Welturaufführung von Peter Schanz´ Schauspiel „Fritz Haber Deutsch oder Stimmt die Chemie?“ in Darmstadt
In dem neuen Stück des Autors Peter Schanz, der in Darmstadt bereits sein Büchner-Stück „Luise & Mathilde“ vorgestellt hat, geht es um Chemie und um Experimente. Im Mittelpunkt des detailliert recherchierten Stücks steht der deutsche Chemiker jüdischen Ursprungs Fritz Haber, der noch vor der Reichsgründung zur Welt kam, vor dem Ersten Weltkrieg den Kunstdünger und in diesem Krieg das Giftgas erfand, nach dem Krieg den Nobelpreis erhielt, schließlich unter Hitler seine Professur verlor und 1934 in der Emigration an einem Herzinfarkt starb. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte er seine Erfahrungen mit Giftgasen zur Entwicklung von Insektenvertilgungsmitteln genutzt, und die gnädige Ironie der Geschichte wollte es, dass er den tatsächlichen Einsatz seines Insektizids „Zyklon B“ nicht mehr erlebte.
Neben der Darstellung einer typisch deutschen Biographie steht in dieser Inszenierung jedoch auch das Experimentelle im Vordergrund. Schauspieldirektor Martin Apelt und Regisseur Wolfgang Hofmann hatten sich etwas Besonderes ausgedacht. Warum sollte man den Gedanken des Experiments nicht auf die Inszenierung selbst übertragen? Und so verlegte man das Stück, das sich vom Zuschauerpotential für die Kammerspiele eignet, in das Kleine Haus. Dort erweiterte man die Bühne zum Zuschauerraum mit Tribünen an beiden Seiten und siedelte das Stück dazwischen an, mit dem Risiko, das die Schauspieler zu zwei gegenüberliegende Seiten agieren müssen. Ein Grund dieser Anordnung ist jedoch laut Martin Apelt, den Zuschauern einmal alle Möglichkeiten einer modernen Bühne sozusagen hautnah zu präsentieren, ohne die Distanz der üblichen Trennung zwischen „Guckkasten“ und Zuschauerraum.
Doch ein weiterer Grund für diese ungewöhnliche Bühnenanordnung schlummert im Text des Stückes. Eine übliche Inszenierung im „Guckkasten“-Modus hätte eine klare Trennung von Fiktion und – realem – Publikum impliziert, eben die übliche Theaterumgebung. Durch die enge Anbindung der Zuschauer an das Geschehen auf der Bühne werden diese plötzlich zu Teilnehmern des Geschehens, so wie auch das deutsche Volk im letzten Jahrhundert nicht als entspannt zuschauendes Publikum sondern als Mittäter und Mitschuldige an der Geschichte teilnahm. In dieser Inszenierung fühlt man sich plötzlich wie ein Student in einer Chemievorlesung, geladener Gast bei einer Preisverleihung oder als Bürger in einem Parlament. Die Darsteller spielen kein in sich abgekapseltes Stück in einer fiktiven Welt sondern sprechen die Zuschauer wie Beteiligte an. Das vor allem verleiht dieser Inszenierung ihre besondere Wirkung.
Gleich zu Anfang präsentiert das Ensemble chorisch das Grundmotto. Im weiten Carrée aufgestellt und in die schweren, schwarzen Mäntel der wilhelminischen Honoratioren gekleidet, skandieren die Vertreter des jüdischen Establishments, zu dem auch Fritz Haber gehörte, ihr Selbstverständnis als loyale Bürger des Deutschen Reiches. Die Rassenfrage spielt keine Rolle mehr, und Beleidigungen wie „Judensau“ werden als Verirrungen Einzelner abgetan.
Eben diese Beleidigung kommt jedoch aus dem echten – und bis auf einen Männerchor leeren – Zuschauerraum, der hier für das Volksempfinden steht. Der Chor singt „Heil Dir im Siegeskranze“, und nach dem Verklingen der letzten Noten schleudert einer der Sänger den versammelten – jüdischen – Vertretern von Wirtschaft und Wissenschaft seine Beleidigung entgegen. Der Habitus dieser mosaischen Oberschicht ist dabei durchaus ambivalent. In vollständiger Anpassung an das „Gastland“ bewegen sie sich mit derselben gravitätischen Selbstzufriedenheit wie ihre deutschblütigen Mitbürger des Kaiserreiches. Die deutschnationale Arroganz dieser Zeit erstreckte sich eben auch auf die assimilierten Juden. Doch auch das Volk zeigt Autor Peter Schanz als ambivalente Größe. Neben den martialischen Gesängen um Kaiser und Reich erklingen die schönsten deutschen Volkslieder, mit wahrer Inbrunst gesungen. Zum fugierten Senfgas-Vortrag lässt er „Im schönen Wiesengrunde“ singen, dann folgt „Ännchen von Tharau“ zu ähnlicher Unbill auf der Bühne. Irgendwann im zweiten Teil, wenn die Nazis das Bühnengeschehen beherrschen, summt der Männerchor leise das „Horst-Wessel“-Lied. Das Heimelig-Gefühlvolle wohnt im Deutschen Volk dicht nebem dem Grausam-Hochfahrenden.
