Sozialdrama als melancholisches Singspiel
Die Neue Bühne Darmstadt bringt Falladas Roman „Kleiner Mann was nun“ auf die Bühne
In seinem Roman „Kleiner Mann was nun“ setzte Hans Fallada Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, unmittelbar nach der Weltwirtschaftskrise, den kleinen Leute und ihrer Not ein Denkmal. Neben verschiedenen Theaterversionen existiert auch eine musikalische Revue von Tankred Dorst und Peter Zadek, die Renate Renken als Grundlage für ihre Inszenierung bei der „Neuen Bühne Darmstadt“ herangezogen hat. Wie üblich findet die Aufführung mitten im Zuschauerraum statt, der sich bis hinunter an die Spielfläche hinzieht und an diesem Abend wieder einmal bis zum letzten Platz gefüllt ist. Neben dem Eingang sitzt Heike Pallas am Piano, um wie in (guten??) alten Zeiten die musikalische Begleitung zu den Gesangseinlagen zu liefern, und an der Stirnseite des Raums verdeckt zu Beginn ein Vorhang die Leinwand, auf der später auch das Medium Film seinen Platz in dieser Revue finden wird.
Der junge Johannes Pinneberg arbeitet in einem Düngemittel-Kontor, nachdem er seine Stelle als Textilverkäufer verloren hat. Seine Liebschaft mit Emma, genannt „Lämmchen“, zeitigt sehr bald Früchte, und ehrlich, wie Pinneberg ist, heiratet er Lämmchen, obwohl ihr Vater, ein organisierter Arbeiter, einen Schwiegersohn seiner eigenen Klasse lieber gesehen hätte. Doch bald verliert Pinneberg auch diese Stelle, weil die Frau des Chefs ihn eigentlich mit ihrer unattraktiven Tochter verheiraten will und sich bei der zufälligen Entdeckung seines sorgsam verschwiegenen Ehestandes für die Demütigung ihrer Tochter rächt. In der Not hilft Pinnebergs Mutter, die in Berlin ein recht loses Leben führt und deren derzeitiger Liebhaber Jachmann Beziehungen zur Geschäftswelt pflegt. Trotz einiger Hindernisse – seine Mutter hatte großzügig Jachmanns Bemühungen ohne dessen Wissen vorweggenommen – erhält Pinneberg eine Stelle als Verkäufer von Herrenkonfektion, und alles scheint wieder im Lot. Doch bald steigt der Verkaufsdruck auf ihn in Gestalt des Buchhalters Spannfuß. Eines Abends lädt Jachmann die Familie ins Kino ein, und sie sehen die Tragikomödie eines jungen Mannes, der sich für die extravaganten Wünsche seiner Frau ins Verderben stürzt. Pinneberg fühlt sich durch die realitätsnahe Darstellung des jungen Ehemannes betroffen und identifiziert sich nicht nur mit ihm sondern glaubt auch ganz naiv, dass der Schauspieler die Rolle mit seinem ganzen Herzblut spielt. Als dieser im Geschäft erscheint und – offenbar nur zum Spaß – eine ganze Reihe von Anzügen anprobiert, ohne einen zu kaufen, appelliert Pinneberg an sein Herz und seine Filmrolle und drängt ihn zum Kauf. Der empörte Schauspieler berschwert sich bei der Geschäftsleitung, und Pinneberg verliert wieder seine Stelle. Wieder einmal müssen sie die Wohnung wechseln und wohnen jetzt in einer Gartenlaube des Kollegen und selbstlosen Freundes Heilbutt. Pinneberg spielt Hausmann und -meister, während Lämmchen das Geld durch Näharbeiten beischafft. Viel tiefer geht es nicht mehr. Doch eines Tage jagt ein Schutzmann den vor dem Arbeitsamt wartenden Pinneberg vom Trottoir, was diesen in eine tiefe Depression stürzt. Jetzt hat Lämmchen neben ihrer Arbeit und ihrem Kind auch noch einen verzweifelten und selbstmordgefährdeten Mann zu bewältigen. Ihre unvermutete Stärke und die gemeinsame Liebe schaffen es jedoch, auch diese Krise zu überstehen, und die beiden kämpfen ihren stillen Überlebenskampf weiter.
Fallada schildert einerseits die Not der einfachen Leute, die von der Willkür der Arbeitgeber und den Intrigen der Kollegen abhängen. So hatten die drei von ihrem Chef nach Strich und Faden ausgebeuteten Mitarbeiter der Düngerhandlung mit Ehrenwort und Handschlag vereinbart, dass alle drei kündigen, wenn einer von ihnen entlassen wird. Doch als Pinneberg wegen der geplatzten Liaison mit der Tochter des Chefs die Kündigung erhält, wissen seine Kollegen von der Abmachung nichts mehr und händigen ihm sogar noch höchstpersönlich seine Entlassungspapiere aus. Auf der anderen Seite zeigt Fallada die halbseidene Lebewelt, personifiziert in Pinnebergs haltloser und zum Alkohol neigenden Mutter, die dem eigenen, mittellosen Sohn die Miete für die Wohnung aus den Rippen presst. Dazu kommt der Hochstapler Jachmann, der zwar großzügig mit Geld um sich wirft, wenn er welches hat, sich jedoch offensichtlich auch mit kleinen Erpressungen über Wasser hält, denn ein Wort von ihm genügt, um Pinneberg gegen den Willen des Chefs eine Stelle in dem Konfektionshaus zu verschaffen. Höhe- bzw. Tiefpunkt dieser halbseidenen gesellschaftlichen Moral ist der Verrat von Pinnebergs Mutter an ihrem Liebhaber Jachmann, den sie aus Eifersucht an die Polizei verrät und damit für ein Jahr ins Gefängnis schickt, um dann über seine Abwesenheit zu heulen.
