Aufstieg und Fall in „Mahagonny“
Premiere von David Lescots Stück „Das System Ponzi“ in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt
Das Schicksal erfolgreicher Individuen steht in dieser Saison im Staatstheater Darmstadt des Öfteren im Mittelpunkt des Geschehens, wobei das finale Scheitern – denn nur der Misserfolg interessiert den Theatermacher – mal auf Intrigen, mal auf eigene Dummheit oder Größenwahn zurückzuführen ist. Johanna von Orleans, Othello, Ibsens Bernick und sogar Professor Rath sind schlagende Beispiele für diese Kontinuität. Nun rückt jedoch eine Person in den Mittelpunkt, deren Leben weder durch einen tragischen Konflikt noch durch Bösartigkeit der Umwelt scheitert, das aber in geradezu grandioser Zeitlosigkeit Mechanismen offenlegt, die nicht nur eine Grundkomponente allen menschlichen Wirschaftens sondern gerade heute von bestürzender Aktualität sind.
Im Gegensatz zu den Autoren der oben genannten Stücke bringt David Lescot in seinem Stück eine historische Person auf die Bühne und zeichnet alle Lebenssituationen in penibler und korrekter Detailarbeit nach. Fiktive Elemente beschränken sich auf Dialoge, die natürlich nicht mehr im Wortlaut nachzuvollziehen sind. Ihm geht es nicht um eine Interpretation dieser Biographie oder gar um die Herausarbeitung existenzieller Konfliktsituationen sondern um eine fast fotographische Wiedergabe. Das wäre normalerweise für ein Theaterstück tödlich weil langweilig, hier jedoch erhält diese Vorgehensweise ihre Rechtfertigung durch die exemplarische Eindeutigkeit dieses Lebenslaufes. Fast könnte man sie mit der unentrinnbaren Macht des Schicksals in griechischen Tragödien vergleichen, wenn der Hintergrund nicht so banal wäre.
Der junge Italiener Carlo Ponzi floh im Jahr 1903 buchstäblich nach Amerika, nachdem er das für sein Studium in Rom vorgesehen väterliche Erbe durchgebracht hatte statt zu studieren. Das Startkapital für ein neues Leben in den USA verspielte er bereits auf dem Schiff. Anschließend schlug er sich in verschiedenen nierderen Tätigkeiten in den USA und Kanada durchs Leben, wobei er immer wieder Gefängnisstrafen wegen verschiedener Betrügereien absitzen musste. Bei einem wiederum gescheiterten Versuch einer Firmengründung stellte er fest, dass sich bei bestimmten postalischen Wertpapieren aufgrund der Inflation in Europa Geschäfte mit großen Gewinnspannen machen ließen. Die Umsetzung hätte im privaten Rahmen durchaus einigen Gewinn abwerfen können, doch der schon seit seiner Jugend von Millionengewinnen Träumende wollte das ganz große Rad drehen. Als die Suche nach wenigen Großinvestoren mangels Seriosität und Referenzen scheiterte, versuchte er es mit vielen Kleininvestoren. Das Geschäft lief wegen der Skepsis seiner Umgebung zäh an, doch als er seinen ersten Kunden nach wenigen Wochen bereits die versprochenen hohen Gewinne auszahlte – anfangs aus geborgtem Geld -, glaubte man ihm, und die allzu menschliche Gier der „kleinen Leute“ nach dem schnellen Gewinn führte ihm die Kunden von alleine zu. Nach dem Prinzip des Schneeballsystems zahlte er die Zinsen seiner Kunden aus der schnell steigenden Zahl der Neueinzahlungen aus und fachte das Geschäft dadurch noch mehr an. Als dieser Erfolg erst die Presse und dann die Behörden auf den Plan rief, ging es schnell bergab, und etwas über ein halbes Jahr nach dem Start platzte die Blase, die ihm Abermillionen in die Kasse gespült hatte. Der Rest seines Lebens bestand aus langwierigen Prozessen, die er letztlich alle verlor, und langjährigen Gefängnisauafenthalten, zwischen denen er stets neue bertrügerische Aktivitäten entfaltete. Ponzi starb im Jahr 1949 völlig verarmt und schwerkrank in Brasilien.
David Lescot konnte auf umfangreiche Unterlagen zugreifen, nicht zuletzt auf Ponzis Autobiographie aus dem Jahr 1936. Allerdings hätte Lescot sein Stück auch schon allein aus der englischen Wikipedia-Seite zusammenstellen können, denn diese erzählt die ganze Geschichte sehr detailliert mit den Namen aller Beteiligten, Zahlen und sachlichen Details zu den Betrügereien. Wie dem auch sei, Lescots kreative Leistung besteht darin, die Tatsachen für die Bühne aufbereitet zu haben, was ja – wie bei den Bühnenfassungen von Romanen – auch eine Leistung ist. Lescot verzichtet dabei jedoch auf eine Literarisierung des Stoffes und bringt Ponzis abenteuerliche Karriere im journalistischen Stil auf die Bühne. In kurzen Szenen mit markanten Sätzen, fast im Zeitraffer, eilt er durch Ponzis frühen Jahre bis zu der entscheidenden Geschäftsidee. Die anschließenden Ereignisse präsentiert er im Stakkato der Datumsangaben zwischen Januar und August 1920, wobei sich die letzten Wochen zu einem täglichem Rhythmus verdichten. Das Leben nach dem Zusammenbruch des großen Schneeballsystems bis zu Ponzis Tod wird nur noch in kurzen Szenen summarisch angerissen.