Fritz Haber selbst erhält als Jude lange keine ordentliche Professur und muss sich als außerordentlicher Professor durchschlagen. Doch seine berufliche Besessenheit führt ihn bald an die Spitze eines großen Labors, in dem er versucht, das Problem des knapper werdenden Naturdüngers – Salpeter aus Chile – durch die Herstellung künstlichen Düngers zu lösen. Nebenher heiratet er Clara Immerwahr, eine promovierte Chemikerin, die jedoch an seiner Seite nur noch Hausfrau und Mutter sein darf. Schlimmer noch: er nimmt sie als denkenden Menschen kaum wahr, und dem Säugling im Kinderwagen hält er beim Nasekitzeln einen chemischen Vortrag. Fritz Haber zeigt sich als Prototyp des unfähigen Ehemanns, der nur seinen Beruf im Kopf hat und die Frau lediglich als Haus- und Bettgenossin benötigt.
Die wesentlichen Lebenslinien dieses Fritz Habers beinhalten jedoch schwerer wiegende Dinge als Eheversäumnisse. Als es Haber dank unermüdlichen Arbeitens gelingt, über die Ammoniaksynthese Kunstdünger herzustellen, feiert man ihn und er den Erfolg mit einem Gläschen. Bei solchen Anlässen lädt Haber auch gerne die Kollegen ein, und diese übergeben ihre Gläser anschließend der – promovierten! – Ehefrau wie einer Hausgehilfin. Die wahre Bewährungsprobe kommt dann jedoch im Krieg, als Fritz Haber vorschlägt, das von ihm entwickelte Gas als Kampfstoff zu nutzen, mit der Argumentation, damit den Krieg zu verkürzen und Abertausende von Leben zu retten. Fritz Haber ist ein hundertprozentiger Deutscher, für den gleich nach seiner Arbeit die Belange des Deutschen Reiches rangieren. Dass auch der Feind diese Technik einsetzen könnte und damit die Kriegsverkürzung auf Kosten einer weiteren Brutalisierung des Kampfes vom Tisch wäre, wird ihm nicht klar.
Regisseur Wolfgang Hofmann arbeitet die Bedeutung des Gaskrieges messerscharf heraus. Dazu lässt er von den Darstellern nicht nur kriegsunterstützende Aufrufe deutscher Wissenschaftler verlesen, sondern ebenfalls detaillierte Wirkungsbeschreibungen der unterschiedlichen Gasarten, die dem Zuhörer das Blut in den Adern gerinnen lassen. Die versetzte Lesung lässt das ganze wie einen apokalyptischen Kanon klingen. Und während ein kleiner Junge mit Papierhelm martialische Gesänge von sich gibt. quält sich ein österreichischer Soldat aus dem Schützengraben – vulgo: Luke im Bühnenboden – und räsoniert über Juden, Feiglinge und Deserteure. Wenig später sieht man diesen Soldaten mit einer Binde vor den Augen – zeitweilig erblindet durch Gas. Wütend schwadroniert er über jüdische Kommunisten, die durch ihre „Revolution“ das Heer verraten haben, verkürzt seinen wilhelminischen Schnurrbart zu einem schmalen Oberlippenbart und beschließt, „Politiker zu werden“.
Damit ist zur Pause im Grunde genommen schon alles gesagt: Haber repräsentiert nicht nur als Mensch das Kaiserreich, sondern auch die Ambivalenz deutscher Wissenschaft(ler). Er leistet Großes für die Gesellschaft und verhindert Hungersnöte, liefert dabei jedoch mit derselben Inbrunst auch gleich das schreckliche Gegenstück, ohne sich des Ausmaßes dieses Widerspruchs bewusst zu sein. Seine Frau, die von Beginn an gegen die Giftgasentwicklung protestierte, erschießt sich nach den großen Gasangriffen in Ypern, doch Haber betrachtet das mehr als Schicksalsschlag denn als Weckruf und stürzt sich zum Vergessen umso stärker in die Arbeit. Kritik an seiner Arbeit lässt er nicht aufkommen sondern genießt die hohe Stellung, die er – als Jude! – endlich aufgrund seiner Erfindungen genießt.
