Laut ruft der Berg!
Das 1. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt lässt die Bergwelt erklingen
Für die kommende Konzertsaison am Staatstheater Darmstadt hat GMD Martin Lukas Meister – seines Zeichens Schweizer – das Motto „Der Berg“ ausgegeben. Folgerichtiig setzte gleich das erste Sinfonierkonzert am 9. September markige Alpenakzente, unter anderem mit dem Alphorn – fast ein schweizer Natinalsymbol – und einer ganzen Alpensinfonie.
Den Anfang machte jedoch eine Komposition, die auf das erste Hinhören keine Assoziationen an das Gebirge auslöst. Der Ungar György Ligeti (1923-2006) hat in seinem Klanggemälde „Lontano“ (deutsch: „fern“) typische Eindrücke von Gebirgslandschaften verarbeitet. Dabei ging es ihm weniger um wiedererkennbare Laute der Berge als um die Stimmung, die diese im Menschen erzeugen und die natürlich immer im subjektiven Empfinden wurzelt. Das Stück verzichtet auf jegliche Metrik und Rhythmik, dafür lebt es von der extremen Bandbreite der erzeugten Töne – vom tiefsten Bass zum höchsten Violinton – und von den Reibungen der Instrumenten, etwa der Bläser mit den Streichern. In den homogenen Instrumentengruppen, typischerweise die Streicher, überlagert Ligeti dicht nebeneinander liegende Töne derart, dass sich reizvolle Schwebungen ergeben. Die so geschaffenen Klangflächens ändern sich stetig, jedoch nie abrupt. Langsam weitet sich der Klangraum und nimmt eine andere Gestalt an. Die Intensität dieser Musik liegt allein in diesen ständig sich reibenden Klanggebilden. Die fehlende bzw. kaum zu spürende Metrik erschwert natürlich das Zusammenspiel des Orchesters, da sich kein Musiker auf ein festes Zeitmaß verlassen kann. Stattdessen müssen alle Ensemblemitglieder in diese Musik hineinhören, die Mitmusikanten beobachten und genau auf die Zeichen des Dirigenten achten. Das erfahrende Orchester des Staatstheater meisterte diese Hürden jedoch bravourös und hielt bis zum Schluss die Spannung der sich wölbenden Klangflächen aufrecht. Die feinen Klangverschiebungen kamen sehr gut zum Ausdruck und vermittelten einen spannenden Einblick in die klanglichen Möglichkeiten eines großen Orchesters, ohne dass es zu expressiven Ausbrüchen kommen musste.
Im zweiten Stück des Programms präsentierte Martin Lukas Meister das Schweizer Alphorn als Soloinstrument in dem Alphorn-Konzert des Schweizer Komponisten Jean Daetwyler (1907-1994). Für eine Komposition des 20. Jahrhunderts zeigt dieses Werk erstaunlich herkömmliche tonale Züge. Das mag damit zusammenhängen, dass das Alphorn nur über die Töne der Naturtonreihe und damit über rund zwanzig Tönen in etwas über vier Oktaven verfügt. Zum Vergleich: das Klavier bietet im selben Stimmumfang um die fünfzig Töne. Mit diesem eingeschränkten Repertoire lassen sich natürlich auf dem Alphorn keine raffinierten harmonischen Folgen spielen. Danach muss sich auch der Orchesterpart richten, denn eine tonal komplexe oder gar atonale Orchestrierung würde das eingeschränkte Alphorn sozusagen degradieren.
Der Solist auf dem Alphorn war jedoch erstaunlicherweise kein Schweizer sondern der Russe Arkady Shilkloper, der sich bereits in der ehemaligen Sowjetunion einen Ruf als hervorragender Hornspieler erworben hatte. Ihn muss irgendwann das schweizer Alphorn fasziniert haben, denn er bringt auf diesem knapp vier Meter langen Instrument lediglich durch unterschiedliche Anblastechnik erstaunliche Klänge zustande. Das Konzert besteht aus vier kurzen Sätzen – der erste ist mit fünf Minuten der längste -, die nacheinander das Gebet der Hirten, einen Hirtentanz, eine Pastorale und einen Totentanz wiedergeben. Die einleitenden Takte des ersten Satzes erinnern mit ihren feinen Klanggebilden fast ein wenig an Debussy, dann jedoch dominiert das Alphorn mit seinem raumgreifenden Ton das musikalische Geschehen. Im Hintergrund assistiert ein Englisch-Horn und ergänzt das Klangbild mit markanten Einsätzen. Der zweite Satz beginnt mit einem burlesken 3/4-Takt, dann tritt ein Xylophon in einen Dialog mit dem Alphorn, und nach etwas über zwei Minuten endet dieser Satz. In der „Pastorale“ herrscht anfangs ein verhaltener Marschrhythmus vor, dann setzt die Flöte ein und tritt als zweites Soloinstrument neben das Alphorn. Der „Totentanz“ schließlich ist geprägt von harmonisch und rhythmisch abgründigen Motiven, über denen das Alphorn seine Figuren entwickelt und sich schließlich zu einem ausgedehnten Solo aufschwingt. Arkady Shilkloper zeigte in diesem Solo seine bestechende Virtuosität an diesem sicherlich nicht einfach zu spielenden Instrument und entlockte ihm sowohl tempermantvolle Läufe wie auch lyrische Passagen.
