Brian Clegg: „Vor dem Urknall – Eine Reise hinter den Anfang der Zeit“
Ein Bestandsaufnahme der derzeitigen Theorien über die Entwicklung des Universums
Entstehung und Geschichte des Universums haben die Menschen seit je fasziniert, und letztlich sind „Sonne, Mond und Sterne“ Anlass für die Gründung von Religionen und Mythen aller Art gewesen. Die Antike und das Mittelalter verfügten dabei über ein statisches, geo-zentrisches Weltbild, bei dem die Himmelskörper mehr oder minder Bestandteile eines festgefügten Himmelsgewölbes waren. Erst die Erfindung des Fernrohrs ermöglichte einen detaillierteren Blick zumindest auf die Planeten und führten zu der Idee, hierbei handele es sich um Himmelskörper ähnlich wie die Erde.
Im 20. Jahrhundert schließlich entdeckte man weitere Galaxien neben der Milchstraße, die man lange Zeit für das Universum selbst gehalten hatte. Als man dann noch aufgrund der „Rotverschiebung“ aller fernen Galaxien deren „Flucht“ nach außen und damit der Expansion des Weltalls auf die Spur kam, entwickelte sich geradezu zwangsläufig die Rückrechnung dieser Bewegung auf einen Anfang. Denn die gleichförmige Expansion in alle Richtungen lässt eindeutig auf einen Beginn von einem zentralen Punkt aus schließen. Damit war die Idee vom „Urknall“ geboren.
Brian Clegg ist Naturwissenschaftler an der Universität Cambridge und beschäftigt sich intensiv mit allen Problemen und Fragestellungen um das Universum und seine Entstehung. In dem vorliegenden Buch fasst er die Entwicklung der Kosmologie mit dem Schwerpunkt auf die Entstehung des Universums zusammen und beleuchtet die „Glaubenskriege“, die sich bei einem solch elementaren Thema zwangsläufig ergeben. Er verzichtet darauf, neue Theorien aufzustellen, wie etwa Martin Bojowald in „Zurück vor dem Urknall“, fühlt sich andererseits aber auch keiner der bestehenden Theorien verpflichtet. Das Hauptziel dieses Buches besteht darin, die unterschiedlichen Theorien, ihre Begründungen und ihren Stand in der Diskussion zu beleuchten. Der besondere Wert des Buches besteht darin, dass er auch gängige und scheinbar etablierte Hypothesen hinterfragt und ihren spekulativen Charakter betont.
Zu letzteren gehört die Urknall-Theorie, deren historische Entwicklung Brian Clegg detailliert nachzeichnet. Die Vertreter dieser Theorie stammten anfangs vorwiegend aus den USA und mussten gegen die Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende – britische! – Theorie des „steady states“ antreten. Zwar wussten deren Verfechter auch schon von der Expansion des Weltalls, doch sie interpretierten sie eher als eine stetig sich wiederholende Folge von Kontraktion und Expansion, wobei sie die bekannte „dunkle Materie“ als sich stetig selbst neu erschaffende Materie definierten. Die berechtigte Frage nach dem Ursprung dieser Materie konnten sie zwar nicht beantworten, aber auch die Urknall-Verfechter konnten das für ihre plötzliche Erschaffung des massereichen Universum aus dem „Nichts“ nicht leisten. Zwar gewannen sie die Theorie-Schlacht, da ihr Modell besser durch die Mathematik und die gemessenen Werte zu erklären war, aber auch sie mussten zu Hilfskonstrukionen greifen, um die schnelle Expansion besonders in der Anfangsphase zu erklären.