Der zweite Teil ist schnell erzählt. Nahtlos setzt Haber seine Forschungen an den Giftgasen fort, nun aber mit dem Ziel der Schädlingsbekämpfung. Auch hier lässt Regisseur Hofmann wieder den Chor der Darsteller die Schlagworte „Schädlingsbekämpfung“ und „Ausrottung“ derartig markant skandieren, dass die Botschaft unüberhörbar ist. Den aufkommenden Nationalsozialismus unterschätzt und bagatellisiert Haber, den in dunklen Ahnungen auswandernden Einstein will er in Deutschland halten. EIne zweite Ehe mit der lebenslustigen Charlotte geht ebenfalls in die Brüche, weil Haber den Alters- und Mentalitätsunterschied nicht erträgt. Nach der Machtergreifung sieht er für sich als Jude keine Zukunft und tritt zurück. Doch der angestrebte Ruhestand – immerhin ist er Mitte sechzig – erweist sich in seiner Situation als illusorisch und er muss emigrieren. Auf der Reise nach Jerusalem stirbt er 1934 an einem Herzinfarkt.
Fritz Haber hat in seinem Leben zwei mittelbare Berührungen mit Adolf Hitler gehabt. In der ersten erblindet der „böhmische Gefreite“ an dem Giftgas, das Haber einst erfunden hat, in der anderen verweigert sich Adolf Hitler dem Ansinnen von Max Planck, Fritz Haber zu schonen und als Wissenschaftler zu halten. Wolfgang Hofmann geht dabei das Risiko ein, Adolf Hitler als Person auf die Bühne zu bringen. Ist das für die Zeit in den Schützengräben des Ersten Weltkrieges noch unproblematisch, da Hitler zu dem Zeitpunkt keine historische Größe darstellte, ändert sich das nach der Machtergreifung schlagartig. Der „Führer“ ist im Laufe der letzten siebzig Jahre zu einer derartigen Negativ-Ikone und einem solchen historischen Monstrum geworden, dass jede Darstellung auf der Bühne in die Gefahr entweder der Bagatellisierung oder der grotesken Dämonisierung gerät. Unabhängig von dieser schon sachlich schwierigen Aufgaben, die Person Hitler auf die Bühne zu bringen, sind die Idiosynkrasien der Öffentlichkeit zu berücksichtigen, die eben diese Bagatellisierung hinter jeder Darstellung vermutet. In dieser Inszenierung hat Uwe Zerwer die undankbare Aufgabe übernommen, den Schrecken der Deutschen darzustellen. Regie und Kostümbildner geben ihm dabei keine Chance zur Sublimierung, sondern stecken ihn in eine historisch echte braune Uniformjacke mit einer Hakenkreuzbinde am Arm. Direkter geht es nicht, und so sind der Oberlippenbart und das herunterfallende Haar nur konsequent. Doch Uwe Zerwer meistert diese schwierige Rolle hervorragend. Das „R“ rollt er nur so stark, dass es erkennbar ist aber nicht zum Klischee erstarrt. Die zitternde Hand und die cholerischen Ausbrüche wirken bei ihm nicht grotesk-verrückt sondern bedrohlich und lassen einen kranken Geist erkennen. Mit nur wenigen kurzen Auftritten muss Zerwer dieses Eindruck herstellen und stabil halten, ohne in die Knallcharge abzurutschen, und das gelingt beängstigend gut. Wenn er dann wutentbrannt die Bühne verlässt, folgt ihm die Jugend in Gestalt des kleinen Jungen – welch einfaches und doch treffendes Bild.
