Sieben Personen zerfleischen einen Autor

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Der

Georg Büchners Flugblatt „Der Hessische Landbote“ (zum Zoomen bitte anklicken)

Gaston Salvatores Einakter „Büchners Tod“  als szenische Lesung im Staatstheater Darmstadt.

Am 19. Februar 1873, vor 175 Jahren also, verstarb Georg Büchner im Züricher Exil an einer Typhuserkrankung. Vorher hatte er sich der Verhaftung wegen „staatsverräterischer Handlungen“ durch die Flucht entzogen. Der Chilene Gaston Salvatore – Jurist, Ökonom und Schriftsteller – kam 1969 nach Deutschland und erlebte als Freund Rudi Dutschkes die bewegten Jahre der APO und der aufkommenden RAF. In „Büchners Tod“ geht er der Frage nach der Binnenstruktur revolutionärer Zellen am Beispiel des hessischen Rebellen und Dichters nach. Die ursprünglich geplante Inszenierung als Theaterstück musste einer szenischen Lesung weichen, da der Autor die um verschiedene inhaltliche Elemente – so den „Hessischen Landboten“ – erweiterte Fassung nicht freigab. So erarbeitet der Dramaturg Reinar Ortmann vom Staatstheater Darmstadt die Aufführung in Form einer Lesung. Mit dieser Inszenierung gedenkt das Staatstheaters auch seiner eigenen Eröffnung am 7. Oktober 1972, bei der ebenfalls „Büchners Tod“ auf dem Programm stand.

In Salvatores Stück liegt Georg Büchner in Zürich auf den Tod darnieder. Im Fieber deliriert er und verwechselt die um ihn versammelten Freunde und Ärzte mit anderen und wähnt sich selbst im Gefängnis. Den behandelnden Arzt hält er für den Richter Georgi, der ihn in Gießen verhört hat und ihn per Steckbrief sucht, die Nachbarn, die ebenfalls aus Deutschland geflohen sind und ihn pflegen, verwechselt er mit ehemaligen politischen Weggenossen, die mitterweile im Gefängnis sitzen, dort unter Folter ausgesagt haben oder anderweitig im politischen Streit mit Büchner lagen. Unter letzteren war auch der Pfarrer Weidig, der beim Kampf gegen die Willkür der Obrigkeit eher auf Reformen mit der Unterstützung der Liberalen setzte, während Büchner den revolutionären Kampf mit dem Ziel des Umsturzes predigte.
In seinen Fieberphantasien rechnet Büchner vor allem mit seinen internen Widersachern ab, wirft ihnen abwechselnd Inkonsequenz, Feigheit und Verrat vor, während sich die so angeklagten imaginären Gegner verteidigen oder gar zum ideologischen Gegenschlag ausholen. Die thematische Nähe zu den radikalen Studenten der frühen siebziger Jahre liegt nicht nur auf der Hand, sie ist offensichtlich beabsichtigt. Salvatore legt am Beispiel Büchner die Sollbruchstellen revolutionärer Bewegungen frei. Misserfolg und polizeiliche Verfolgung bewirken einen psychischen Stress, der sich bei jedem Einzelnen auf individuelle Weise entlädt, wobei jedoch die politischen oder ideologischen Leitlinien aus einer allgemeinen Identitätsloyalität heraus eingehalten werden. Die unmittelbare Gefahr des eigenen politischen oder gar physischen Endes ist nur auf der Basis eines Glaubenssystems zu ertragen. Revolutionäre können den Rubikon nicht mehr in Gegenrichtung überschreiten, ohne die eigene Identität zu verraten. So werfen sie sich gegenseitig Abweichlertum, Feigheit oder mangelnde Konsequenz vor. Denn der finale Misserfolg ist vor allem im ideologischen Feld nicht zu ertragen, weil damit automatisch die „absolute Wahrheit“ in Frage gestellt ist.
Die Vorwürfe und Erkenntnisse des delirierenden Büchner sind aufgrund ihrer verzweigten Argumentation und spontanen Ausbrüchen nur schwer nachzuvollziehen. Hier überlagern sich mehrere Ebenen: zum Einen springt Büchners Zuordnung der ihn real umgebenden oder der hinzuphantasierten Personen hin und her, zum Anderen springen ihn auch die Vorwürfe und Erinnerungen plötzlich und unvermutet an, wie es im Fieber halt vorkommt. Der Zuschauer muss bald den Versuch aufgeben, eine durchgehende Argumentationslinie oder gar eine konsequente ideologische Struktur zu erkennen. Er wird zum Zeugen einer doppelten Auflösung: die eines schwer erkrankten Organismus´ und seiner geistigen Substanz und die einer politischen Gegenbewegung. Die eine ist real und geht konsequent dem Exitus entgegen, die andere ist latent vorhanden und erstreckt sich über ein wesentlich größeres räumliches und zeitliches Terrain. Büchners Genossen saßen in deutschen Gefängnissen oder waren diesen mit Glück oder durch erpresste Aussagen entronnen. Er kann sie – im Stück – nur noch in einem fiktiven letzten Gespräch zusammenrufen und das Geschehene einschließlich Schuldzuweisungen in beiden Richtungen Revue passieren lassen. Das zeitliche Terrain erstreckt sich bis in die Zeiten des „deutschen Herbstes“, dessen Laub sich Anfang der siebziger Jahre noch nicht bis zum letzten, dunklen Rot verfärbt hatte.

