Kontrollierter Tastenrausch in 24 Varianten
Der kanadische spielt beim Rheingau Musik Festival Chopis Etüden op. 10 und op. 25
Wenn der erst 18jährige Jan Lisiecki das Podium betritt, meint man, einen schüchternen, gerade den Kinderschuhen entwachsenen jungen Mann vor sich zu haben. Mittelgroß, eher dünn als schlank und mit einem dichten Haarschopf versehen, schaut er lächelnd ins Publikum, und man hofft, dass dieser Halbwüchsige die nervliche Anspannung gut meistert. Wenn er dann jedoch zu spielen beginnt, reift er buchstäblich um mindestens zehn Jahre, mit einer solchen Selbstsicherheit und Perfektion trägt er sein Programm vor. Richtig verblüffend wird es dann jedoch, wenn sich Lisiecki – ganz im Gegensatz zu den meisten Solopianisten – unmittelbar an das Publikum wendet. Er zeigt nicht die geringste Scheu davor und beweist auch Humor. Als unmittelbar nach dem leisen Verklingen des letzten Akkord einer Etüde die Glocken des Schlossturms von Schloss Johannesberg läuteten, bemerkte er mit einem trockenen Grinsen: „perfect timing“. Und als er vor dem Beginn einer anderen Etüde versehentlich einen falschen Ton anschlug, kommentierte er auch das mit einer humorvollen Bemerkung. Auch seine tiefe. kräftige Stimme und der deutlich nordamerikanische Tonfall ließen eher auf einen kosmopolitischen Dreißigjährigen als auf einen Achtzehnjährigen schließen.
Soviel zu den Äußerlichkeiten dieses Abends. Der musikalische Teil bestand aus den beiden Etüden-Sammlungen op. 10 und op. 25 von Frédéric Chopin. Wer immer als Kind Klavier gespielt hat, verbindet mit dem Begriff „Etüde“ Carl Czernys „Schule der Geläufigkeit“, deren Etüden die Aufgabe haben, dem Klavieranfänger die Fingerfertigkeit beizubringen. Auch bei Chopin sind die Etüden als „Übungen“ gedacht, aber weniger für Klavierschüler als viel mehr für den Komponisten und Pianisten Chopin selbst. Er hat damit versucht, die Möglichkeiten der Musik und vor allem des Instruments auszuloten. Ähnlich wie Bach in seinem „Wohltemperierten Klavier“ wandert Chopin dabei durch die Tonarten, wechselt zwichen Dur und Moll und sucht auch entfernte Tonarten auf. Doch im Gegensatz zu Bach erfolgt dies nicht chromatisch, von C-Dur ausgehend, sondern eher aus einem musikalischen Impuls. So wandern die Etüden aus op. 10 von C-Dur über a-Moll nach E-Dur und cis-Moll und weiter zu Ges-Dur sowie es-Moll, bis dahin noch aufsteigende Dur-Moll-Paarungen. Dann jedoch geht es von C-Dur nach F-Dur und f-Moll, dem zugehörigen As-Dur und schließlich noch eine Paarung von Es-Dur und c-Moll. Typische Grundtonarten wie D-Dur, G-Dur, A-Dur und H-Dur sowie ihre moll-Pendants lässt Chopin in diesem Zyklus aus.
In seinenEtüden ging es ihm nicht nur um die pianistischen Anforderungen sondern auch um die unterschiedlichen Klangwirkungen. Die Musikgeschichte weist jeder Tonart bestimmte emotionale Grundstimmungen zu, und Chopin spielt mit diesen Stimmungen, indem er die Läufe, gebrochenen Akkorde und den Anschlag darauf abstimmt. Jede Etüde ist ein eigener – wenn auch kleiner – musikalischer Kosmos, bisweilen sogar nach dem Scheme A-B-A strukturiert. Jede Etüde verfolgt eine eigene motivische Linie, wobei den schnellen Läufen – meist der rechten Hand – klare melodische Durchgänge der linken Hand zugeordnet sind. Bisweilen wandern auch die Läufe in die linke Hand, und die rechte spielt dazu die passenden Akkorde. Bei aller Geläufigkeit und virtuosen Ähnlichkeit der Etüden kommt nie Langeweile auf, da jedes Stück seinen eigenen Charakter aufweist.
