Trotz schottischem Motto keine Klangsparsamkeit
Das 5. Sinfoniekonzert des Staatstheaters Darmstadt präsentiert ein kontrastreiches Programm
Das 5. Sinfoniekonzert wartete gleich mit mehreren Besonderheiten auf. Erstens gab Martin Lukas Meister sein Debut als firschbestallter Generalmusikdirektor – wenn auch als Übergangskandidat nach den unerquicklichen Ereignissen des letzten Vierteljahres. Zweitens bestand das Programm aus zwei sinfonischen Werken der Romantik und – als Mittelteil – dem Violinkonzert von Béla Bartók aus dem Jahr 1939 – fast hundert Jahre nach der Entstehung der beiden anderen Werke. Drittens spielte Olga Pogorelova, die erste Konzertmeisterin des hauseigenen Orchesters, den Solopart des Violinkonzertes. Man war also gespannt auf dieses Konzert, und so war das große Haus am Sonntagmorgen wieder einmal so gut wie ausverkauft.
Am Anfang des Programms stand die Ouvertüre „Chevy Chace“ des Schotten George Alexander Macfarren (1813-1887) aus dem Jahr 1836, die dieser in Vertretung des eigentlich Verantwortlichen in kürzester Zeit buchstäblich aus dem Boden stampfen musste. Später Lohn für diese Leistung ward ihm von seinem „Konzert-Kollegen“ Felix Mendessohn-Bartholdy zuteil, als dieser einige Jahre später seine Ouvertüre in sein Konzertprogramm aufnahm. Das Stück zeigt deutliche Anklänge an die auf der britischen Insel so beliebte Jagdmusik. Es beginnt mit Hörner-Fanfaren im Frage-Antwort-Stil und geht dann in gefälligere Streicherpassagen über, die streckenweise an Mendelssohn (sic!) erinnern. Fülliger Orchesterklang und lebhaftes Tempo lassen den Jagdcharakter lebendig werden. Zwischendurch erinnert ein markantes, rhythmisches Hornsignal an Beethoven. Man merkt, dass Macfarren sich viele Anregungen von der kontinentaleuropäischen Musik seiner Epoche geholt hat. Beethoven war erst acht Jahre tot, und Mendelssohn stand in der Blüte seiner Karriere. Das Orchester folgte den konzentrierten Anweisungen des neuen GMD mit Temperament und Aufmerksamkeit und verdiente sich mit diesem frischen Auftakt des Programms den ersten Beifall des Publikums.
Béla Bartóks Violinkonzert Nr. 2 entstand auf ausdrücklichen Wunsch des ungarischen Geigers Székely, der mit diesem Erfolg seiner Bitte gar nicht gerechnet hatte. Bartók ist bekannt für seine Vorliebe volksnaher Melodien, die er in jahrelanger Arbeit selbst recherchierte und in seiner Musik verarbeitete. Obwohl er nach neuen musikalischen Wegen suchte und sich gegen die Hochromantik eines Richard Strauss absetzen wollte, blieb er der herkömmlilchen Tonalität weitgehend treu, obwohl er in seine Musik andere, etablierte Tonsysteme einbrachte. Seine Musik wirkt auf eigenartige Art authentisch, da sie auf die große Geste verzichtet und eher dem Klang des einfachen Liedes und kurzen Motivs nachspürt.
Das lässt sich auch im 2. Violinkonzert erkennen. Bartók verzichtet auf das markante, wiedererkennbare Thema, wie es in der Klassik und auch noch in der Romantik üblich war. Stattdessen löst er den Gang der Musik in viele kleine Motive und Figuren auf, die er, ähnlich wie im Jazz, laufend variiert. Dadurch entsteht der Eindruck einer freien Improvisation des Solisten. Wer dem unermüdlich auf- und abführenden Vortrag der Violine genau folgt, entdeckt tatsächlich Parallelen zum Jazz des 20. Jahrhunderts, wenn man von der anderen Rhythmik einmal absieht. Der Violinpart ist eng mit dem Orchesterpart verwoben. Hier erhebt sich nicht ein strahlendes Solo-Instrument über die Niederungen der Orchestermusik, sondern man musiziert gemeinsam, und die Violine ist nur „prima inter pares“. Das heißt jedoch nicht, dass sie nur die Rolle einer ersten Geige spielt. Der Violinpart ist sowohl technisch als auch tonal außerordentlich anspruchsvoll und fordert vom Solisten hohes Können und eine gute Kondition, da es bei dem Solo-Vortrag nur wenige kurze Pausen für die Violine gibt. In diesen Pausen setzt das Orchester jeweils zu einem expressiven Zwischenspiel an, bei dem das Schlagzeug und die Hörner eine wichtige Rolle spielen. Die Violin-Soli vor allem des ersten Satzes sind oft mit so intensiven wie zarten Ostinati der Streicher unterlegt, die dem Ganzen eine besondere Spannung verleihen. Höhepunkt des ersten Satzes ist ein ausgedehntes Solo der Violine, bei dem Olga Pogorelova ihr ganzes Können sowohl hinsichtlich der Technik als auch der Intonation zeigte. Die rhythmischen Schwierigkeiten dieser Kadenz meisterte sie mit Bravour, ohne dabei den Sinn für den Klang zu verlieren.
