Die Kammerspiele des Staatstheaters Darmstadt bringen Michaels Frayns Einakter „Kopenhagen“
Der Däne Niels Bohr (1885-1961) und der Deutsche Werner Heisenberg (1901-1976) waren zwei der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts, wobei ersterer lange Zeit eine gewisse Patenrolle gegenüber letzterem einnahm. Seit Mitte der zwanziger Jahre verband die beiden eine enge Zusammenarbeit, die sich zu einer persönlichen Freundschaft entwickelte. Im Jahr 1941 allerdings hatten sich die Dinge gründlich verändert: das Dritte Reich hatte Dänemark völkerrechtswidrig besetzt und ging mit dessen Bewohnern nicht gerade zimperlich um, was den Halbjuden Bohr in ernste Gefahr brachte. Heisenberg andererseits war nicht vor den Nazis ins Ausland geflohen sondern hatte sogar eine Professur in Leipzig inne und war damit als Beamter zumindest implizit ein Vertreter des Systems, auch wenn er den Nazis nicht nahe stand. Da nimmt es nicht wunder, dass der Kontakt zwischen den beiden Wissenschaftlern abgebrochen war.
Man kann sich jedoch Bohrs Verwunderung und Zurückhaltung vorstellen, als eines Tages in diesem dritten Kriegsjahr Heisenberg an seiner Haustür klingelte. Vor allem Bohrs Frau Margarethe sah in Heisenberg vor allem den Vertreter der Besatzungsmacht. Der Besuch Heisenbergs endete bereits nach wenigen Minuten, nachdem sich die beiden auf einem ersten Spaziergang überworfen hatten. Lange Zeit blieb der Grund für dieses Zerwürfnis unklar. Heisenbergs Beschreibung dieses desaströsen Besuchs in seinen Erinnerungen „Der Teil und das Ganze“ stießen auf heftige Gegendarstellungen des alten Bohrs, und bis heute weiß niemand, was sich wirklich während dieses Spaziergangs zwischen den beiden und in ihren Köpfen abspielte.
Michael Frayn, der auch als Verfasser gelungener Komödien bekannt ist, hat dieses Gespräch zwischen den beiden Physikern in den Mittelpunkt seines Theaterstücks „Kopenhagen“ gestellt. Wie in einem Stück von Yasmina Reza lässt er den Besuch Heisenbergs dreimal von neuem beginnen, nachdem die Protagonisten jeweils sich erklärt, ereifert und nachgedacht haben. Nach jedem Durchlauf scheinen sie ein Stück klüger zu sein, um bei dem nächsten doch wieder ähnlichen Missverständnissen sowie ihren eigenen Denkstrukturen und Vorurteilen aufzusitzen. Dabei geht es vor allem bei den Vorurteilen nicht um vordergründige Einordnungen des Gegenüber, sondern um Grundhaltungen, die sich aus der eigenen Lebensgeschichte ergeben.
Frayn hat eine äußerst komplexe dramaturgische Struktur geschaffen, in der die Darsteller auf mehreren Ebenen gleichzeitig agieren. Den Dialog bzw „Trialog“ – Bohrs Ehefrau Margarethe schaltet sich immer wieder in die Gespräche ein – überlagern immer wieder Monologe der Personen ohne deutliche dramaturgische Trennung. Scheinbar nahtlos fügen die Protagonisten dem gerade Gesagten ihre Reflexionen zu, wobei nur Semantik und Inhalt auf einen Monolog schließen lassen. Dabei können diese Monologen auch aus einer viel späteren Zeit kommen. So werden weitere Treffen in den Jahren 1943, 1947 und 1953 erwähnt und inhaltlich beleuchtet. Der Kopenhagener Besuch wird damit lediglich zu einem Auslöser für eine über Jahrzehnte reichende Auseinandersetzung mit dem Gegenüber, der Zeit und dem grundlegenden Problem.