Für den Pianisten ist dies keine geringe Herausforderung. Bei einer klassischen Sonate mit ihrer Länge von bis zu einer halben Stunde – bei Beethoven oder Schuibert – kann der Pianist langsam den Spannungsbogen entwickeln und sich auf längere Zeit auf das Stück einlassen. Die Etüden dauern jedoch im Schnitt nicht länger als drei oder vier Minuten. Eine nachlassende Spannung oder falsche Betonung ist hier kaum wieder gutzumachen. Dazu ändern sich Struktur und Dynamik im kurzen Wechsel der Etüden, und diese Änderungen verlangen die höchste Konzentration des Solisten. Mit technischer Perfektion ist es da nicht getan, sie ist lediglich die Voraussetzung für das Gelingen. Anschlag, Phrasierung und Intonation müssen sich dem jeweiligen Stück anpassen.
Der zeitliche Unterschied in der Entstehung der beiden Etüden-Sammlungen lässt sich an den Stücken nachvollziehen. Zwischen den ersten Etüden von op. 10 und den letzten von op. 25 liegen acht Jahre, was sich an der Kompelxität der einzelnen Etüden deutlich nachweisen lässt. Die Etüde Nr 1 op. 10 in C-Dur ist zwar technisch anspruchsvoll aber musikalisch eher einfach. Dagegen scheint die Etüde Nr 12 op. 25 aus einer anderen musikalischen Welt zu stammen, sowohl technisch als auch musikalisch.
Natürlich präsentierte Jan Lisiecki die beiden Sammlungen in der chronologischen Reihenfolge, und dabei ist jede Sammlung wieder aufsteigend nach Komplexität und Wirkung geordnet. Vom ersten Augenblick beeindruckte Lisiecki mit seiner perfekten Technik und dem hohen Tempo, mit denen er die Etüden anging. In allen Lagen klangen die rasanten Läufe stets kontrolliert, man vernahm jeden Ton, keiner wurde verwischt. In den hohen Lagen – sozusagen am oberen Ende des Flügels – klangen die gestochenen Läufe bei dem hohen Tempo zeitweise wie Glissandi, und in den tiefen Lagen war noch jeder Ton genau zu hören. Auch die schnellen Wechsel der Vortragsart meisterte Lisiecki überzeugend, so das „Andante con molto espressione“ der sechsten Etüde op. 10 nach dem Presto bzw. Vivace der vierten und fünften. Gerade weil die überwiegende Tempoangabe zwischen Allegro und Presto notiert, stellt ein einzelnes „Andante“ eine wahre Herausforderung dar.
Der zweite Teil steigert die Anforderungen noch, weil jetzt die Tempo- und Ausdrucksänderungen innerhalb einer Etüde stattfinden, so etwa in der fünften (e-Moll) oder der zehnten (h-Moll), die nach dem Muster „schnell-langsam-schnell“ ablaufen. Hier musste Lisiecki innerhalb kürzester Zeit den musikalsichen Ausdruck ändern und glaubwürdig gestalten. Trotz seiner Jugend meisterte er diese Herausforderungen bravourös und überraschte immer wieder mit seiner Virtuosität, die er bisweilen zu einem wahren Spielrausch steigerte, der ihm das Blut in den Kopf trieb. Dennoch verlor er nie die Kontrolle über das Tempo oder die Intonation, vom korrekten Spiel einmal ganz zu schweigen.
Als der letzte Akkord der c-Moll-Etüde verklungen war, brach das Publikum förmlich in den Beifall aus, den man zwischen den einzelnen Etüden hatte zurückhalten müssen. Des öfteren verspürte man nämlich förmlich den Drang, spontanen Szenenapplaus zu spenden. Heftiges Klatschen und Füßegetrampel motivierten Jan Lisiecki dann noch zu zwei Zugaben: einem Prélude von Chopin und einem Klavierstück von Johann Sebastian Bach, das einen denkwürdigen Klavierabend beschloss.
Frank Raudszus
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