Frisches Autorentheater der Jugend
Der Jugendclub des Staatstheaters Darmstadt präsentiert die eigene Szenenfolge „Zoom“
Im Jugendclub des Staatstheaters Darmstadt sammeln sich junge Schauspieltalente im Alter zwischen zwölf und achtzehn Jahren. Hier lernen die Jugendlichen die ersten Schritte auf der Bühne und die Kunst, sich vor einem erwartungsvollen oder gar kritischen Publikum sicher zu bewegen. In den letzten Jahren hat der Club bemerkenswerte Inszenierungen gezeigt, so im April 2011 das Stück „turista“. Da sich aufgrund des jugendlichen Alters der Darsteller das Ensemble ständig verändert, muss die Leitung des Jugendclub in jedem Jahr fast wieder von vorne anfangen.
Im letzten Herbst hatte sich Monika Reichle, zuständig für die Theaterpädagogik, etwas Besonderes ausgedacht. Sie bat alle Mitglieder des Jugendclubs, sich gedanklich in ein Hochhaus mit seinen weitgehend anonymen Bewohnern zu versetzen und sich eine eigene Figur auszudenken. Ein vorgegebenes Stück oder auch nur einen losen Handlungsrahmen gab es nicht. Die Bandbreite der Rollenvorschläge aus dem Kreis der Jugendlichen war wider Erwarten so groß, dass allein schon dieses Personal-Tableau eine gute Basis für eine Handlung abgab. Das Handlungsgerüst entwickelten die jungen Darsteller dann weitgehend eigenständig unter Anleitung von Monika Reichle. Man kann hier also tatsächlich von „Autorentheater“ sprechen.
Das Stück zeigt zu Beginn die einzelnen Charaktere alleine oder in der Interaktion untereinander. Da ist der fiese Fotograf, der junge Mädchen aus naheliegenden Gründen zum „photo shooting“ einlädt, um sie dann entweder im Stile Dieter Bohlens fertigzumachen oder als Tänzerin in seinem billigen Nachtclub zu engagieren. Seine Sekretärin passt mit ihrer ordinären Art in diesen viertelseidenen Betrieb genau hinein. Dann sind da junge Mädchen, die von der Model-Karriere träumen und nicht merken, dass sie nur ausgenutzt werden. Eine andere junge Frau stilisiert sich als hoch sensible Künstlerin, ohne wirklich zu wissen, was das ist. Ein junger Mann wiederum gräbt alle Mädchen mit demselben uralten Trick an, leider mit Erfolg. Eine junge Studentin sieht aus wie eine zukünftige Nonne und tritt auch entsprechend ernst und zurückhaltend auf, studiert aber in Wirklichkeit Mathematik. Der junge Jonathan wiederum will seiner überbehütenden Mutter entfliehen, seine spontane Freundlichkeit grenzt jedoch an Naivität und wird entsprechend verspottet. Dem schüchternen Filialleiter läuft die Frau davon, weil er keine Karriere macht, und die selbstbewusste Karrierefrau erwartet zu ihrem Schrecken ein Kind von ihrem verheiratetetn Chef. Ein ständig schimpfender Hausmeister mit Tattoos und Knastvergangenheit rundet das Bild dieser Belegschaft ab.