Peter Schanz hat mit diesem sorgfältig recherchierten Stück ein eindrucksvolles Tableau der deustchen Führungsschicht frühen 20. Jahrhunderts erstellt. Dabei stützt er sich ausschließlich auf Fakten und verzichtet auf jegliche moralische Betonung. Fiktion kann sich ihre Figuren und die Ereignisse so gestalten, wie es die intendierte Aussage verlangt, einschließlich Anklage und Pathos. Dokumentation muss die Fakten auflisten, darf sie nicht verzerren und muss dem Betrachter die Wertung aufgrund der Tatsachen überlassen. Selbst die grausamsten Assoziationen walzt Schanz daher nicht aus, sondern weckt sie nur und lässt sie stehen – so die Entwiclung des Insektizids „Zyklon B“ durch Fritz Haber. Die ganze Ambivalenz naturwissenschaftlich-technischer Forschung – speziell im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts – kommt in diesem dokumentarischen Stück über Fritz Haber zum Ausdruck. Dabei beeindruckt die Vielschichtigkeit der behandelten und ineinander verwobenen Ebenen. Die Juden und die Deutschen, die Deutschen und die Welt, Männer und Frauen, Emanzipation und Unterwerfung, Großbürgertum und Nazionalsozialismus, Visionäre und Reaktionäre: alle diese Gegensätze kommen in diesem Stück zur Sprache, jedoch nicht in Form von Phrasen und Ideologien, sondern als Ursachen und Resultate von Fakten und Ereignissen.
Regisseur Hofmann hat den auf Fakten fokussierten Ansatz des Autors aufgenommen und das Stück in Form einer ernsthaften Revue inszeniert. Wie in den berühmten Revuen der zwanziger Jahre spielen auch hier chorische Auftritte und Lieder eine große Rolle, nur mit wesentlich ernsterem Hintergrund und ohne die Absicht zu unterhalten. Auch Hofmann verzichtet in seiner Inszenierung auf jegliche plakative Anklage sondern spitzt die Tatsachen und ihre Auswirkungen in den Auftritten der Darsteller lediglich zu.
In den Hauptrollen agieren Matthias Kleinert als Fritz Haber und Gabriele Drechsel in der Doppelrolle der Clara und der Charlotte. Kleinert gelingt es hervorragend, das Naiv-Skrupellose dieser Figur herauszuarbeiten. Sein Fritz Haber wirkt nie abstoßend sondern fast verantwortungsbewusst, aber nicht im bürgerlichen sondern im nationalen Sinne. Bis zum Schluss vertritt er sein nationales Credo, frei nach dem Motto „Right or wrong – my country“. Mal ist Kleinert der zerstreute Professor, mal der treusorgende Ehemann, der jedoch in seiner Familie nur einen Teil seiner Pflichterfüllung sieht. Bei aller Selbstgerechtigkeit dieser zwiespältigen Figur bleibt sogar ein Rest jovialen Humors in Kleinerts Darstellung.
Gabriele Drechsel charakterisiert überzeugend zwei völlig unterschiedliche Frauenfiguren, ohne das Kostüm zu wechseln. Im engen schwarzen Kleid ist sie zuerst die hochintelligente, verantwortungsbewusste Clara, die alle Demütigungen klaglos hinnimmt, bis sie den Irrsinn des Gaskrieges nicht mehr ertragen kann, dann die lebenslustige Charlotte, die in aller weiblichen Naivität mit ihrem Temperament den alternden Haber während einer Weltreise in den physischen Ruin treibt. Diese Reise stellen die beiden sehr unterhaltsam dar, indem sie mit Koffern in der Hand im Laufschritt zur passenden Musik von Michael Erhardt am Klavier die Bühne abmessen und sich von Zeit zu Zeit auf den Koffern ausruhen. Anschließend sitzt Haber alias Kleinert erschöpft an der Rampe, während Gabriele Drechsel als Charlotte seinen Trennungsbrief vorliest.
In weiteren Rollen treten Hubert Schlemmer – unter anderem mit einer anrührenden Gesangsvortrag von „Ich bete an die Macht der Liebe“ – Tom Wild, Andreas Baab, Simon Köslich, István Vincze und Tobias Gondolf als Kollegen und Mitarbeiter von Fritz Haber auf. Das Kind spielt mit sicherem Auftreten Konstantin Lohnes.
Für Bühne und Kostüme ist Schauspieldirektor Martin Apelt selbst verantwortlich. Er nutzt die Möglichkeiten der modernden Bühne voll aus und lässt alles, was beweglich ist, sich drehen, heben und senken. Das Labor ist mal von vorn als Alchemisten-Höhle, dann von hinten als abweisende Gasometerkonstruktion zu sehen und rückt für die große Präsentation der Ammoniaksynthese buchstäblich nach vorne ins rote Rampenlicht. Der erblindete böhmische Gefreite wird auf der hochgefahrenen Rampe wie ein Menetekel präsentiert.
Das Publikum zeigte sich von dieser Inszenierung beeindruckt und spendete lang anhaltenden Beifall. Der Diskussionsbedarf wurde dann bei der anschließenden Premierenfeier in der Bar der Kammerspiele gedeckt.
Weitere Aufführungen am 30. Mai sowie am 7. und 14. Juni
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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