Surrealer Reigen um Schuld und Einsamkeit
Uraufführung von Martin Krumbholzs Theaterstück „Grandhotel Bogotá“ in den Kammerspielen des Staatstheaters Darmstadt
Martin Krumbholz hat sich seit zwanzig Jahren als Theaterkritiker einen Ruf erworben und jetzt den uralten Kritikertraum verwirklicht, seine jahrelange Kritiker-Erfahrung in die Praxis umzusetzen und ein Stück zu schreiben, dass den eigenen Qualitätsmaßstäben gereicht. Solche „Szenenwechsel“ sind riskant, verfügt doch nicht jeder scharfzüngige Kritiker über die kreative Gabe eines guten Dramatikers. Nicht jeder ist ein Lessing, der mit der „Minna von Barnhelm“ den deutschen Literaten zeigte, wie man ein gutes Lustspiel schreibt.
Martin Krumbholz hat sich in „Grandhotel Bogotá“ vordergründig an ein altes Krimikonzept gehalten und sein Theaterstück daher scheinbar als Kriminalstück angelegt. Doch der Schein trügt, da Krumbholz sein Sujet um derart viele Aspekte und Zitate angereichert hat, dass sich der Kriminalcharakter schnell verflüchtigt. Das beginnt bereits mit dem Rollentableau: sechs Personen – drei Frauen und drei Männer – treffen in dem Hotel besagten Namens aufeinander. Alle sind in irgendeiner Weise Künstler, und bereits die Namen sind als Signal zu verstehen: Alfred ist ein Fotograf, dessen kalt betrachtendes Auge für den Intellektuellen steht. Sein Vorname lässt sich zu „Hitchcock“ erweitern, womit die Spur zum Krimi und Psychothriller gelegt ist. Er durchschaut alles, kann sich aber zu keiner befreienden Tat aufraffen. Darsteller (Aart Veder) und Kostüm – Anzug und Hut – erinnern stets ein wenig an Frank Sinatra. Er ist mit dem Model Gracia (Christina Kühnreich) liiert, die von Grace Kelly nicht nur den Vornamen sondern auch ein wenig die kapriziöse Art entlehnt hat. Sie leidet unter selbsteingestandener Ziellosigkeit und unterentwickeltem Selbstbewusstsein, wobei unklar bleibt, inwieweit sie mit diesen Schwächen nur kokettiert. Sie möchte Romanautorin werden und kann doch nicht mehr als ihr eigenes Leben als Romanidee einbringen. Jean-Luc (Andreas Vögler) – hier bietet sich Godard als Namensgeber an – ist ein so extrovertierter wie affektierter Modedesigner mit bisexuellem Einschlag, der permanent das eigene Ego feiert, während Luis (Simon Köslich), ein abstrakter Maler, an der Welt und der Kunst leidet und die Menschen in seinen Bildern durch Übermalen begraben will. Sein „Pate“ ist ganz offensichtlich Luis Buňuel, der auch als Ideengeber für die Inszenierung dient. Catherine (Katharina Hintze) leiht sich den Vornamen von Catherine Deneuve und steht als Prostituierte den Herren im Grandhotel zu Diensten. Als Vertreterin des ältesten Gewerbes der Welt kann sie durchaus auf eine gewisse Wertschätzung als Künstlerin – Stichwort „Kurtisane“ – rechnen, außer vielleicht bei der katholischen Kirche. Sie selbst bezeichnet sich freimütig und ohne falsche Scham als professionell. Lisa (Ronja Lasert) schließlich ist nicht unmittelbar einem bekannten Vorbild zuzuordnen, zeichnet sich jedoch selbst durch ihre Kunst des Geigenspiels aus. Sie wartet in dem Hotel offensichtlich auf ein bevorstehendes Konzert und entzieht sich den anderen Bewohnern durch ihre scheue, widerstrebende Art.
Damit hat Martin Krumbholz bereits ein symbolträchtiges Personaltableau aufgebaut, dessen Bedeutung im Einzelnen jedoch erst die Handlung ergibt. Gracia und Catherine sind die beiden gegensätzlichen weiblichen Archetypen: die ins Extreme gesteigerte puristische Weiblichkeit einerseits und die bodenständige, pragmatische Sexualität andererseits. Über diesen beiden schwebt der „Heilige“-Typus von Lisa. Bei den Männern steht der kühle aber handlungsarme Intellektuelle den extrovertierten und introvertierten Gefühlmenschen gegenüber.