Alle diese Personen leiden unter persönlichen oder beruflichen Problemen und träumen von Erfolg, Anerkennung oder Liebe. Um diese Träume zu einem Handlungsfaden zu verbinden, haben sich die jungen Theatermacher einen dramaturgischen Trick einfallen lassen. Auf einer erhöhten Galerie siedeln sie sechs höhere Wesen in blonden und schwarzen Perücken an – man könnte sie altmodisch auch „Feen“ nennen -, die das Treiben der gebeutelten Hochhausbewohner beobachten und schließlich eingreifen. Per Händeklatschen halten sie eine bestimmte Szene an und rearrangieren sie derart, dass der oder die Ausgenutzte, Gedemütigte sich wehrt und seinem jeweiligen Peiniger die Leviten liest. Jonathan lehnt die von seiner Mutter – aus lauter Fürsorge – vorgefertigten Zukunftspläne ab und studiert stattdessen. Die junge Frau lässt sich von dem Vorstadt-Casanova nicht mit billigen Komplimenten einwickeln sondern lässt ihn abblitzen. Der Filialleiter emanzipiert sich und wirft seine Frau hinaus, als die sich nach doch noch erfolgtem Karrieresprung wieder bei ihm einnisten will. Diese übernatürlichen Wesen wirken natürlich in gewisser Weise als „deus ex machina“ und erfüllen damit den uralten Wunsch eines jeden Publikums, dass am Ende das Gute siegen möge und das Böse bestraft werde. Doch es geht hier nicht um die Kaschierung von Problemen durch ein billiges „happy end“, sondern die guten Feen dienen eigentlich nur als Anregung, wie man in bestimmten Situationen auch reagieren könnte und dass man mehr Mut haben sollte, auch einmal klar seine Meinung und notfalls „nein“ zu sagen.
Um den Rollencharakter zu verdeutlichen, legen alle Darsteller in der ersten Szene zusätzlich zu ihrem Kostüm irgendein Kleidungsstück an, das die jeweilige Rolle kennzeichnet. Dabei ist weniger die Aussage dieses Accessoires wichtig sondern als vielmehr sein Vorhandensein. Am Schluss, wenn alle Rollenspiele durchlaufen sind, legen die Darsteller diese Zusätze wieder ab und erklären damit das „Lehrstück“ – so könnte man es durchaus nennen – für beendet.
Die Inszenierung lebt von der Vielfalt der Charaktere und dem – komischen oder ernsten – Witz der jeweiligen Situation. Allen Situationen ist dabei unabhängig von ihrem punktuellen sozialen oder psychischen Ernst ein Humor unterlegt, der alles auf die Ebene menschlicher Schwächen zurückführt. Dadurch gewinnt die Inszenierung an Leichtigkeit und Tempo. Vor allem die typischen Macho-Allüren des Fotografen und des „Aufreißers“ sorgen für spontane Lacher, aber auch die Zickigkeit so mancher jungen Frauenfigur, die in Illusionen schwelgt. Zusätzlich haben die Darsteller ihre vorhandenen musikalischen Fähigkeiten eingebracht. Zu Beginn spielt der Darsteller des eckigen Filialleiters bekannte Pop-Nummern auf dem Flügel, und gegen Ende mutiert die Inszenierung zum veritablen Musik-Varieté, wenn eben dieser Filailleiter ein freches Chanson zur Begleitung eines aufgepeppten Tänzerinnen-Chors singt. Die jungen Mädchen rekeln und biegen sich dabei in engen Kostümen auf der Bühne oder am Rande der Zuschauertribüne wie professionelle Varieté-Tänzerinnen. Das gibt natürlich spontanen Szenenapplaus. Der fiese Fotograf, der dank dem Eingriff der guten Feen unfreiwillig eine große Party schmeißen muss, bedankt sich durch einen Song im Stil Udo Lindenbergs, in den er frech auch die Zuschauer in der ersten Reihe mit einbezieht.
Alle Darsteller zeigen durchaus respektable Leistungen, wobei die eine oder der andere besonderes schauspielerisches Talent zeigt. Wie auch in früheren Jahren kann es durchaus sein, dass einige dem Theater treu bleiben, den Schauspielberuf ergreifen und vielleicht gar beim Staatstheater Darmstadt landen. Auf jeden Fall hat es aber allen Darstellern offensichtlich sehr viel Spaß gemacht, und ihre Professionalität zeigten sie in dem Moment, als eine Zuschauerin in der ersten Reihe wegen einer Kreislaufschwäche hinausgeführt werden musste. Souverän spielten sie über diesen kleinen Zwischenfall hinweg – und der Dame ging es draußen bald wieder besser.
Weitere Aufführungen am 23. und 19. April sowie am 6. 13. und 20. Mai.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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