Clemens J. Setz: „Indigo“

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Der irritierende Roman eines Verstörten 

Gibt man in Google die Begriffe „Indigo-Kinder“, „Helianau“ und „Proximity Awareness“ ein, so erhält man – abgesehen von zahlreichen Rezensionen dieses Buches – folgende Ergebnisse: Die „Indigo-Kinder“ werden einer Esoterik(!)-Richtung zugeordnet, die ein neues Zeitalter heraufdämmern sieht, das sich durch Kinder besonderer, vor allem übersinnlicher Fähigkeiten ankündigt. Wissenschaftliche Erkenntnisse und Fakten lassen sich den Google-„Treffern“ dazu nicht entnehmen. Die „Helianau“ wird zwar einstimmig als steiermärkische Internatsschule bezeichnet, jedoch ausschließlich im Kontext des vorliegenden Romans. Eine eigene Webseite zur „Helianau“ existiert nicht. „Proximity Awareness“ schließlich ist lediglich im Kontext von Mobiltelefonen ein Thema und bezeichnet die Möglichkeit, die jeweilige Umgebung eines eingeschalteten Mobiltelefons nach verschiedenen Kriterien zu analysieren.

Liest man den Klappentext des Romans „Indigo“ von Clemens J. Setz, so erfährt man, dass der Autor (Jahrgang 1982) eine Zeitlang als Mathematiklehrer in der Internatsschule „Helianau“ für Indigo-Kinder in der Steiermark gearbeitet hat, heute zurückgezogen in der Steiermark lebt und unter den Spätfolgen des „Indigo“-Syndroms leidet. Diese Meta-Information über den Autor des Buches hat eindeutig faktischen Charakter und scheint damit den Inhalt des Buches zu bestätigen.

Schließlich zum Roman selbst: in diesem schildert der Autor die Erlebnisse des Mathematiklehreres Clemens J. Setz (in der 1. Person!), der in dem steiermärkischen „Proximity Awareness and Learning Center Helianau“ gelehrt hat und nach seiner plötzlichen Entlassung dubiosen Vorgängen in der Helianau nachgeht. Seine Recherchen führen zu keinem konkreten Ergebnis, jedoch zu einer zunehmenden geistigen Verwirrung des Protagonisten. Es handelt sich bei dem Roman also offensichtlich um einen autobiographischen Bericht von – zumindest subjektiv – hoher Authentizität.

Handelte es sich hier um einen investigativen Bericht, der nur aus juristischen Gründen in die Romanform gekleidet ist, würde man zweierlei erwarten: erstens Hinweise auf Fakten, die sich anderweitig belegen lassen, so etwa durch entsprechende Internet-Recherchen (s. oben), zweitens konkrete Vorwürfe oder Vermutungen, die zu beweisen dem Autor mehr oder minder gelingt. Beides ist jedoch nicht der Fall. So könnte man das Buch als „Fantasie“-Roman der Kategorie „subtiler Horror“ auffassen, wären da nicht die vom Klappentext „authentisierten“ biographischen Angaben über den Autor und die Verbindung zu der esoterischen Theorie der „Indigo“-Kinder. Am Ende des Buches senkt sich der Vorhang, doch alle Fragen bleiben offen, um Marcel Reich-Ranicki zu zitieren.

Um die offenen Fragen zumindest teilweise beantworten zu können, ist es nötig, kurz den Inhalt des Buches zusammenzufassen. Die Ereignisse aus der Sicht der Romanfigur Clemens J. Setz sind in der ersten Person als Rückblende verfasst. Zu Beginn ist Setz bei einem Besuch kollabiert und rekapituliert mühsam die Umstände dieses Zusammenbruches. Es folgt der Besuch bei einer Kinderpsychologin, die ihm jedoch nicht die gewünschten Auskünfte über die Helianau geben kann, die er nach einer schweren Auseinandersetzung mit dem Direktor verlassen musste. Die Rückblenden behandeln vorrangig die Zeit danach, während der Aufenthalt an der Schule nur in kurzen Erinnerungen vorkommt. Der Kern des Roman besteht in der seltsamen Eigenart der Schüler der Helianau, bei anderen Menschen durch ihre bloße Nähe Schwindel und Übelkeit zu verursachen. Auch untereinander tritt dieser Effekt auf, so dass die Schüler sich auch in den Pausen nur auf bestimmte Mindestentfernungen nähern. Da ein  normales Zusammenleben mit normalen Menschen unmöglich ist, müssen diese Kinder sozusagen in „Quarantäne“ gehalten werden. Angeblich verliert sich der Effekt im Laufe des lebens, aber diese Vermutung wird im Buch nicht näher verfolgt. Die Romanfigur Setz entdeckte  jedoch, dass in bestimmten Abständen Kinder in unterschiedlichen Verkleidungen weggebracht – „reloziert“ – werden, ohne je zu erfahren, wohin sie kommen und was mit ihnen geschieht. Daraus ergab sich auch die Auseinandersetzung mit dem Direktor und seine Entlassung. Danch geht er diesem Geheimnis nach, und seine Recherchen führen ihn aufgrund geheimnisvoller Hinweise, die der Phantasie Edgar Allen Poes entsprungen sein könnten, nach Brüssel, wo ihn seltsame Menschen und Ereignisse verwirren, die wiederum hochgradig an Kafkas Romane erinnern. Er leidet zunehmend unter diesen fast übersinnlichen Schemen und gerät in eine psychisch labile Situation, die sein Alltagsleben schwerwiegend beeinflusst.