Das Publikum erkannte die virtuosen Fertigkeiten des Solisten mit kräftigem Beifall an, und der anhaltende Applaus motivierte Arkady Shilkloper noch zu einer längeren Zugabe im Jazz-Stil und mit teilweise bekannten Motiven, und am Ende dieser Zugabe sekundierte auch das Orchester noch einmal.
Nach der Pause erklang das Hauptwerk des Programms die „Alpensinfonie“ von Richard Strauss (1864-1949). Der Komponist hat in dieser Sinfonie ein Bergerlebnis verarbeitet, bei dem er als Fünfzehnjähriger die Orientierung verlor und einen Tag lang durch das Gebirge irrte. Die „Alpensinfonie“ erklang dann dann zwar erst ein halbes Jahrhundert später, aber spiegelte immer noch das elementare Naturerlebnis wider. Zwar hat sich Strauss gegen die landläufige Begriffszuschreibung einer „Programmmusik“ gewehrt und darauf bestanden, dass der Titel höchstens eine vage poetische Grundlage böte, doch die Bezeichnungen der einzelnen Teile dieses einsätzigen Werkes sprechen dagegen, geben sie doch Erlebnisse wieder wie „Sonnenaufgang“, „Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen“ oder „Gewitter und Sturm; Abstieg“. Wer dem Werk genau folgt, kann auch tatsächlich die einzelnen Befindlichkeiten gemäß den Untertiteln erkennen. Strauss entwirft damit ein weit ausholendes, die Naturgewalten feierndes Klanggemälde, das sowohl Bewunderung wie auch Ehrfurcht und unmittelbare Furcht ausdrückt. Von der lyrischen Stimmung „auf blumigen Wiesen“ bis zur „Stille vor dem Sturm“ sind alle Gefühlsregungen vertreten. Dabei zieht Strauss alle instrumentalen Register. Nicht nur erweitert er das Orchester bis auf 125 Mitglieder – ob das bei jeder Aufführung möglich ist, ist eine andere Frage -, sondern er spaltet auch noch ein „Fernorchester“ aus Bläsern ab, das zwischendurch aus dem Bühnenhintergrund wie ein fernes Echo spielt. Bei der Unwetterszene kommen eine echte Windmaschine, eine Donnermaschine, Glockenspiel und Kuhglocken hinzu. Einige Passagen, so der Anfang, klingen wie Wagner-Musik, der „Gang über den Gletscher“ wird mit dem Klirren des Eises unterlegt, und in der „Stille vor dem Sturm“ hört man eine einzelne, ängstliche Vogelstimme.
Das Orchester des Staatstheater konnte und musste hier sein gesamtes Intonationspotential ausspielen. Das gilt nicht nur für die expressiven Stellen, in denen die Lautstärke so manches Trommelfell auf seine Widerstandsfähigkeit prüfte, sondern durchgehend, denn auch in den lyrischen oder verhaltenen Phasen entfaltet Strauss einen wahren Klangzauber, den ein Orchester erst einmal überzeugend in Szene setzen muss. Vor allem die Blasinstrumente waren immer wieder mit herausragenden Einzelauftritten gefordert, seien es die Flöten, die Klarinetten oder die Bläser. Alle meisterten diese Einzelauftritte souverän und mit hoher Präzision. Dazu kam das für dieses Stück erweiterte Schlagzeugtruppe, die vor allen in den expressiven Teilen ihre Fähigkeiten bewiesen.
Wenn am Ende die Musik in derselben Nachtstimmung versinkt, die bereits den Anfang markiert hat, findet ein dramatischer musikalischer Tagesablauf sein Ende. Die letzten Töne verklingen so sanft, dass man sie kaum hört.
Das Publikum spendete dem gesamten Ensemble lang anhaltenden, kräftigen bis begeisterten Beifall.
Frank Raudszus
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