Das Bühnenbild ist in das tiefe Rot eines Vorhangs getaucht, der sich um verschiedene Sitzmöbel über die ganze Bühne erstreckt. Rot ist die Farbe des Blutes und durch diese Assoziation lebenswichtiger Elemente an existenzielle Begriffe wie Tod und Liebe gebunden. Der zusätzliche schwere Faltenwurf des roten Vorhangs erweckt weitere Anklänge an Bedeutungsschwere und Beziehungsschwüle. Bereits in der ersten Szene lugt Luis Buňuel unverkennbar durch die Falten des Vorhangs. Dieser Eindruck verstärkt sich mit einem Schlage, wenn der Hoteldirektor Speck (Margit Schulte-Tigges) – im roten Dress – wie ein kafkaesker Gast aus einer anderen Welt mit steinerner Miene auftritt und den Gästen mitteilt, dass der Gast Mandelkern ermordet worden sei und der Kriminalkommissar Dr. Schrödinger sie deswegen alle verhören werde. Speck wird zum Ende des Stücks noch ein zweites Mal auftreten, wiederum wie ein Menetekel, und seine Ankündigung in veränderter Form wiederholen. Dann hat sich das Stück längst zu einer Metapher von Schuld und Sühne entwickelt. Die Gäste sind – vergleichbar Sartres´ „Geschlossener Gesellschaft“ – durch verschiedene emotionale Beziehungen und vor allem durch den gewaltsamen Tod des Mandelkern auf Gedeih und Verderben und ohne Fluchtmöglichkeit aneinander gekettet. Mehr oder minder alle hatten ein Motiv, Mandelkern umzubringen. Gracia war mit ihm liiert, also ist neben ihr Alfred verdächtig. Catherine hatte eine professionelle Beziehung zu ihm, vielleicht auch mehr, und sogar die undurchsichtige Lisa hat etwas mit ihm zu tun.
Doch um individuelle Schuld im Sinne der Kriminalistik geht es Krumbholz nicht. Das zeigt sich auch daran, dass der Kommissar Dr. Schrödinger bis zum Schluss nicht auftaucht. Er stellt so etwas dar wie die berühmte Katze des Namensgebers, des Mathematikers Schrödinger, nämlich nur eine Wahrscheinlichkeit seiner Existenz. Schrödinger könnte tatsächlich existieren, aber auch als reine Möglichkeit erfüllt er seinen dramaturgischen Zweck. Der für einen Kommissar ungewöhnliche Doktortitel ist ein deutlicher Hinweis auf den Mathematiker und dessen berühmte Wahrscheinlichkeitsaussage. Damit ist eine Spur zu der Existenz einer göttlichen Macht gelegt, die menschliche Schuld entlarvt und bestraft. Wie die des Kommissars ist auch die Existenz Gottes oder einer vergleichbaren höheren Instanz nicht beweisbar und beschränkt sich auf eine Wahrscheinlichkeit subjektiven Charakters. Im Stück nimmt diese Instanz jedoch ihre transzendente Rolle ein, indem sie die Lebenslügen der Individuen als solche entlarvt und zum jüngsten Gericht bläst. Hoteldirektor Speck wird dann zum Erzengel Michael, der das bevorstehende Jüngste Gericht verkündet. Dazu passt auch der rote Anzug des Hoteldirektors. Martin Krumbholz kennt Michaels Darstellungen in der Kunst recht gut!
In der bewussten Weckung von Assoziationen greift Krumbholz jedoch noch weiter. An verschiedenen Stellen des Textes weist er ausdrücklich darauf hin, dass sich die Handlung in Deutschland abspielt. Ein nur scheinbar unbedeutender oder gar unverständlicher Hinweis, denn zusammen mit dem jüdischen Namen Mandelkern des Mordopfers öffnet sich ein ganz anderer Assoziationszweig, den man nicht näher erklären muss. Die deutliche Anlehnung an Buňuels Filmtechnik der surrealen Bedeutungsschwere verdeutlicht diese Assoziation wesentlich eindrucksvoller als jegliches vordergründiges Zeichen. Die Gäste des Grandhotels sind auf mehr oder minder deutliche Weise in die Ereignisse um Mandelkerns Tod verstrickt und werden damit letztlich zu bewussten oder unbewussten Mitschuldigen. Alle fürchten die Befragung durch den Kommissar wie ein über ihnen schwebendes Damoklesschwert und beginnen deshalb, sich gegenseitig Wahrheiten und Vorwürfe an den Kopf zu werfen oder sich zu rechtfertigen. Doch die Details dieser je individuellen Rechtfertigungsversuche interessieren Krumbholz weniger; ihm geht es um die psychische Situation der Verdächtigen in der Erwartung der Abrechnung, denn sie müssen dann Auskunft über ihr Leben, ihre Ziele und das erreichte Rede und Antwort stehen. Ähnlich wie in Buňuels „Würgeengel“ können sie der Situation nicht entfliehen und sind der zu erwartenden Befragung ausgeliefert. Das allen Protagonisten gemeinsame Gefühl ist das einer grenzenlosen Einsamkeit, seien sie nun in einer Beziehung gebunden oder nicht. Jeder versucht, dieser Einsamkeit aufs seine Art zu entfliehen, doch das gelingt nicht, da jeder in seiner eigenen Befindlichkeit gefangen ist und keinen wirklichen Zugang zum Nächsten findet. Das wird am deutlichsten bei Gracia, die allen über ihr Romanprojakt erzählt, ohne dass jemand zuhört, und Catherine, die verzweifelt versucht, ihr Prostituiertendasein als einen ganz normalen Beruf zu „verkaufen“. Auch das interessiert niemanden. Selbst der Visionär Luis will zwar Lisa unbedingt malen, sieht aber dabei nur seine Kunst statt sie im Mittelpunkt.
