Man kann bestimmte Stücke wegen ihrer Affinität zu einer gegebenen politischen Lage auswählen und entsprechend inszenieren. Das birgt jedoch die Gefahr, dass aufgrund der langen Vorbereitungszeit die Verhältnisse zur Premiere nicht mehr „so sind“. Also gilt auch für das Theater der alte Satz, dass das Leben die besten Pointen setzt, will sagen, dass so manche Theaterinszenierung durch den unerwarteten Verlauf der Geschichte eine höchst aktuelle Bedeutung erlangt. So auch Peter Hailers Darmstädter Inszenierung von Molières Satire „Der Tartuffe“, in dem ein abgefeimter Betrüger und Heuchler einen einfältig-gutmenschelnden Bürger und dessen verzweifelte Familie fast um die bürgerliche Existenz bringt. Als schon alles verloren scheint, der Gerichtsvollzieher den Räumungsbescheid gebracht hat und ein hochgestellter Polizist mit dem triumphierenden Betrüger zur Verhaftung antritt, verhaftet eben dieser Polizist – den Betrüger Tartuffe.
In einer längeren Lobrede lässt sich der Polizeichef über das perfekte Wissen und die Redlichkeit des Staates aus, der den Betrüger schon lange im Visier gehabt und jetzt nur den letzten Beweis als Sargnagel für dessen kriminelle Laufbahn benötigt habe. Die betrogene Familie wird natürlich wieder in alle Besitzrechte eingesetzt – kurzum: der Staat bestraft die Bösen und rettet die Guten vor Schande und Elend.
Diese Botschaft kam natürlich am Vorabend der Münchner NSU-Prozesse gerade recht. Die Farce um die Presseplätze im Prozess hätte sich auch Molière nicht besser ausdenken können, und so zelebrierte Andreas Manz-Kozár mit sicht- und hörbarer Lust an der schneidenden Ironie die salbungsvolle Rede auf die Unfehlbarkeit, Gerechtigkeit und Güte des Staates. Aus der Rückschau auf die Entstehungszeit dieser Komödie lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, ob schon Molière diese Rede als Satire gemeint hat, da die Zustände in den französischen (Polizei-)Behörden im 17. Jahrhunderten nicht gerade von lupenreiner Demokratie geprägt gewesen sein dürften. Allerdings liegt die Annahme nahe, dass er diesen Schluss gewählt hat, um die Zensoren gnädig zu stimmen, denn damals musste man bei satirischen Komödien stets darauf achten, keine hochgestellten Persönlichkeiten zu verärgern. Die satirische Bloßstellung eines angesehenen Bürgers, der sich durch einen plumpen Heuchler über den Tisch ziehen lässt, könnte auch ein konkretes Vorbild gehabt haben.
Zwar sind Heuchelei, Betrug und Gutgläubigkeit kein Privileg des 17. Jahrhunderts und lassen sich als überzeitliche Erscheinung der menschlichen Gesellschaft zu jeder Zeit in den Mittelpunkt einer Komödie stellen, aber dazu müsste man nicht eine dreieinhalb Jahrhunderte alte Komödie bemühen. Bleibt also das Argument des Bildungskanons, das ein Theater mit Recht ebenfalls zu beachten hat. Wenn man dann die Handlung in angemessener Weise aktualisiert, kann sich daraus durchaus eine treffende Wirkung erzielen.
Zu einer solchen Aktualisierung gehört zuerst einmal die Sprache. Wer sich die alten Übersetzungen von Molières Stücken anschaut, wird sich an den gestelzten Reimen der klassischen Übersetzungen stören. Lange Zeit versuchten Übersetzer, die Atmosphäre der gereimten Sprache Molières zu erhalten, womit sie jedoch nur den Staub alter Jahrhunderte mitschleppten und dem Stück eine ungewollte weil lächerliche Komik verliehen. Moderne Übersetzungen schaffen es, die grundlegende Reimstruktur zu erhalten, sie aber einerseits nach Bedarf und Situation aufzulockern und andererseits zeitgenössische Idiome zu verwenden. Rainer Kohlmayer ist die Aktualisierung von Stoff und Sprache bei seiner Übersetzung von Molières „Der Tartuffe“ auf bemerkenswerte Weise gelungen. Er lässt über lange Strecken Vers und Reim stehen, dehnt oder staucht das Versmaß jedoch im Einklang mit der jeweiligen dramatischen Situation. Das Wichtigste dabei ist, dem Zuschauer den Eindruck zu vermitteln, dass man in einer gegebenen Situation eben diese Worte und Sätze anwendet. Dazu verwendet er innerhalb der Versstruktur die heutige deutsche Umgangssprache mit all ihren bekannten Redewendungen und Kürzeln. Das lässt die Handlung plötzlich ganz frisch und aktuell erscheinen, und die Kostüme von Dirk Becker aus dem Fundus des frühen 21. Jahrhunderts runden diese Aktualisierung der Sprache optisch ab. Man kann sich die Geschichte eines bigotten Heuchlers, der sich einer gutgläubigen Seele bemächtigt, in dieser Form durchaus auch heute vorstellen. Wenn die Regie nicht an den Text gebunden wäre, könnte man die Frömmelei durch eine der heutigen Pseudoreligionen – Ökologie, Esoterik – ersetzen und – voilá.