Die Revue von Tankred Dorst und Peter Zadek zerlegt den Roman in viele kurze Episoden, die den Handlungsablauf schlaglichtartig beleuchten. Fast jeder Szene ist mit einem Chanson oder Schlager der zwanziger Jahre unterlegt, den jeweils einzelne Darsteller oder gleich mehrere im Duett oder Terzett präsentieren. Einer der zentralen Songs ist dabei das bekannte „Wenn ich mir was wünschen dürfte…“, das die melancholische Befindlichkeit dieser so bewegten wie notleidenden Jahre auf den Punkt bringt. Der Revue-Charakter verleiht der ansonsten eher deprimierenden Handlung einen melancholischen Charakter mit einem Hauch von Galgenhumor. Eine rein szenische Umsetzung hätte in die Nähe Hauptmannscher Sozialdramen geführt und wäre vielleicht dem Gegenstand gerecht geworden, hätte aber einem aussichtslosen Pessimismus das Wort geredet. Die Ironie der Geschichte will es, dass ein solcher Pessimismus angesichts der Jahre 1933 bis 1945 den Nagel auf den Kopf getroffen hätte. Die beiden Verfasser der Revue hatten im Jahr 1991 jedoch offensichtlich im Sinn, die sozialen Zustände ungeschminkt zu zeigen, doch auch das Lebensgefühl dieser Jahre, das sich eben in der Unterhaltungsmusik niederschlug, auf die Bühne zu bringen.
Renate Renkens Regie erzielt mit wenigen Requisiten und guten Ideen überraschende Wirkungen. So stammen die aus dem alten Radio der zwanziger Jahre ertönenden Schlager von zwei hinter einer Spitzengardine versteckten Sängern, die mit dem Drehen des Knopfes anheben oder verstummen. Synchron dazu schlägt Heike Pallas die Tasten am Klavier an.
Das Ensemble der Neuen Bühne bringt das Lebensgefühl zwischen Leidensdruck, Galgenhumor und zaghaftem Optimismus überzeugend auf die Bühne. Dabei treten alle Darsteller außer Marcel Schüler (Johannes Pinneberg) und Nicole Klein („Lämmchen“) in mehreren Rollen auf. Rainer Posrer glänzt in den Paraderollen des Proletariervaters, des cholerischen Chefs der Düngemittelfirma und vor allem als leichtlebiger Jachmann. Daneben darf er noch als zickige ältere Dame mit Dutt und langem KLeid auftreten. Gabriela Reinitzer spielt mit der Mutter Pinnerbergs ebenfalls eine dankbare weil stets exaltierte Rolle und fühlt sich darin offensichtlich wohl. Nebenher spielt sie noch eine abgearbeitete Arbeiterfrau und die dominante Ehefrau eines Kunden im Textilkontor. Ralph Dillmann gibt den SA-Mann in der Düngerhandlung und den sympathischen Kollegen Heilbutt mit unverkennbarem Hang zu Männern. In dieser Rolle legt er einen gelungenen Stepptanz mit Gesang auf die Bretter, der ihm viel Szenenapplaus einbringt. Außerdem spielt er in dem Stummfilm den armen Ehemann, der sich für seine Frau ruiniert, und anschließend den Schauspieler Schlüter bei seinem arroganten Auftritt im Konfektionsgeschäft. Die Filmeinlage erweist sich übrigens als eine weitere gelungene Auflockerung der ansonsten von sozialen Tiefschlägen geprägten Handlung. Bianca Weidenbusch spielt unter anderem die verhuschte Tochter von Pinnerbergs erstem Chef und legt dazu die verzweifelte Gesangs- und Tanznummer einer verschmähten Frau hin. Axel Räther spielt dieses Mal gleich mehrere verschiedene Rollen, vom Schutzmann über den aalglatten Kollegen bis hin zum Verführer im Stummfilm.
Bleiben noch die beiden Hauptdarsteller. Nicole Klein verleiht dem „Lämmchen“ authentische Mädchenhaftigkeit, anfängliche Verzagtheit und mit den Schicksalsschlägen wachsende Stärke. Sie zeigt in dieser Rolle, dass die Verantwortung für ein neues Leben ungeahnte Kräfte verleihen kann. Marcel Schüler gibt dem Johannes eine gehörige Portion Jungenhaftigkeit und Lebensangst mit, könnte aber die charakterliche Struktur bisweilen etwas markanter herausarbeiten.
Das Publikum zeigte sich von dieser Inszenierung angetan und streckenweise wirklich betroffen. Der Schlussbeifall fiel kräftig und herzlich aus. Dafür bedankte sich das Ensemble am Ausgang noch mit einem der Schlüssellieder dieser Sozialrevue.
Frank Raudszus
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