Florian Illies: „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“

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1303_1913.jpg Ein kulturelles Kaleidoskop von zwölf aufregenden Monaten mit dunklem Potential

Ein wenig irreführend ist der Untertitel dieser historischen Dokumentation schon, und zwar in doppeltem Sinne. Erstens geht es hier nicht nur um den Sommer 1913, sondern das (Hör-)Buch beginnt im Januar eben dieses Jahres und endet exakt mit der Wende zum Schicksalsjahr 1914. Zweitens suggeriert der Untertitel, dass 1913 ein Traumsommer herrschte – „Jahrhundertsommer“ ist ein anerkanntes Synonym dafür -; der Sommer in jenem Jahr zeigte sich jedoch eher als sehr „bescheiden“. Dagegen erwies sich der Sommer des Folgejahres zumindest meteorologisch auch über den 1. August hinweg als ein „Jahrhundertsommer“. Weltpolitisch auf makabre Weise sowieso.
Doch zurück zum Jahr 1913. Florian Illies lässt dieses Jahr anhand einer kulturellen Rückschau wieder aufleben, wobei er nicht nur die verschiedenen Auf- und Umbrüche in den Künsten – Malerei, Musik, Literatur, seltsamerweise nicht das Theater – schildert, sondern vor allem die nicht nur künstlerischen Beziehungen zwischen den jeweiligen Protagonisten. Liebe, Eifersucht, Neid, Bewunderung, Rachsucht zeigen sich vor allem bei sensiblen Künstlern als Mischung aus positiven und negativen Eigenschaften in aller Deutlichkeit, und Illies illustriert die Eigenarten der Künstler aufs Schönste, das heißt mit einem stets ironsichen jedoch nie hämischen Unterton.
Hinter diesem „Dokuroman“, den wir hier einmal so nennen wollen, obwohl es sich um das Leben und Lieben historischer Personen bis in den Alltag hinein handelt, steht eine immense Detailarbeit, denn Illies musste nicht nur das Leben der handelnden Personen akribisch genau bis auf den Tag genau recherchieren, sondern vor allem die Querbeziehungen aufdecken, die nicht immer so offenkundig waren wie bei den großen Liebesbeziehungen, die sogar literarischen Charakter annahmen. In einem großen chronologischen Netz lässt er seine Protagonisten noch einmal das Jahr 1913 durchleben und durchleiden, wobei alle glauben, in einer schrecklichen Zeit des Umbruchs zu leben, und keiner ahnt, dass sie in einer Spätzeit-Idylle leben, die im Jahr darauf abrupt ihr Ende finden wird.
Als „Running Gag“ zieht sich der Diebstahl der „Mona Lisa“ durch das ganze Buch. Fast jedes (Monats-)Kapitel leitet der Autor mit der Bemerkung ein, das bereits im Jahr 1911 aus dem Louvre gestohlene Bild sei immer noch nicht wieder aufgetaucht, bis es dann tatsächlich im Dezember – historisch korrekt und fristgerecht zum Ende dieses Buches – wieder auftaucht.
Gewisse Künstler ziehen sich als „roter Faden“ durch das ganze Buch. Das gilt vor allem für Franz Kafka, der in diesem Jahr an der Liebe zu Felice Bauer leidet und ihr mehrere briefliche Heiratsanträge macht, die man wegen der existenziellen Selbsterniedrigungen geradezu als Warnung verstehen kann. Diese Briefe betrachtet Illies nicht ganz zu Unrecht als charakteristisch für den hochgradig depressiven Charakter des Prager Dichters. Diese geistige und seelische Labilität war damals vor allem in Künstlerkreisen weit verbreitet und trug mit dem Begriff „Neurasthenie“ eine so medizinische wie modische Bezeichnung. Das führt natürlich zwangsläufig nach Wien zu Siegmund Freud, der mit Tochter Anna lange Spaziergänge unternimmt, an seinen Büchern schreibt, die Prominenz auf seiner Couch therapiert und sich mit seinem Lieblingsfeind und fachlichen Antipoden C. G. Jung heftige Gefechte liefert. Wien ist eine der Zentren der Avantgarde und anderer Exzentriker. Hier gehen 1913 ein erfolgloser österreichischer Postkartenmaler, dem man die Aufnahme in die Kunstakademie versagt hat, und ein russischer Revolutionär mit Namen Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili in ihren freien Stunden im Schönbrunner Park, ohne sich kennenzulernen. Man stelle sich vor, die beiden politisch frustrierten Gestalten wären aneinandergeraten und hätten sich gegenseitig umgebracht…..
Doch Illies geht diesen nahe liegenden Spekulationen nicht nach, sondern lässt sie ungesagt mitschwingen. Dafür geht er auf die Wiener Kritiker umso mehr ein: Karl Kraus, Egon Friedell und andere, die damals gegen das verknöcherte k.u.k.-System polemisierten und seine Vertreter in satirischen Zeitschriften bloßstellten. Währenddessen sitzt der große Pessimist Oswald Spengler an seinem „opus magnum“ über den bevorstehenden „Untergang des Abendlandes“.

