Die kanadische Truppe „Cirque Éloize“ tritt bei den Wiesbadener Maifestspielen mit dem neuen Programm „Cirkopolis“ auf

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Tanztheater oder Varieté – oder beides?  

Die kanadische Truppe „Cirque Éloize“ tritt bei den Wiesbadener Maifestspielen mit dem neuen Programm „Cirkopolis“ auf
Der Name ist Programm: „Cirkopolis“ haben Dave St. Pierre und Jeannot Painchaud ihre neue Choreographie übertitelt, die am 14. Mai ihre Deutschlandpremiere im großen Haus des Staatstheaters Wiesbaden feierte. Dass Tänzer halbe Akrobaten sind, daran hat man sich in Zeiten des modernen Tanztheaters mittlerweile gewöhnt. Dennoch grenzte sich das Tanztheater bisher deutlich vom Varieté ab, das den Schwerpunkt auf die Akrobatik als etwas zu Bestaunendes legte. Obwohl der Wettbewerb in den letzten Jahren auch von den Varieté-Akrobaten gewisse tänzerische und schauspielerische Fähigkeiten verlangte, dienten diese lediglich der Auflockerung eines akrobatischen  Programms, das höchste Konzentration erfordert. Das Tanzen überlassen die klassischen Varietés meist leicht und farbenprächtig bekleideten Damengruppen, wobei der optische Eindruck wichtiger ist als der tänzerische Ausdruck. 

Der „Traumtänzer“ mit Kolleginnen

Ob diese Separation ähnliche Ursachen hat wie die zwischen „E-Musik“ und „U-Musik“, sei dahingestellt, auf jeden Fall wirkt eine konsequente Aufhebung dieser Grenze für manche wie ein Sakrileg, für andere wie ein frischer Wind. Die beiden Choreographen der Gruppe „Cirque Éloize“ haben in einem „gewagten und gewonnenen“ Versuch diese beiden Bühnengattungen miteinander verbunden und ineinander integriert. Dabei ist die Verzahnung der jeweilig konstituierenden Elemente so eng, dass man weder von akrobatischem Tanztheater noch von tänzerischem Varieté reden kann. Es ist etwas völlig Neues, für das es noch keine treffende Bezeichnung gibt.

Wie beim (Tanz)Theater steht bei dieser Produktion eine Geschichte im Mittelpunkt. Ein kleiner Angestellter sitzt an einem Tisch und stempelt unentwegt in geistestötender Manier Papierstapel ab, die sich trotz seiner Fließbandarbeit laufend erhöhen. Grau gekleidet wie seine hin und her laufenden Kollegen, ist er das traurige Abbild des Lebens in den Fabriken und Büros des frühen 20. Jahrhunderts. Diese zeitliche Assoziation wird noch verstärkt durch das Bühnenbild, das in dieser Choreographie weitgehend aus einer überdimensionierten Videowand auf der Bühnenrückwand besteht. Auf dieser Wand erscheinen die Bauwerke dieser Zeit – Fabrikhallen oder Bahnhöfe mit vernieteten Stahlträgern und verrußten Glaskuppeln. Hinter und in der Konstruktion sieht man große Zahnräder in unentwegten Drehbewegungen ineinandergreifen und damit den Arbeitsrhythmus für die Arbeiter und Angestellten vorgeben. Farben sind selten, meist überwiegt das metallisch glänzende Grau der Maschinen.

Akrobaten am Rhönrad
Der geplagte und überforderte Büroangestellte rettet sich schließlich in einen Tagtraum, in dem er Tänzer und Turner um sich herum versammelt und selbst immer wieder im Mittelpunkt steht. Dieser Traum nimmt die nächsten siebzig Minuten ein und beherrscht mit seiner Dynamik die Bühne. Die Truppe zelebriert in schnellem Wechsel die klassischen Kunststücke des Zirkus-Varietés, als da sind: der Cyr-Reifen, das Rhön-Rad, die Strapaten, die Jonglierkeulen, das Schleuderbrett und – nicht zu vergessen – die reine Bodenakrobatik ohne Gerät.

Auf jedem Gebiet zeigen die Akrobaten auf der Bühne Spitzenleistungen. Wenn sich die Frau im roten Kleid geradezu wild im Cyr-Reifen über die Bühne dreht, kann man dies physikalisch noch nachvollziehen, solange sie sich mit Armen und Beinen in das Rad stemmt. Wenn sie sich dann allerdings nur noch mit den Händen festhält und die Beine frei schweben lässt, versagt das physikalische Verständnis. Dann hält nur noch die Dynamik der Rotation das ganze Gebilde stabil. Und wenn sie scheinbar endlos und immer schneller kreiselt, fragt man sich, wie ihr Gleichgewichtssystem damit noch fertig wird. Und wenn dann noch ein zweiter Akrobatik mit in das rotierende Rad einsteigt, befürchtet man den Zusammenbruch des Systems, der natürlich nicht eintritt. Erstaunlich auch, wie lange sich so ein Reifen völlig autonom dreht, wenn die Akrobaten ihn sich selbst überlassen. Und wenn man glaubt, jetzt würde er sich in zwei letzten schwachen Drehungen zur Ruhe legen, genügt ein kleiner Anstoß, um die Drehung wieder voll aufzunehmen. Es ist faszinierend zu sehen, welche akrobatischen Kunststücke man mit diesem scheinbar so schlichten Gerät vollbringen kann.