Der zweite Erzählstrang schildert den gleichen Kontext aus der Sicht eines ehemaligen Schülers der Helianau, der sich für das seltsame und fast groteske Leben des ehemaligen Mathematiklehrers vor allem deshalb interessiert, weil dieser erst vor kurzem von der Anklage eines grausamen Verbrechens freigesprochen worden sein soll. So sucht er ihn auf, erlebt einen abwesenden Setz und eine behütende Ehefrau und erhält von Setz mehrere Mappen mit Notizen aud Ausarbeitungen zu den Vorgängen an der Helianau. Doch seine letzten Nachfragen bei Setz erweisen sich als vergeblich, da Setz offenbar psychisch nicht mehr in der Lage ist, einem Gespräch zu folgen und konkrete Fragen zu beantworten.

Die erwähnten Notizen und Ausarbeitungen stellen den dritten Strang dar. Sie sind in Schreibmaschinenschrift (Courier) gesetzt und mit handschriftlichen Anmerkungen ergänzt, um ihren spontanen Charakter zu kennzeichnen. Teilweise enthalten sie Vermutungen und Verdachtsmomente, die Setz pflegt, aber auch Recherche-Ergebnisse und Erkenntnisse. Doch zu keinem Zeitpunkt gewinnen sie den Grad der Konkretheit, den man für einen zielgerichteten investigativen Roman oder gar einen Kriminalroman benötigt. Alles bleibt im Vagen, Geheimnisvollen und ebnet den Weg für Spekulationen aller Art, allen voran esoterische und übersinnliche. Vermutet der Leser anfangs noch, dass die „relozierten“ Kinder irgendwo biogenetisch behandelt oder gar umgebracht, werden, so führen die Untersuchungen des Lehrers Setz nicht zu einer Klärung sondern zu zunehmender Verwirrung bis hin zum Okkulten.

Man kommt nicht umhin, dem Buch eine gewisse Sogwirkung zuzusprechen, doch da jegliche konkrete Aussage sowohl zu dem „Indigo-Symptom“ als auch zu der „Helianau“ und zu deren seltsamen Helfern in Brüssel fehlt, verschwindet der Roman im Orkus des Übersinnlichen, was wohl auch beabsichtigt ist. Nimmt man das Ende des Buches als Aussage, so könnte sie etwa – trivial und frei nach Shakespeare – lauten „Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt“, oder sie könnte auf eine große Weltverschwörung hindeuten, bei der herrschende Kreise ein schwerwiegendes Menschheitsproblem verheimlichen wollen und mutige Investigativ-Journalisten in den Wahnsinn schicken. Es könnte jedoch auch etwas anderes dahinter stecken: der Autor könnte unter einer psychischen Veranlagung leiden, die bei bestimmten äußeren Bedingungen zu Wahnvorstellungen führen können, so etwa unmotivierte und subtil-aggressive Schüler, die sich einen Spaß daraus machen, Lehrer zu quälen. Der Autor Setz wäre nicht der erste Lehrer, der an seinem Beruf psychisch erkrankt ist.

In allen drei dieser Interpretationen bleibt jedoch rätselhaft, warum der Verlag im Klappentext konkrete Aussagen zur Biographie des Autors abdruckt, die sich nicht einmal ansatzweise belegen lassen. Da wir jedoch außer den Angaben des Verlags keine weiteren Informationen über den Lebensweg von Clemens J. Setz kennen (die im Internet verfügbaren sind offensichtlich dem Klappentext entnommen), bleiben diese Fragen offen. Damit bleibt nur noch eine leicht zynisch angehauchte Interpretation: Verlag und Auot haben sich geeinigt, den Klappentext so zu gestalten, dass er weitgehend dem Inhalt des Buchs entspricht. Damit kann man den okkulten Charakter des Romans deutlich verstärken, die Verwirrung bei Lesern und Kritikern erhöhen und letztlich die Aufmerksamkeit und damit die Verkaufszahlen steigern.

Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag unter der ISBN 978-3-518-42324-0 erschienen, umfasst 475 Seiten und kostet 22,95 €.

Frank Raudszus

 

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