Regisseur Boris C. Motzki nimmt das Tempo der Vorlage auf und lässt das Stück fast im kabarettistischen Stil spielen. Neben István Vincze (Ponzi) treten noch Ronja Losert – u. a. als Ponzis Frau Rose – sowie Margit Schulte Tigges, Tobias Gondolf, Simon Köslich und Hubert Schlemmer in verschiedenen Rollen auf. Angesichts der Vielzahl von handelnen Personen verwandeln sich die anderen Darsteller permanent, spielen steife Richter und Staatsanwälte, schleimige Vermieter oder Verkäufer, ängstliche oder euphorische Kunden, gerissene Gauner oder opportunistische Trittbrettfahrer. Einzelne Charaktere spielen dabei keine Rolle, sondern es geht um ein Abbild der Gesellschaft, die damals auf Ponzis Ideen hereinfiel, an ihnen partizipieren wollte oder sie bekämpfte. Das geht natürlich mit einer Typisierung einher, die streckenweise satirische Züge annimmt oder gerne auch mal in die dankbare Rolle einer Knallcharge verfällt. Doch halten sich diese Klischees in Grenzen und würzen die Geschichte eher als dass sie bestimmte Gruppen diskriminieren würden. Da sich der Autor eng an die Fakten hält und sich im Text keine eigenen Interpretationen oder gar Spekulationen erlaubt, konzentriert sich auch die Inszenierung ganz auf die Wiedergabe dieser Fakten und der wesentlichen Motive der Protagonisten.
Mit einigen gelungenen Regieeinfällen lockert Motzki die Inszenierung zusätzlich auf. So lässt er die Gefängnisszenen als „Schattenriss-Theater“ hinter einer halb-transparenten Leinwand spielen und vedeutlicht damit die Ausnahmesituation hinter Gittern. Außerdem lässt er einen Stapel von Koffern durch verschiedene Bedeutungsebenen wandern: mal als Zeichen der letzten Habe armer Auswanderer, mal als Behälter für Unmengen des gierig erwünschten Bargelds, das er auf dem Höhepunkt der Geschichte extensiv durch die Luft fliegen lässt.
Die wesentliche Wirkung dieser Inszenierung besteht allerdings nicht in der Interpretation oder gar der darstellerischen Umsetzung der Ereignisse um das „System Ponzi“ sondern vor allem in der erschreckenden Aktualität. Vor wenigen Jahren hat Bernie Madoff – ebenfalls in den USA! – eine ähnliche Blase erst zum Wachsen und dann zum Platzen gebracht, der angerichtete Schaden überstieg jedoch den von Ponzi verursachten inflationsbereinigt um den Faktor 53! Dagegen nimmt sich dann Ponzis System tatsächlich kabarettistisch aus. Und nach Madoff rauschten die Lehman Brothers in eine ähnliche Pleite, und andere mussten vom Steuerzahler gerettet werden, um ein vollständiges Finanzchaos zu verhindern. Diese aktuellen Finanzkatastrophen spielen sich sozusagen alle im Hintergrund der Inszenierung ab, zumindest jedoch in den Köpfen der Zuschauer. Das System Ponzi ist sozusagen nur eine vereinfachte Darstellung dessen, was auf den unüberschaubaren Finanzmärkten heute abläuft. Die Inszenierung bringt dies mit einem bitter-satirischen Hintersinn auf den Punkt, und die Tatsache, dass Ponzi publikumswirksam vom Schicksal bestraft wurde, wirkt hier fast schon ironisch. Wie im Märchen wird der Böse bestraft, aber in der Wirklichkeit machen die meisten weiter.
Die Darsteller knien sich mit viel Engagement in das temporeiche Stück hinein, und der fließende Übergang der Szenen lässt vor allem zu Beginn keine Langeweile aufkommen. Erst gegen Ende, wenn sich die Entwicklung deutlich abzeichnet und das Ende nur in quälend kleinen Schritten naht, kommen Längen auf. Vielleicht hätte man das Stück um fünfzehn Minuten kürzen können, denn der Niedergang nahm in der Realität nur etwa ein Siebtel der gesamten Affäre ein – von der Vorgeschichte ganz abgesehen. So hätte auch die Inszenierung den Zusammenbruch effekvoller komprimieren können. Die Niedergangsphase verzögert Motzki jedoch durch zu viele Details, die das Ende immer wieder hinauszögern.
Einzelne Darsteller herauszuheben wäre angesichts der episodisch angelegten Inszenierung nicht angemessen. Hier werden keine Charaktere entwickelt und ausgespielt sondern in schneller Folge Ereignisse nachgestellt. Das erfordert eher Schnelligkeit und Reaktionsfähigkeit denn tiefgründige Darstellungskunst. Doch das haben die Darsteller durchweg glaubwürdig umgesetzt und dem Publikum damit einen unterhaltsam-satirschen Abend bereitet.
Dieses spendete denn auch allen Beteiligten kräftigen Schlussbeifall.
Weitere Aufführungen am 28. März sowie am 12. und 19. April
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
No comments yet.