Dieses bestand für Heisenberg in den schrecklichen Möglichkeiten der Kernspaltung. Er selbst arbeitete 1941 intensiv an den Möglichkeiten der nuklearen Energiegewinnung und hatte dabei die theoretische Möglichkeit einer Bombe ungeahnter Zerstörungskraft errechnet. Zwar hielt er sie aufgrund des damaligen Wissensstands für technisch unrealisierbar, aber die Erfahrung des schnellen wissenschaftlichen Fortschritts hatte ihn gelehrt, dass eine solche Einschätzung sich schnell ändern konnte. Den deutschen Machthabern gegenüber hatte er die Möglichkeit einer solchen Waffe nicht erwähnt, wusste aber, dass andere irgendwann auf diesen Gedanken kommen würden. Belastet von diesem Dilemma, fuhr er nach Kopenhagen, um darüber mit seinem Freund Bohr zu sprechen – so seine spätere Aussage. Der jedoch musste die Andeutungen Heisenbergs nicht nur dahingehend interpretieren, dass Heisenberg selbst an gewissen Vorarbeiten für die Bombe beteiligt war, sondern dass er ihn auch noch über den Entwicklungsstand der Alliierten ausfragen wollte.Die Bandbreite der Verdächtigungen reichte dabei von der naiven Mitarbeit an einer Teufelswaffe für ein verbrecherisches Regime bis zum aktiven Ausspionieren und Sabotieren gegnerischer Aktivitäten. Verständlich, dass Bohr unter diesem Gesichtspunkt Heisenberg die Freundschaft kündigte.
In den weiteren gedanklichen Durchläufen dieses Besuches kommen dann Heisenbergs Besorgnis eines weltweiten nuklearen Wettrüstens und sein Versuch zur Sprache, mit Hilfe Bohrs ein stillschweigendes Einverständnis aller Wissenschaftler „bei Freund und Feind“ bezüglich einer Bombenbau-Abstinenz zu erzielen, eine Hoffnung, die Heisenberg in den fiktiven Mono- und Dialogen später selbst als naiv bezeichnet. Bohr kann diese Besorgnis auch deshalb nicht glauben, da Heisenberg sich trotz Nazi-Regierung immer noch als Deutscher sieht und seine Loyalität daher bezieht: sollten die Alliierten an einer Bombe bauen, müsste auch er etwas dagegen setzen…..
Bohr sieht diese Loyalität dem eigenen Volk gegenüber aus der Perspektive des Halbjuden, der den Tod durch eben diese Besatzungsmacht fürchten muss und schließlich vor der Deportation nach Auschwitz über Schweden in die USA flüchtet. Dort wir der einen – wenn auch geringen – Beitrag zur Entwicklung der Atombombe leisten, was ihm wiederum Heisenberg zumindest unterschwellig vorwirft. Wie sehr die beiden sich auch in ihren Reflexionen bemühen, die jeweils andere Position zu verstehen, geraten sie doch immer wieder aneinander und finden kein versöhnliches gegenseitiges Verständnis. Dazu sind die Themen – die finale Zerstörungskraft der nuklearen Bombe, die wissenschaftliche Ethik und die persönlichen Loyalitäten – zu konträr und zu brisant.
Michael Frayn vermittelt in diesem Stück nicht nur einen Eindruck der ethischen Probleme der Atomwissenschaftler, sondern geht auch detailliert auf die Abläufe bei der Kernspaltung, der daraus folgenden Energiegewinnung im Reaktor und der finalen Anwendung als Bombe ein. Streckenweise erhält der Zuschauer eine Kompakt-Vorlesung über Kernphysik, gerade noch verständlich aber nie grob vereinfachend. Das ist für die Beurteilung des Kopenhagener Besuchs eigentlich nicht relevant, denn die überdimensionale Gefahr einer Atombombe kennt nach Hiroshima jedes Kind. Doch Frayn geht noch weiter: er erklärt im Rahmen der Bühnendialoge auch noch Heisenbergs „Unschärfe-“ oder „Unbestimmtheitstheorie“, sozusagen das Markenzeichen seiner Quantentheorie. Danach kann man im subatomaren Bereich nicht mehr sowohl Ort wie Geschwindigkeit eines Teilchens messen, weil die Messwerkzeuge – Elektronen – in die Größenordnung des gemessenen Teilchens fallen und es damit beeinflussen. Doch der Grund für Frayns Betonung dieser Theorie liegt nicht – nur – in seiner offenkundigen Faszination sondern in der Übertragung auf die menschliche Kommunikation. Frayn zeigt, dass der Mensch ähnlich unbestimmbar ist wie die subatomaren Teilchen. Das Messwerkzeug bei der Beurteilung der Handlungen und Aussagen unserer Mitmenschen sind wir selbst, und da wir unter die gleiche Größenordnung fallen, beeinflussen wir eben durch diese Messung (= Beurteilung) diesen Mitmenschen. Ein objektives Verständnis ist demnach unmöglich, vor allem, wenn „Drall“ und „Geschwindigkeit“ von Messgegenstand und -werkzeug unterschiedlich sind, wie es bei Menschen unterschiedlicher Lebensgeschichte und Einstellungen zwangsläufig der Fall ist. So zermartern sich Bohr und Heisenberg den Kopf darüber, was der andere gedacht haben mag und was man selbst falsch gemacht oder ausgedrückt hat, ohne letztendlich zu einem Ergebnis zu kommen. Was am Ende bleibt, ist der resignierte Waffenstillstand, verbunden mit einem leise optimistischen Galgenhumor.
