Der Fortschritt des Exhibitionismus
Die Kunsthalle Schirn zeigt in der Ausstellung „Privat“ die zunehmende Offenlegung des Intimen
In der Presse wird seit einiger Zeit zunehmend die Zerstörung der Privatsphäre vorwiegend durch das Internet beklagt. Allerorten sind Begriffe wie „Datenschutz“ und „Datenhandel“ unter negativen Vorzeichen im Schwange. Allgemein ist der öffentlich geäußerte Eindruck entstanden, dass die Nutzer der Medien – vor allem des Internet – verzweifelt ihre Privatsphäre gegen skrupellose Geschäftemacher zu verteidigen suchten und dabei von der Presse und den öffentlichen Institutionen unterstützt werden müssten. Schon Jonathan Franzen hat jedoch vor zwei Jahren in einem Essay die Behauptung aufgestellt, die Öffentlichkeit müsse vor dem Privaten geschützt werden, da immer mehr Mediennutzer ungehemmt ihr Privat- und sogar Intimleben vor der Öffentlichkeit ausbreiteten, die dadurch eher belästigt als belustigt werde. Die Kunsthalle Schirn nimmt diese neue Sicht der Realität auf und stellt in ihrer neuen Ausstellung „Privat“ die Tendenz eines wachsenden Exhibitionismus und auch Voyeurismus vor.
Solange das Fernsehen – neben der guten alten Zeitung – einziger Kanal für den Austausch visueller Informationen war, kontrollierte allein die begrenzte Bandbreite – Zahl der Sender und Frequenzen – die Möglichkeit, private Informationen in die Öffentlichkeit zu tragen. Die Privatsender begannen dann, mit Formaten wie „Big Brother“ gezielt sogenannte „Authentizität“ in den Markt zu bringen. Man hatte gemerkt, dass offensichtliche Fiktion nicht mehr ausreichte, das Publikum zu fesseln. Das wollte offensichtlich „echtes“ Leben sehen und sich in Ermangelung eigener Sensationen an denen anderer Menschen – vorzugsweise Katastrophen – sattsehen. Als die Zuschauer merkten, dass mit diesen „Doku-Soaps“ Menschen wie Du und Ich plötzlich ins Fernsehen und damit in die Öffentlichkeit kamen, erwachte die Sehnsucht, es ihnen gleichzutun. Schon Andy Warhol hat einst das Wort geprägt, in Zukunft werde jeder Mensch für fünfzehn Minuten berühmt werden, und das Publikum wollte diese Vision in die Tat umsetzen. Man drängelte sich zu „Big Brother“ oder suchte die Teilnahme an jeglicher Art von Talkshow, wie tief das Niveau auch immer sein mochte.
Mit dem Internet kam schließlich die ultimative Plattform zur Selbstdarstellung: preiswert und für jedermann/frau vierundzwanzig Stunden am Tag zugänglich. Preiswerte Kameras und Mobiltelefone mit eingebauter Kamera erleichterten nicht nur die Aufnahme beliebiger Bilder sondern auch die schnelle Einstellung ins Internet. Facebook schließlich setzte den Schlussstein in dieses neue Gebäude allumfassender bidirektionaler Information, indem die Nutzer nicht mehr selbst Webseiten erstellen und pflegen müssen sondern sich nur dort anzumelden brauchen und ihre Bilder und Texte ungehindert einstellen können.
Das Resultat dieser neuen Möglichkeiten lässt sich nun in der Schirn betrachten. Nüchtern und ohne den Zeigefinger moralischer Anklage zeigt die Ausstellung die Facetten aktueller Selbstdarstellung im Internet. Dahinter steht stets die Hoffnung und Erwartung, dass möglichst viele Menschen sich die eigene Darstellung anschauen und in irgendeiner Form beeindruckt sind. Die Vorstellung, dass die meisten Benutzer dieser Plattformen genauso sich selbst darstellen und nicht andere bewundern wollen, wird dabei sorgsam ausgeblendet. Während man selbst seinen Kommentar zu einer Facebook-Eintrag in erster Linie als Selbstdarstellung betrachtet, will man glauben, dass die anderen die eigenen Äußerungen aus reinem Interesse kommentieren.