Heute gilt die Urknall-Theorie zwar als halbwegs gesicherte Erkenntnis, aber Clegg zeigt deutlich, dass dahinter bereits neue Theorien lauern, die vor allem die Frage nach dem „Vorher“ zu beantworten versuchen. Zwar statuitierten viele Wissenschaftler, dass mit dem Urknall auch die Zeit – gemäß unserem Verständnis – entstanden sei und dass daher eine Frage nach der Vorgeschichte des Urknalls gegenstandslos sei, doch auch das ist nur eine willkürliche Behauptung, die sich nicht beweisen lässt. Sie klingt ein wenig danach, als wolle man alle Probleme, die man nicht lösen kann, als nicht existent betrachten. Clegg verdeutlicht auch unmissverständlich, dass keine der Theorien über die Entstehung des Universums beweisbar ist, da wir über keinerlei Beweise aus dieser Zeit verfügen (schließlich war niemand dabei!). Alle Theorien beruhen auf mathematischen Modellen, die durchaus nachvollziehbare Belege für die heutige Expansion des Universums liefern. Extrapoliert man diese Modelle in die Vergangenheit, so landet man irgendwann – rein mathematisch – beim Urknall oder einem ähnlichen singulären Ereignis. Bojowald hat die Singularität über die Quantentheorie aufgelöst und damit ein „Vorher“ ermöglicht, doch auch das ist nur eine weitere, wenn auch starke Hypothese.
Aufschlussreich dabei ist die Tatsache, dass alle mathematischen Modelle erst bei der Annahme weiterer Dimensionen über die uns bekannten drei bzw. vier – die Zeit – wirklich belastbare Aussagen ergeben. Das führt zwangsläufig zu der Frage, was sich in den weiteren Dimensionen abspielt. Viele Wissenschaftler greifen dabei den Ansatz multipler Universen in anderen Dimensionen auf, die parallel existieren aber voneinander durch Singularitäten getrennt sind. Teilweise liegen diese Universen in einer höheren Dimension in einem unmessbar kleinen Abstand nebeneinander, was für den normalen Menschenverstand nicht mehr nachvollziehbar ist.
In diesem Zusammenhang kommt Clegg auch auf die Theorie der „Strings“ zu sprechen, die angeblich kleinsten Bestandteile aller Materie, die jedoch auch wieder nur Modellcharakter aufweisen und bisher noch nicht nachweisbar waren (womit auch?). Diese Theorie führt wiederum zur leicht abgewandelten M-Theorie, die letztlich eine Erklärung für den scheinbaren Urknall liefern soll. Demnach sind die verschiedenen Universen durch sogenannte „Membrane“ einer höheren Dimension getrennt, durch die Masse von einem Universum ins andere wandern und diese damit aufblähen kann.
Clegg zeigt, dass die Erforschung des Universums erst am Anfang steht und noch viele Widersprüche und – scheinbare? – Paradoxien zu überwinden hat. Dazu gehört die Frage nach dem Wesen der Schwarzen Löcher und den Zuständen an ihren „Ereignishorizonten“ genauso wie die, ob Schwarze Löcher – als sogenannte „Wurmlöcher“ – den Übergang zwischen verschiedenen Universen darstellen könnten.
Am Ende schließt man das Buch – und alle Fragen bleiben offen. Der Leser weiß am Ende gleichzeitig mehr und weniger als vorher, denn Clegg stellt scheinbare Gewissheiten in Frage, ohne neue anzubieten. Aber es ist schließlich auch nicht die Aufgabe von Naturwissenschaftlern, Gewissheiten zu schaffen, sondern Fragen zu stellen und Hypothesen zu falsifizieren. Wenn dies gelingt – umso besser! Die große Stärke dieses Buches besteht in dem klaren verständlichen Stil, der trotz aller Klarheit nie ins rein Populärwissenschaftliche oder gar Reißerisch-Fiktionale abgleitet. Clegg gelingt es, den hochkomplexen und kaum verständlichen Sachverhalt auch ohne Mathematik so übersichtlich darzustellen, dass auch Laien eine ferne Ahnung von dem Aufbau des Universums erlangen. Allerdings sollten sie dazu über ein solides Grundwissen auf diesem Gebiet verfügen, denn ohne diese ist ein auch nur annäherndes Verständnis nicht möglich.
Das Buch „Zurück vor den Urknall“ ist im Rowohlt-Verlag unter der ISBN 978-3-498-00939-7 erschienen, umfasst 345 Seiten und kostet 19,95 €.
Frank Raudszus
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