Nur Margarethe steht dieser intellektuellen Fremd- und Selbstzerfleischung der beiden Männer verständnislos gegenüber. Als – typisch weibliche? – Pragmatikerin sieht sie vor allem die Fakten: die Deutschen zerstören alles, was sich ihrem Zugriff nicht entziehen kann, und Heisenberg bleibt weiter ein Deutscher, der treu zu seinem Land (und damit zu seiner Regierung) steht. Weiteren intellektuellen Verästelungen folgt sie nur unwillig und mit offensichtlicher Mühe.
Die Konstellation dieser drei Personen auf der Bühne lässt sich auch als theatralisches Bild der Kernspaltung interpretieren. Bohr und Heisenberg sind zwei Teilchen, die mit Wucht aufeinanderprallen und unkontrollierbare negative Energien freisetzen. Das Elektron Margarethe kreist mehr oder minder machtlos um dieses zerstörerische Ensemble.
Regisseur Reinar Ortmann hat das Stück in dem äußerst puristischen Bühnenbild von Martin Apelt als Konzentrationsübung ersten Ranges inszeniert. Die nackten grauen Wände könnten aus einem Labor stammen und lassen alles zurückprallen, was auf sie trifft. Die Menschen sind in dieser kalten Welt der finalen Entscheidungen sich selbst überlassen und erfahren keine Hilfe von außen. In dieser auf sich selbst zurückverweisenden Umgebung modellieren Uwe Zerwer als Heisenberg, Hubert Schlemmer als Niels Bohr und Gabriele Drechsel als seine Frau Margarethe die Dialoge und Monologe zu einem dichten Gewebe von Ängsten, Vorwürfen, Rechtfertigungen und Reflexionen. Das erfordert höchste Konzentration, bietet doch die Handlung, die es im Grunde genommen gar nicht gibt, kaum Stichwort-Stützen für den einzelnen Darsteller. Da bleiben dann kleinere Versprecher oder Satz-Haspeleien vor allem zu Beginn nicht aus, halten sich jedoch in akzeptablen Grenzen. Uwe Zerwer glänzt als zerrissener Heisenberg, der sich des verbrecherischen Charakters seiner eigenen Regierung durchaus bewusst ist aber daraus keine grundsätzlichen Konsequenzen zieht. Zerwer unterstreicht dies immer wieder durch plötzliche Wutausbrüche, die weniger dem Gegenüber als sich (Heisenberg) und seiner Situation gelten. Hubert Schlemmer spielt die Rolle des moralisch überlegenen Bohr, der in gewissem Sinne von oben auf Heisenberg schauen kann, mit gerade der unterschwelligen Selbstgerechtigkeit, die nicht ins Billige verfällt sondern auf eine gewisse Berechtigung verweisen kann. Sein Bohr streckt Heisenberg immer wieder die Hand hin, um sie im letzten Moment vorsichtig zurückzuziehen. Gabriele Drechsel schaut dem aus ihrer (Margarethes) Perspektive selbstbezüglichen Männerspiel ratlos und streckenweise wütend zu. Dramaturgisch fügt sie dem Stück die Prise Salz zu, die nötig ist, um aus einem reinen Dialog ein packendes Theaterstück zu machen.
Das Premierenpublikum spendete den drei Akteuren sowie Regie und Bühnenbildner kräftigen und langen Beifall.
Frank Raudszus
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