Krumbholz verzichtet auf ein pointiertes Ende. Damit würde er seine eigenen Intentionen auch konterkarieren. Denn die existenzielle Situation der – heutigen? – menschlichen Gesellschaft lässt sich genau mit diesem Warten auf eine Rechnung für die Schuld der Vergangenheit beschreiben. Das kann man ökonomisch auf die Schuldenkrise(n), ökologisch auf den Klimawandel oder moralisch auf Krieg und Terror beziehen. Krumbholz verzichtet jedoch auf eine explizite Zuschreibung und überlässt sie dem Zuschauer. Seine einzige Pointe besteht darin, dass Hoteldirektor Speck und Dr. Schrödinger das Konzert von Lisa besuchen werden. Ist sie die einzige „Gerechte“?
Martin Krumbholzs Stück ist mehrschichtig aufgebaut und konsequent durchkomponiert. Der wesentliche Bedeutungszusammenhang ergibt sich zwingend aus dem Handlungsablauf, ohne an irgend einer Stelle plakativ zu wirken. Er lässt dem Zuschauer ausreichend Spielraum zur persönlichen Interpretation, ohne ihn jedoch bei den wesentlichen Punkten aus der Pflicht zu entlassen. Der – zugegeben geringe – Nachteil dieser logisch in sich geschlossenen Handlung besteht in einer gewissen Textlastigkeit, die er wiederum durch einige groteske Szenen – etwa die „Fußwaschung“ von Jean-Luis als gestelltes Bild – zu kompensieren versucht. Es bleibt jedoch der in und um sich selbst kreisende, das Stück konstituierende Charakter aller Gespräche und Szenen der auf das Unvermeidliche wartenden Gesellschaft ohne faktischen Handlungsfortschritt. Martin Ratzinger hat das Stück mit einigem Geschick so inszeniert, dass die Botschaft das Publikum ohne Zeigefinger und doch mit einiger Eindringlichkeit erreicht, ohne dass größere Längen auftreten.
Den Darstellern gelingt es über lange Strecken, dem Stück die unheimliche Mehrdeutigkeit buňuelscher Filme und ihren Figuren den Hauch existenzieller Verlorenheit zu verleihen. Bisweilen verlassen sie diesen Pfad zwar und bewegen sich in burlesken, handfesten Bahnen, kehren aber in der nächsten Szene wieder in die Mehrdeutigkeit verlorener Seelen zurück. Die Frauen haben dabei wieder den Vorteil der etwas raffinierteren Figuren, sei es Christina Kühnreich als die egozentrische, innerlich zerrissene und um Bewunderung buhlenden Gracia, Katharina Hintze als die freche und lebenstüchtige Catherine oder Ronja Losert als die verschlossene, rätselhafte Geigerin Lisa. Dagegen ist Aart Veder auf den desillusionierten Zyniker Alfred beschränkt, der statt größerer Emotionen den psychologischen Mantel eines abgeklärten Intellektuellen trägt, Andreas Vögler muss ein ums andere Mal den überdrehten Modeschöpfer mit Aggressionspotential geben, und Simon Köslich erschöpft sich in den visionären Ausbrüchen des Malers Luis. Das bedeutet jedoch nicht, dass die drei Männer ihre Rollen unzureichend ausfüllen.
Der Beifall des Premierenpublikums kam zögerlich und verhalten. Wahrscheinlich musste sich die Botschaft in den Köpfen erst setzen, so dass sich keine spontanen Begeisterung entfalten konnte.
Frank Raudszus
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