Bodo Kirchhoff: „Ohne Eifer und Zorn“

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Eine Novelle, wie aus der Zeit gefallen

Wer dieses erst frisch erschienene Buch – wie üblich – am Anfang zu lesen beginnt, fühlt sich nach einiger Zeit leicht verstört. Einerseits wegen bestimmter Anachronismen – so ist stets quasi naiv von der D-Mark die Rede, und der Protagonist muss bei einer Reise nach Österreich und Italien zwei Grenzkontrollen über sich ergehen lassen -, andererseits wegen des hoffnungslosen Grundtenors dieses Buches, der im Wesentlichen aus psychischer und intellektueller Verwahrlosung bis an den Rand des Nihilismus besteht. Erst das Nachwort des Autors erklärt Entstehungsgeschichte und Hintergrund dieser Novelle sowie den Grund der Veröffentlichung.

Fangen wir also hinten an. In den siebziger Jahren befand sich der Autor in einer frühen, das heißt höchst unsicheren Phase seines Schriftstellerdaseins. Er befasste sich zu diesem Zeitpunkt mit einem umfassenden Roman, der jedoch nie das Licht der Öffentlilchkeit erblickte, ob zu Recht, wird uns wohl immer verborgen bleiben. Bodo Kirchhoff hat aus diesem „Romantorso“ (Originalton) eine Episode herausgeschnitten, die ihm für die Zeit und für seine Befindlichkeit bedeutsam erschien, und ihn unter dem besagten Titel veröffentlicht. Dieser soll ausdrücken, dass er seinem früheren Ich und seiner damaligen Arbeit ohne emotionale Vorbehalte – sprich: sine ira et studio – gegenübertreten kann. Mit diesem „a posteriori“-Wissen versteht man dann das Buch auch wesentlich besser.

Im Mittelpunkt der Novelle steht der freie Journalist und dilettierender Schriftsteller Branzger, der laut Nachwort stark autobiographische Züge des Autors trägt. Branzger hat sich in eine mittelmäßig verwahrloste, kleine Mietwohnung zurückgezogen und verfasst dort seine Artikel und poetischen Versuche in totaler Abkapselung. Sein einziger menschlicher Kontakt zur Außenwelt besteht in sporadischen Telefonaten mit einer Person, in der man nur vage eine Frau vermuten kann. Die Telefonate sind beidseitig distanziert bis chaotisch; man kann sie sich als kleinflammige Aufwärmung einer ehemaligen Beziehung vorstellen. Die beiden reden meist über momentane Befindlichkeiten und landen stets bei Missverständnissen.

Branzgers Nachbar, ein älterer Mann, hat tagelang kein Lebenszeichen von sich gegeben. Doch statt nachzusehen, spekuliert Branzger nur über dessen möglichen Tod. Als er schließlich durch die Balkontür in das Zimmer späht, sieht er tatsächlich die nackte Leiche des Nachbarn. Anstatt jedoch die Polizei zu rufen, verfolgt er mit einer fast nekrophilen Lust den Verwesungsprozess. Daneben bewegen sich seine Gedanken in etwas ausgefallenen sexuellen Vorstellungen, denen er auch mal praktische Übungen im entsprechenden Milieu folgen lässt. Außerdem leidet er unter einem Hang zu fäkalen Phantasien, die er ebenfalls auszuleben versucht.

Wenn Branzger sich nicht seinen diversen körperlichen Phantasien hingibt, erfindet er außergewöhnliche Geschichten, die einer gewissen Oririginalität nicht entbehren, die er aber nie zur Veröffentlichungsreife entwickelt. Stattdessen streiten sie sich in seinem Kopf mit den diversen Phobien und Philien sowieso seiner Spielsucht, die sein schmales Vermögen stetig vermindert.

Ein solches Dasein schreit förmlich nach dem Ausbruch, und so verlässt Branzger eines Tages fluchtartig die Stadt – Frankfurt – und reist nach Italien. Der Name des Ortes Saló am Gardasee hat bei ihm eine eigene Phantasie freigesetzt, der er folgen muss. Dort erlebt er, nicht zuletzt wegen seiner Unschlüssigkeit und Ziellosigkeit, eine existenzielle Krise bis an den Rand des Todes. Das Stück endet mit einerm fast kafkaesken Gespräch mit seiner Telefonbekanntschaft – es ist eine Frau -, die ihn dort besucht.

Bodo Kirchhoff zeigt einen gewissen Mut zur Ehrlichkeit, dieses Buch bis hin zu unappetitlichen Details als hochgradig autobiograpgisch zu kennzeichnen, ja, er fügt sogar entsprechende eigene Erlebnisse aus dieser Zeit hinzu. Er zeigt damit, wie gefährdet vor allem kreative und sensible Geister in jungen Jahren sein können, wenn sie mit sich, ihren Visionen und der Wirklichkeit nicht zurechtkommen. Kirchhoff, dessen letztes Buch „Die Liebe in groben Zügen“ wir hier vor kurzem besprochen haben, hat diese Phase überwunden und ist heute ein anerkannten Schriftsteller. So mancher seiner Kollegen jedoch ist an Depressionen oder Süchten zugrundegegangen.

Bodo Kirchhoff bezeichnet diese Erzählung als Novelle, und sie erfüllt tatsächlich fast vollständig die Kriterien der entsprechenden Gattungsbeschreibung in Wikipedia. Fast könnte man annehmen, Kirchhoff habe vor der Festlegung der Gattung noch einmal im Online-Lexikon nachgeschaut.

Das Buch „Ohne Eifer und Zorn“ ist in der  Frankfurter Verlagsanstalt unter der ISBN 978-3-627-00193-3  erschienen, umfasst 120 Seiten und kostet 12,90 €.

Frank Raudszus

 

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