbst von sich den Eindruck erweckt, nur ein fleißiger und hingebungsvoller Arbeiter zu sein, ist sein Genie nicht zu verkennen. Das erkennt man schon daran, dass er sich an ein Gebiet wagt, das bis zu diesem Zeitpunkt vielen als zu schwierig galt. Außerdem lassen die Reaktionen seiner Kollegen – ohne dass er dies hervorhebt – darauf schließen, dass sie ihn als einen der Besten ihres Fachs schätzen.
Doch Villani ist nicht nur Mathematiker, sondern auch Ehemann und Familienvater. Da muss er bisweilen des Abends Kinder hüten, um anschließend wieder die Nacht durchzuarbeiten, weil auch seine Frau einem anspruchsvollen Forscherberuf nachgeht. Außerdem ist Villani kein einseitiger Mathematiker. Seine metaphorischen Zitate von Apolllinaire und anderen Schriftstellern weisen ihn als Literaturkenner aus, und die Musik liebt er besonders. Er selbst spielt Cello, und man darf aufgrund verschiedener Bemerkungen annehmen, dass er auf diesem Instrument nicht dilettiert. Außerdem verfügt er über ein umfangreiches Wissen auf dem Gebiet der U- und E-Musik, und man könnte mit ihm wahrscheinlich genauso gut über Beethoven oder Popmusiker wie über die Boltzmann-Gleichung diskutieren.
Zu allem Überfluss erwähnt er an einer Stelle auch noch, dass er an einem bestimmten mathematischen Institut einmal das Tischtennisturnier gewonnen habe. Nur ein notorischer Neider würde umgehend vermuten, dass daran nur Anfänger teilgenommen haben. Man muss also davon ausgehen, dass Villani außer seinen intellektuellen und musischen Talenten auch noch sportliche auzuweisen hat.
Das mag in manchen Ohren so klingen, als ergehe sich Villani in einer endlosen eitlen Selbstbespiegelung. Seine modische Kleidung – Tuch statt Krawatte und eine große Spinnenbrosche am Revers – mag diese Unterstellung noch verstärken. Doch Villanis sicher nicht abzustreitende Eitelkeit – siehe Kleidung – ist nicht stärker ausgeprägt als bei den meisten Menschen. Er lässt einfach seinen Gedanken freien Lauf: den Gedanken zur Mathematik, den Strategien zur Lösung seines Problems, den Assoziationen beim Hören von Musik, die bei ihm auch zum Arbeiten gehört, und den Gedanken über Literatur, die zu seiner Arbeit und den damit zusammenhängenden Problemen passt. Villani betreibt mit diesen Abschweifungen keine nervige Bildungshuberei sondern lässt einfach seinen Assoziationeketten zu anderen Lebensbereichen freien Lauf.
Das Buch gibt nicht nur dem mathematischen Laien Einblick in die Welt der Mathematik und hrer Bewohner sondern spiegelt auch den Geist einer wissenschaftlich-technischen Epoche wider, in der wir leben und die uns täglich prägt, ohne dass wir es wissen. Wir erhalten mit diesem Buch sozusagen einen Blick in den Maschinenraum der wissenschaftlichen Welt.
Das Buch Das lebendige Theorem ist im S.Fischer-Verlag unter der ISBN 978-3-10-086007-1 erschienen, umfasst 298 Seiten und kostet 19,99 .
Frank Raudszus
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