Georg Büchners SteckbriefBüchner muss sich nicht nur der Vorwürfe seiner imaginierten Freunde erwehren und beschränkt sich nicht auf Gegenvorwürfe. Er erkennt in letzter Klarsichtigkeit auch die intellektuellen Fehleinschätzungen, denen die meisten Revolutionäre erliegen. Unvermittelt bricht sich die Einsicht Bahn, dass die Naturwissenschaft – für Büchner hauptsächlich Medizin und Chemie – zu wesentlich radikaleren Änderungen des gesellschaftlichen Zustands führt als es eine revolutionäre Bewegung je leisten kann. Wissenschaft und Technik ändern tatsächlich die Welt und die Bedingungen für menschliches Leben, Revolutionäre wollen immer nur letztere ändern. Ihre Tragik liegt darin, dass ihre von hohen Ideale beseelten Aktionen an einer sich schnell ändernden Realität zerschellen. Das lässt sich gut an der Tatsache belegen, dass Revolutionen bisher nur in rückständigen Gesellschaften erfolgreich waren. Russland 1917 und Kuba lassen grüßen. Industrialisierte Gesellschaften mit hohem Innovationsgrad saugen das revolutionäre Potential buchstäblich auf und aus, bis es verschwunden ist.
Das Stück endet denn auch – konsequent – mit dem Tod: real Büchners, im übertragen Sinn der Revolution. Bis zum Schluss wogen die Anklagen und Verteidungsreden hin und her, um nach Büchners Tod plötzlich zu versiegen. Das Licht verlischt, der – imaginäre – Vorhang schließt sich und alle revolutionären Fragen bleiben offen.
In den Kammerspielen tragen sieben Schauspieler Gaston Salvatores Text vor, teilweise in Doppelrollen. Sie sitzen dabei an alten Schulbänken, wie sie Georg Büchner schon gedrückt haben mag, und wechseln je nach Rollenzuordnung und Szenerie die Plätze. Ein Stehpult im Hintergrund symbolisiert die Obrigkeit, die von oben Wesentliches verkündet. Tom Wild spielt den delirierenden Büchner, verzichtet jedoch bewusst auf jegliche Darstellung eines Fieberkranken. Seine Texte leben mal von der Schärfe des politischen Arguments, dann wieder von der ernüchternden Erkenntnis der Sinnlosigkeit oder von dem Wunsch, mit sich und der Revolution im Reinen zu sein. Seine Mitspielerinnen und Mitspieler machen es ihm – Büchner, nicht Wild! – schwer. Heinz Kloss befleißigt sich als Richter Georgi eines aggressiven, ja zynischen Tons; Harald Schneider und Gerd K. Wölfle fahren in wechselnden Rollen ihrerseits schwere Geschütze auf; Karin Klein versucht als Büchners Freundin, den Fiebernden zu beruhigen; Klaus Ziemann und Gabriele Drechsel widersprechen in ihren Rollen ebenfalls den Vorwürfen – und Selbstvorwürfen! –  des Sterbenden.
Die Beschränkung auf die szenische Lesung erschwert den Zuschauern den Überblick, da die einzelnen Rollen sich nicht durch die Art ihres Auftretens – bis hin zur Kostümierung – unterscheiden. Mehr oder minder muss der Zuschauer die Handlung im Kopf nachvollziehen, da ihm die Bühne keine Stütze ist. Das mag die Verfolgung der einzelnen Szenen einschränken, den Gesamteindruck einer sterbenden revolutionären Bewegung – und nur um den geht es hier – mindert es jedoch nicht.
Das Premierenpublikum spendete dem Ensemble freundlichen Beifall.
Frank Raudszus Weitere Aufführungen:   10.,19. und 27. 2.2012

 

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