So lässt Peter Hailer also seine Personen in einem heutigen Pariser Großbürgerhaushalt agieren: der Hausherr Orgon (Heinz Kloss) im dunkelgrauen Dreiteiler und mit einer jovialen Selbstgewissheit und -gefälligkeit versehen, die autokratisch über Glück und Zukunft der Familie verfügt. Wer es zu etwas gebracht hat, weiß, wie es im Leben läuft, und lässt diese Erkenntnis mit mehr oder minder sanftem Druck auch den anderen zugute kommen. Seine Ehefrau Elmire (Christina Kühnreich) in enggeschnittenem Rock, die sich eigentlich aus den Aktivitäten ihres Ehemanns heraushalten will, sich aber plötzlich unfreiwillig in den Mittelpunkt gerückt sieht und handeln muss. Die naive Tochter Mariane (Katharina Hintzen), die ihren Valère (Antonio Lollo) liebt, aber plötzlich den verhassten Heuchler Tartuffe heiraten soll, der sich bereits tief in Orgons Herz und Hirn eingenistet hat. Und das Personal darf natürlich nicht fehlen, das bei Molière stets für den gesunden Menschenverstand und den mehr oder minder offenen Widerstand gegen das Großbürgertum steht: Dorine (Maika Troscheit) steht der unglücklichen Mariane bei, widerspricht mit allen Mitteln ihrem Arbeitgeber Orgon und entwirft Strategien, um die aufgezwungene Heirat zu hintertreiben.
Im Mittelpunkt steht neben Orgon, der gleich an mehreren Fronten kämpft und hohe Beratungsresistenz zeigt, natürlich Tartuffe, den Andreas Vögler mit einer Mischung aus zur Schau getragener Religiosität und versteckter Berechnung spielt. In dieser Inszenierung fällt auf, dass weder Orgon das Klischeebild eines dummen und starrsinnigen Trabanten noch Tartuffe jenes des verschlagenen, intrigierenden und feigen Betrügers ist. Beide sind als Menschen mit Stärken und Schwächen angelegt und verfolgen nur ihre Interessen. Orgon hofft tatsächlich auf Läuterung und wünscht sich ein besseres, gottgefälligeres Leben. Diese durchaus positiven Ideen einer guten Lebensführung bieten halt Betrügern jedweder Couleur einen hervorragenden Ansatzpunkt. Man kennt dies heute von Opfern verschiedener Sekten wie Scientology. Auf der anderen Seite ist Tartuffe ein Mann aus der Gosse, für den Brechts Parole „Erst kommt das Fressen, dann die Moral“ gilt. Er sieht sich in erster Linie als unterprivilgierten Menschen, der das Recht hat, sich mit allen Mitteln nach oben zu kämpfen. Recht und Moral sind dabei recht überflüssige Aspekte. Verschiebt man die Perspektive nur ein wenig, könnte man aus ihm leicht einen Revolutionär machen, der die Herrschenden an ihren schwächsten Stellen packt und sie nach allen Regeln der Kunst vorführt. Peter Hailer hat jedoch einer solchen Interpretation eine deutliche Absage erteilt, wohl auch, weil die Zeit der ideologischen Schwarzweiß-Malerei vorerst der Vergangenheit angehört. Er lässt einfach diese beiden Personen mit ihren ganz unterschiedlichen Zielsetzungen bei gleichzeitiger gegenseitiger Abhängigkeit aufeinanderstoßen und – stets Molières Text treu bleibend – ihren psychologischen Zweikampf austragen. Dass der Gutmensch dabei verlieren muss, liegt auf der Hand und zeigt sich am Beispiel Orgons mehr als deutlich. Nur eine höhere Macht kann ihn zum Schluss aus seiner selbstverschuldeten Notlage retten. Bei psychologisch derart verfestigten Strukturen kann auch eine vernünftig denkende und handelnde Umgebung nicht mehr viel ausrichten, obwohl diese in Gestalt des Schwagers Cléante (Tom Wild) recht deutliche Worte zu Orgon spricht.