Das k.u.k.-System repräsentiert neben dem in diesem Jahr bereits 83 Jahre alten Kaiser Franz-Josef der ewige Thronfolger Franz Ferdinand, der seinen frustrierenden Wartestand mit unglücklichen Äußerungen und Aktionen belebt und sich dadurch den Unmut des Militärs und weiterer Kreise zuzieht. Noch ahnt er nichts von seinem baldigen, einen Weltkrieg auslösenden Ende.
In Berlin entbrennt Else Lasker-Schüler, die verkrachte jüdische Literatin ohne Geld, in Liebe zu Gottfried Benn, die dieser  erwidert, sich dann aber nicht zuletzt wegen der exzentrischen Art dieser Frau wieder zurückzieht. In Berlin und Wien wütet gleichzeitig die Liebe zwischen Oskar Kokoschka und Alma Mahler, die sich schnell vom Tode des Komponisten Gustav Mahler erholt hat und erneut ihre Angel auswirft. Kokoschka zergeht fast vor Eifersucht und malt Bild umd Bild von seiner Liebe, während sich Alma bereits dem nächsten „Promi“, dem berühmten Architekten Walter Gropius, nähert und diesen dann auch heiraten wird. Ihr späterer Doppelnamen Mahler-Werfel verweist zudem auf weitere Künstlerehen.
Natürlich kommen auch Thomas Mann und der Rest seiner Familie nicht zu kurz, bis hin zu einem entfernten Verwandten, der sich lautstark über die Diffamierung der Lübecker Mann-Familie in den „Buddenbrocks“ beklagt. Der Davoser Sanatoriumsaufenthalt seiner Frau Katja kommt hier ebenso als Motivation für den „Zauberberg“ vor wie sein „Coming Out“ in seiner eindeutigen Novelle „Der Tod von Venedig“.
Natürlich darf auch die Künstlervereinigung „Die Brücke“ mit Malern wie Ernst-Ludwig Kirchner, Erich Nolde und Karl Schmidt-Rottluff nicht fehlen, wobei die Egozentrik und der Führungsanspruch des Ersteren deutlich werden und schließlich auch zur Sprengung der Brücke führen. Auch August Macke kommt zu Wort und Bild und zieht in diesem Jahr in die schöne Schweiz. Weiter im Westen ist Paris in diesem Jahr immer noch die tonangebende Stadt für Kunst und Karriere. Hier treffen sich Picasso, George Braque und Henri Matisse mit diversen Geliebten beiderlei Geschlechts, und mittendrin dreht sich die Amerikanerin Gertrude Stein, die mit der dreifachen Rose. Marcel Proust veröffentlich den ersten Band seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“, während sich der Englischlehrer James Joyce – alias Stephan Daedalus – im fernen Triest mit Englischstunden durchschlagen muss. Igor Strawinsky revolutioniert die Musik und sorgt mit seinem „Sacre du printemps“ für DEN Theaterskanddal des noch jungen Jahrhunderts.
In Deutschland spielt Rainer-Maria Rilke nicht nur in diesem Buch eine führende Rolle, denn er kehrt in regelmäßigen Abständen wieder mit elegischen Gedichten, wechselnden Geliebten und einer existenziellen Unentschiedenheit auf die Bühne zurück. Für Florian Illies ist er offensichtlich ein typischer Vertreter des „fin de siècle“.
Die hier genannten Protagonisten der schönen Künste, der Politik und des gesellschaftlichen Lebens stellen nur einen Auszug dar. Fast möchte man Schiller zitieren: „Wer zählt die Völker, nennt die Namen…“,so zahlreich ist das von Florian Illies aufgestellte Personaltableau. Fast alles, was vor dem Ersten Weltkrieg ind Europa Rang und Namen aufweisen konnte – ob künstlerisch oder politisch -, kommt hier zu Wort und ins Bild, und durchaus nicht immer schmeichelhaft. Florian Illies malt ein wandfüllendes Fresko aus den unterschiedlichsten Gestalten, die wie die Laokoon-Gruppe in teilweise kämpferisch-leidenschaftlichen Beziehungen miteinander und mit der sie umgebenden Welt verstrickt sind. Und aus der unüberschaubaren Menge dieser persönlichen Beziehungen schält sich als Extrakt ein aufgeheiztes Lebensgefühl heraus, das fast zwangsläufig zu dem großen Knall im Folgejahr führen musste, obwohl angesehene Wissenschaftler gerade im Jahr 1913 feststellten, wegen der Globalisierung (sic!) werde es zukünftig keine Kriege mehr geben…. Stephan Schad liest diesen rasanten Reigen – Schnitzler kommt übrigens auch ausgiebig zu Wort – mit viel Gespür für die latente Ironie des Autors, der natürlich aus der Retroperspektive von einhundert Jahren vieles anders sehen kann als seine Protagonisten. Doch wie bereits erwähnt: diese Ironie ist nie besserwisserisch oder aus der Zukunftz moralisierend, sondern stets menschlich und mitfühlend.
Das Hörbuch „1913 – Der Sommer des Jahrhunderts“ umfasst fünf CDs mit einer Gesamtlaufzeit von 384 Minuten, ist im Audioverlag unter der ISBN 978-3-86231-206-1 erschienen und kostet 19,99 Euro.

Frank Raudszus

 

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