Die fliegende DameÄhnliches gilt für das Rhönrad, das aus zwei fest miteinander verbundenen Reifen besteht. Da hier die Akrobatik einfacher ist, weil die Hände – stets am inneren Reifen – nicht der Quetschungsgefahr ausgesetzt sind, muss gleich eine ganze Gruppe von Tänzern durch das drehende Rad springen oder hechten. Und der einzelne Akrobat kann, auf dem Umfang des Rades sitzend oder stehend, dies nicht nur in beliebige Drehungen versetzen sondern dabei auch noch akrobatische Sprünge auf dem und um das Rad herum absolvieren. Im nächsten Moment lässt ein anderer Akrobat das Rad wie einen Cyr-Reifen in gefährlich anmutender Schräglage über die Bühne rotieren.

Unterbrochen wird diese Abfolge von Beispielen höchster Körperbeherrschung durch Jonglage-Übungen, wobei in diesem speziellen Fall nicht ein einzelner Jongleur seine Künste vorführt sondern die gesamte Truppe. In scheinbar zufälligen und ungeordneten Bahnen laufen die Tänzer und Tänzerinnen durcheinander und werfen sich in rasendem Rhythmus die Keulen zu, so dass es für den Betrachter nahezu unmöglich ist festzustellen, wer wem die Keulen zuwirft. Und mit schlafwandlerischer Sicherheit erkennt jeder Einzelne die ihm zugedachte Keule, fängt sie fast spielerisch und wirft sie dem nächsten zu. Das Ganze geschieht für jeden Teilnehmer dieser Prozession mit mehreren Keulen und mehreren Partnern gleichzeitig.

Eine andere Episode bringt Humor ins Spiel und ruft gleichzeitig die ursprüngliche Geschichte wieder in Erinnerung. Ein ausgesprochen muskulöser Bodenturner zeigt wahre Kraft- und Gleichgewichtswunder, wofür ihn zwei junge Damen anhimmeln. Als unser tagträumerischer Held sich in diesen Kraftmenschen hineinversetzt und es ihm gleichtun will, verletzt er sich, so dass ihn der Kraftprotz wie ein kleines Kind aufhebt und auf den Tisch legt. Sofort jammern die beiden Frauen um die Wette um einen angeblich verstauchten Fuß. Das ist witzig, akrobatisch und tänzerisch zugleich inzeniert, so dass am Ende nicht die Lacher über eine triviale Szene sondern das Bestaunen einer kleinen Geschichte steht.

Überhaupt zieht sich der Tagträumer als „running gag“ durch fast alle Vorführungen. Immer wieder wird die Kläglichkeit seiner täglichen Existenz persifliert, jedoch nie schadenfroh sondern mit einer gewissen melancholischen Empathie. Und die jedesmal folgenden rasanten Akrobatikvorführungen zeigen, wie die Welt auch sein könnte: voller Spannung, Abenteuer und Vielfalt.

Am Ende kommt wieder die Büroausstattung des Anfangs auf die Bühne – Tisch, Drehstuhl, Regale – mitsamt dem traurigen Angestellten, der langsam aus seinem Tagtraum erwacht. Doch anstatt ihn in seiner tristen Realität wieder aufwachen zu lassen, nehmen die Traumgestalten all seine Akten und lassen sie in der belebenden und beseelenden Bühnenluft davonflattern. 

Es würde den Rahmen dieser Rezension sprengen, sämtliche Akrobatikvorführungen aufzuzählen, so etwa die Übungen mit dem Sprungbrett, das ausgeählte Tänzer zum Salto, zur Schraube oder anderen Bewegungskunststücken in die Luft schleudert. Jede dieser Akrobatikübungen ist eng mit der Geschichte um den tagträumenden Angestellten verwoben und stellt ihn immer wieder in den Mittelpunkt, wenn auch oft als unglücklichen Träumer.

In einer ganz großen Szene erweckt dieser ein einfaches, an einem Kleiderständer hängendes Frauenkleid zum Leben, nähert sich ihm, umkreist es, streichelt es, legt sich die Ärmel wie Arme um die Schultern oder wagt eine zarte Umarmung, so dass man bisweilen glaubt, in diesem Kleid stecke eine junge Frau. Das ist die reine Melancholie des genialen Clowns, der das Publikum mit den einfachsten Mitteln zum Lachen und Weinen gleichzeitig bringen kann.

Mit dieser Choreographie hat die Gruppe „Cirque Éloize“ tatsächlich ein neues Kapitel im Bühnentanz aufgeschlagen. Akrobatik, Tanz und Schauspielerei finden hier in kongenialer Weise zusammen, und die Musik von Stéfan Boucher untermalt das Ganze auf eine unaufdringliche, aber stets ausgesprochen präsente Weise.

Frank Raudszus

 

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