Eine wichtige Rolle spielt in dieser Inszenierung auch ein zweiter Vorhang, der die Bühne in einen Vorder- und Rückraum teilt. In bestimmten Szenen schließen die Schauspieler selbst den Vorhang. Praktisch steht dahinter die Absicht, den Rückraum für die nächste Szene umzugestalten, dramaturgisch leitet dieser Vorgang jedoch stets eine Steigerung der Spannung ein, so, wenn Ermine ihrem Ehemann den wahren Charakter des angeblich so sittsamen Tartuffe vor Augen führen will. Die Verkleinerung der Bühne auf ihren vorderen Teil hat stets eine größere Dichte und Intensität zur Folge, die der jeweiligen Szene zugute kommt.
Auch mit anderen Regieeinfällen sorgt Peter Hailer für hintergründige Auflockerung. So unterlegt er wichtige Momente der Handlung mit ausdrucksstarker Musik, die jeweils entweder die Dramatik der Situation überhöht oder durch ihre ursprüngliche Herkunft – Brecht-Weill – den gesellschaftskritischen Aspekt heraushebt. Die ironisch-satirische Klangfarbe dieser musikalischen Elemente ist kaum zu überhören. Auch die Souffleuse bezieht Peter Hailer mit in das Spiel ein, wenn Maika Troscheit eine zur Waffe erhobene Bratpfanne kurzfristig der stillen Helferin in ihrem Kasten zur Aufbewahrung übergibt. Der Klassiker ist natürlich der Mann in Frauenkleidern, hier Klaus Ziemann im geblümten Kleid als eigenwillige Madame Penelle, Mutter Orgons und ebenfalls Anhängerin des bigotten Tartuffe.
Am Ende, wenn alles gut ausgegangen ist, steht Orgon alleine am Bühnenrand und schaut sinnend in die Ränge. Da lässt Peter Haile völlig überraschend Tartuffe von hinten auf die Bühne treten und langsam auf Orgon zugehen. Schweigend schauen sich beide an – dann erlöschen die letzten Lampen. Mit dieser Schlusspointe verweist Haile darauf, dass die beiden Hauptpersonen im Grunde genommen zwei Seiten ein und derselben Person sind. Tartuffe ist das heuchlerische, verschlagene „alter ego“ des ehrwürdigen Orgon – aber, dieser ist auch die zweite Seite von Tartuffe, in dessen kompromisslosem Erfolgswillen auch ein Stück Sehnsucht nach einem geregelten, friedlichen Leben mitschwingt. Die Grenzen der Schwarzweiß-Malerei, von Molière noch satirisch klar gesetzt, verschwimmen und lassen am Ende ein ein Fragezeichen stehen.
Das Ensemble macht sich einen wahren Spaß aus dieser Inszenierung. Mit Konzentration und Schwung bringen sie diese Komödie auch ganz ohne Klischeetypen auf die Bühne. Heinz Kloss ist ein wunderbar bräsiger und doch gutartiger Orgon, der zum Schluss ratlos in die Gegend schaut, Andreas Vögler ein Mann auf dem – koste es, was es wolle – Weg nach oben, der im Gefängnis endet, Tom Wild ein Vernunftmensch, der an der Irrationalität seiner Mitmenschen verzweifelt, und Christina Kühnreich eine starke und entschlossene Ermine, die ihrem Mann die Augen öffnet. Maika Troscheit ist als Dorine vor allem in der ersten Hälfte Dreh- und Angelpunkt der Handlung, Stefan Schuster und Antonio Lollo fügen sich als Damis und Valère gut ein, und Harald Schneider setzt als aalglatter Gerichtsvollzieher Loyal – welch Name! – ein kleines Glanzlicht.
Weitere Aufführungen am 28. April sowie am 2., 8. und 31. Mai
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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