Der zweite Satz, ein „Andante tranquillo“, zerfällt in zwei Teile. Nach einen langsamen, lyrischen Beginn schwingt sich die Musik zu spannungsvoller Expressivität auf, um dann am Ende des Satzes wieder zu einem langsamen Tempo zurückzukehren. In diesem Satz hatte Olga Pogorelova vor allem die Gelegenheit, ihre Intonation auch der zarten Töne zu präsentieren. Der dritte und letzte Satz kehrte dann wieder zurück zu einer ähnlichen Expressivität wie der erste. Lange Figurenketten der Violine und ein damit dicht gekoppeltes Spiel des Orchesters prägen diesen Satz, den das Ensemble und die Solistin wie aus einem Guss vortrugen.
Der begeisterte Beifall des Publikums war nicht nur auf Lokalpatriotismus zurückzuführen, obwohl der sicherlich auch eine Rolle spielte, sondern galt zu Recht einer herausragenden Interpretation dieses schwierigen und teilweise sperrigen Solokonzerts. Olga Pogorelova gab aufgrund des starken Beifalls noch eine Zugabe, eine Stück für Violine solo ebenfalls von Béla Bartók, dessen genaue Bezeichnung leider der leisen Stimme der Solistin zum Opfer fiel. Hier konnte sie noch einmal – befreit vom Druck des begleitenden Orchesters – ihr gesamtes technisches und interpretatorisches Können beweisen. Dabei war im ganzen Saal kein einziger Husten zu hören – eine Seltenheit bei einem Konzert! Die letzten Töne verklangen so leise, das man sie nur mit Mühe hören konnte, verloren aber bis zum Schluss nicht die Spannung.
Den Abschluss des Konzertprogramms bildete Felix Mendelssohn-Bartholdys 3. Sinfonie in a-Moll, die sogenannte „Schottische“. Der erste Satz erinnert zeitweise an ein Unwetter, wenn das Orchester einen auf- und abheulenden Klang intoniert. Man fühlt sich dabei an die schroffen Felsen der schottischen Küste bei schwerem Sturm versetzt. Im zweiten Satz ertönt ein Signal der Hörner, und dann erklingt ein markantes Motiv, das an den „Sommernachtstraum“ erinnert. Leicht und verspielt wirkt dieser Satz, eher italienisch als schottisch, aber die Bezeichnungen der Sinfonien sind sowieso eher zufällig und stammen nicht vom Komponisten selbst. Der dritte Satz wirkt in seiner orchestralen Dichte wie ein einziger, kompakter Choral und scheint den Rückzug aus dem Verspielten in den Ernst der Religion widerzuspiegeln. Der Finalsatz setzt dagegen wieder auf Tempo und extrovertierte Orchestrierung, die Lebensfreude und Optimismus versprüht. Mendelssohns durchquert mit dieser Sinfonie die ganze Bandbreite menschlicher Gefühle und Befindlichkeiten, und das Orchester unter der Leitung von Martin Lukas Meister folgte ihm auf dieser Reise mit Begeisterung und viel Spielfreude. Auch hier kamen wieder die Schlagzeuger in der letzten Reihe und die Bläser davor besonders zur Geltung. Sie meisterten ihre Aufgaben wieder einmal hervorragend, und der Klang der Klarinetten, Flöten, Fagotte, Oboen und Hörner blieb noch lange nach dem Schlussakkord im Raum und in den Köpfen der Besucher hängen.
Frank Raudszus
No comments yet.