Temperamentvolle Assoziationen an das Phänomen Zeit
Der Jugendclub des Staatstheaters Darmstadt stellt seine neue Produktion „Zeitlos“ vor
Vor allem ältere Erwachsene kennen das Phänomen, dass die Zeit mit fortschreitendem Alter immer schneller zu verrinnen scheint. Jahre kommen einem wie Monate und Tage wie Stunden vor. Jugendliche haben zur Zeit jedoch ein völlig anderes Verhältnis. Alles liegt noch in weiter Ferne, und die Zeit bis zum Erwachsenwerden scheint in unerträglich zähem Tempo zu verfließen. Deshalb können Jugendliche auch ganze Tage verträumen und hassen die Ermahnungen der Erwachsenen, ihre Zeit sinnvoll zu nutzen.
Die Theaterpädogogin Monika Reichle und Kai Schuber haben jetzt mit den Mitgliedern des Jugendclubs in den Kammerspielen ein Stück inszeniert, das um dieses Thema kreist. Der Titel „Zeitlos“ ist dabei Programm und will sagen, dass sich Jugendliche ein Leben ohne den allgegenwärtigen Druck der Zeit wünschen.
Die Bühne ist wie ein übergroßer Spielplatz gestaltet, in dem Duplo-Steine der Größe XXL in allen Farben und Formen wild durcheinanderliegen. Zur jazz-poppigen Musik von Jakob Möller (Klavier) und Grégoire Pignède (Schlagzeug) strömen die Darsteller auf die Bühne und beginnen, die Duplo-Steinen zu einem Gebilde zusammenzusetzen, das keinem bestimmten Zweck dient. Es symbolisiert lediglich die tägliche Mühe aller Schüler, Studenten und Berufstätiger, aufzustehen und einen hektischen Arbeitstag durchzustehen. Ein Teil der Darsteller spielt apathische Schausfensterpuppen, die mit hängenden Gliedern und Köpfen auf der Bühne herumstehen und die von den anderen, eifrig umherwuselnden Darstellern ständig wieder auf- und ausgerichtet werden, bis sie schließlich aus Übermüdung doch zusammenbrechen und einfach einschlafen.
Der Schlaf ist ein wesentliches Thema dieser Inszenierung, sozusagen der Gegenpol zur hektisch ausgefüllten Zeit, und tritt immer wieder in Gestalt einzeln oder gruppenweise schlafender Darsteller in Erscheinung. Im Schlaf entziehen sich die Jugendlichen dem Druck der Erwachsenenwelt und können sich ganz ihren Träumen und Sehnsüchten hingeben.
Monika Reichle und Kai Schuber haben auf eine konkrete Handlung verzichtet und lassen die jungen Darsteller ihre Assoziationen, Träume und Ängste auf der Bühne ausleben. So ergibt sich eine Revue kurzer Szenen zu verschiedenen Aspekten des jugendlichen Umgangs mit der Zeit. Musik und Tanz spielen dabei natürlich eine wesentliche Rolle, und in bestimmten Abständen lädt dann die Zweimann-Band auch zu temperamentvollen Tanzeinlagen ein, bei denen sich die Darsteller in den typischen Tanzfiguren bewegen, aber durchaus auch einmal Ansätze von klassischem oder künstlerischem Tanz zeigen. Gerne erstarren sie dann auch mitten im Tanz und lassen die Zeit als „lebende Bilder“ stillstehen.
In einer längeren Szene äußert jedes Mitglied der Truppe einen persönlichen WUnsch, ohne dass dieser vorher festgelegt und „choreografiert“ worden ist. Die jungen Leute haben hier durchaus improvisatorische Freiheiten. In einer anderen Szene wird die (Erwachsenen-)Welt aufgefordert, Fragen an Betroffene zu stellen, die bestimmte und nicht immer angenehme Erfahrungen mit der Welt und speziell der Zeit gemacht haben. Dabei schält sich heraus, worunter Jugendliche besonders leiden und was sie gerne ändern möchten. Ein junges Mädchen formuliert in einer kleinen Ansprache ihre persönlichen Wünsche für ihr Leben – reisen mit einem oder einer Vertrauten, ihrem inneren Wesen folgen zu können – und weckt damit eine gewisse Betroffenheit.
Doch auch selbstkritische Szenen kommen auf die Bühne: ein Junge baut gerne aus den Duplo-Steinen eigene kleine Welten zusammen, doch die anderen machen sich über ihn lustug und zerstören seine Bauten. Einem andsren, der als einziger dem so Gemobbten zur Seite steht, sprechen anschließend vor allem die Mädchen ihre Anerkennung aus.
Auch sängerische EInzelleistungen sind zu vermelden: ein Mädchen singt zur Begleitung der Band gekonnt einen emotional aufgeladenen Song zwischen Soul und Blues, andere Mädchen singen kleine Lieder sicher ganz ohne Begleitung. Man muss sich dabei immer klarmachen, dass hier keine ausgebildeten Schauspieler(innen) agieren sondern junge Menschen zwischen vierzehn und achtzehn, die sich erst langsam an die Bühne und den Auftritt vor einem größeren Publikum gewöhnen müssen.
Sowohl bewegungstechnisch als auch sprachlich – und zum Teil gesanglich – meistern die jungen Leute diese Anforderungen mit viel Herz und Hirn. Sie sind mit vollem Einsatz dabei und zeigen keine Scheu, emotional und körperlich aus sich herauszugehen. Dabei schälen sich im Laufe der Aufführung einige schauspielerische Talente heraus. Bei dem einen oder der anderen spürt man, dass die Schauspielerei für sie mehr als ein Hobby während der Schulzeit ist und dass daraus durchaus ein Beruf werden könnte. Das soll aber die anderen nicht abwerten, denn alle sind mit vollem Engagement dabei und tragen ihren Teil dazu bei, dass diese Aufführung zu einem Erfolg wird.
Anzumerken ist, dass dabei – vielleicht unabsichtlich – ein Stück hohen Anspruchs für die Zuschauer entstanden ist, denn diese können sich an keinem Handlungsfaden festhalten, sondern müssen sich jeder Szene und Assoziationskette neu stellen. Auch für die Darsteller ist es nicht einfach, diese lose Folge von Einfällen und Befindlichkeiten kompakt und ohne Längen oder gar Hänger über die Bühne zu bringen. Doch sie schaffen es mit beachtlichem Tempo und viel Witz, und jede Szene hinterlässt eine Aussage, die zum Nachdenken anregt.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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