Die Ausstellung betrachtet Selbstdarstellung in Film und Foto aus der historischen Perspektive. Schon in der Vorkriegszeit waren Schmalfilme beliebt, in denen die Familie und die lieben Kleinen in endlosen Szenen aufgenommen wurden. Der Dia-Vortrag vom letzten Urlaub gehört ebenfalls zu diesem Kontext. Die Ausstellung zeigt solche eher harmlosen und naiven Filmchen aus der Zeit des Schmalfilmes und dann aus der Ära der frühen VideoKamera. In beiden Fällen spielte noch eine gewisse Komposition der Aufnahmen eine Rolle, weil das Medium Film bzw. Videoband knapp und teuer war. In der Zeit der nahezu kostenlosen digitalen Speicherung vin Fotos und Filmen sind diese Heimfilme zu spontanen Videoclips über alle möglichen Themen mit meist banalem Hintergrund mutiert. Nicht mehr der Inhalt der visuellen Darstellung spielt die Hauptrolle sondern die Präsenz des Autors. Daher steht in der Ausstelllung auch immer wieder das Selbstportrait mit ausgestreckter Hand im Vordergrund.
Neben dem simplen Buhlen um Aufmerksamkeit spielt auch zunehmend eine zwanghafte, fast krankhafte Art der Selbstdarstellung eine Rolle. So stellen einige Filmemacher familiäre oder sexuelle Probleme in den Vordergrund, um damit einen entsprechenden psychischen Druck abzubauen. Das kann bis hin zu explizit pornographischen Darstellungen gehen, die in erster Linie das Ziel haben, den zunehmenden „Informationslärm“ im Internet zu übertönen. Einfache Filme des eigenen Alltags reichen nicht mehr, um Aufmerksamkeit zu erzielen; die Dosis muss permanent verstärkt werden.
Nach 1968 wurde das Private noch großmundig als politisch umdefiniert. Es galt als revolutionär und die Burgeosie schockierend, das Intime aus den Wohn- und Schlafzimmern herauszuzerren und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wie immer, enthielt diese Ideologie einen Kern der Wahrheit, denn im Privaten der fünfziger und sechziger Jahre versteckte sich auch viel Heuchelei und Scheinheiligkeit. Die galt es mit der Behauptung, alles Private sei politisch, an das Tageslicht zu zerren. Heute jedoch, da die meisten Tabus gefallen sind, hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt: es gibt nichts Privates mehr ans Tageslicht zu zerren, da es in zunehmendem Maße nicht nur freiwillig veröffentlicht sondern der Öffentlichkeit geradezu aufgedrängt wird. Fast müsste man den Slogan umkehren in „Das Politische ist privat!“.
Doch diese Selbstdarstellung existiert laut der Ausstellung nicht nur in der naiv-kruden Form des Exhibitionismus sondern auch als künstlerische Bewegung. Verschiedene Künstler haben diese neue Bewegung aufgegriffen und auf ihre Weise verarbeitet. Darunter ist auch der chinesiche Künstler Ai Weiwei, der sein privates Umfeld mit Akribie und Sinn für die überraschende Pointe preisgibt. Andere Künstler arbeiten das Typische an diesem Exhibionismus heraus und erstellen daraus Zeichen der Zeit. Wie oft bei der modernen Kunst ist dabei die Unterscheidung zwischen künstlerisch gestalteter und zufällig-naiver Selbstdarstellung nur schwer zu treffen. Die Ausstellung gibt dazu zwar Hinweise und HIlfestellung, die Bewertung im Einzelnen muss jedoch der Betrachter selbst treffen, insoweit man solchen gesellschaftlichen Trends überhaupt mit Bewertungen herkömmlicher Art begegnen kann.
Die Ausstellung ist vom 1. November bis zum 3. Februar 2013 dienstags sowie freitags bis sonntags von 10 bis 19 Uhr, mittwochs und donnerstags von 10 bis 22 Uhr geöffnet.
Frank Raudszus
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