Das Staatstheater Darmstadt frischt Christoph Willibald Glucks Oper „Orpheus und Eurydike“ auf
Von Glucks Vertonung des alten griechischen Musik-Mythos sind vor allem zwei Melodien im Ohr: der konzertante „Tanz der seligen Geister“ und Orpheus´ berühmtes Klagelied aus dem dritten Akt. Beide Stücke belegen dank ihrer ausgeprägten melodischen Schönheit nicht zuletzt in Wunschkonzerten und musikalischen „Best-Ofs“ aller Art einen festen Platz in der ewigen Liste der Publukumslieblinge. Die üblichen Inszenierungen bedienen denn auch die Publikumserwartungen mit seidigen Streichern, ausgeprägtem Legato und warmem Orchesterklang.
Ganz anders dagegen bereits die Ouvertüre in Darmstadt, die fast wie eine Rückbesinnung auf eine „historische Aufführungspraxis“ klingt, wie immer diese sich angehört haben mag. Das Orchester im erhöhten Graben spielt sichtbar vor aller Augen in deutlich ausgedünnter Kopfzahl. Dadurch dringt jede einzelne Instrumentenstimme zum Ohr des Zuhörers durch und verleiht der Musik fast kammermusikalische Züge. Darüber hinaus geht Dirigent Markus Lukas Meister auch äußerst sparsam mit dem Legato um. Fast wie in einer Bachschen Klavierfuge setzt er die einzelnen Töne voneinander ab und schafft damit eine gesammelte, ja fast spröde Atmosphäre, die zu dem letztlich ernsten Stoff wesentlich besser passt als die lyrisch-gefühlige Art, in der diese Musik gerne gespielt wird. Mag sein, dass diese strenge Auffassung dem einen oder anderen Besucher nicht gefällt, sie spiegelt jedoch auf einer zweiten Ebene die Reform wider, die Gluck mit dieser Oper dem gesamten Opernwesen seiner Zeit angedeihen ließ. Damals fühlte sich der höfische Adel durch die ernsthafte Abhandlung allgemein menschlicher Befindlichkeiten unabhängig von aktuellen Konventionen unangenehm berührt.
Glucks Reform beginnt schon beim Libretto von Raniero de´Calzabigi, das nur zwei Protagonisten und eine Nebenrolle – Amor – kennt. Die Handlung läuft nicht über mehrere Seitenzweige sondern dreht sich ausschließlich um den Mythos um Orpheus und Eurydike, den Gluck gemäß dem Libretto gradlinig und mit Betonung der menschlichen Emotionen in Musik umsetzt. Die Arien und Duette beklagen nicht irgendein von den Göttern auferlegtes, abstraktes Schicksal sondern ganz konkret die Missverständnisse und Leiden eines liebenden Paares. In Glucks Oper wird Eurydike zu einer Frau, die sich von ihrem Geliebten missachtet und verlassen wähnt und dagegen mit allen verbalen und psychologischen Mitteln einer Frau vorgeht, während Orpheus, von der Last einer schwierigen, ja unmöglichen Aufgabe gebeugt, ihr keine Antwort geben darf. Laut Mythos hat Orpheus mit seiner schönen Stimme so eindringlich über den Tod seiner Frau Eurydike geklagt, dass die Herrscher der Unterwelt sich erweichen ließen und ihm erlaubten, Eurydike ins Reich der Lebenden zurückzuführen. Allerdings durfte er er sie während der Reise durch die Unterwelt weder ansehen noch mit ihr sprechen. Eurydikes Verzweiflung und Flehen lassen ihn jedoch schwach werden, und so muss Eurydike ein zweites Mal sterben. Gluck folgt jedoch dem Ritual des glücklichen Ausgangs und lässt Orpheus nicht von den Mänaden zerfleischen. Stattdessen hat Amor ein Einsehen, erweckt Eurydike noch einmal zum Leben und vereint die Liebenden.
Für die Inszenierung in Darmstadt ist Mei Hong Lin verantwortlich, die Leiterin des hiesigen Tanztheaters. Manchem Opernfreund mag dies ungewöhnlich vorkommen, aber die Barockoper lebte auch vor Gluck schon vom Tanz. Sie behandelte meist mythische Themen und diese eher allegorisch als konkret und diente hauptsächlich der Unterhaltung des höfischen Publikums. Da lag es nahe, die Szenen durch tänzerische Einlagen aufzulockern. Mei Hong Lin nutzt diese Tatsache zu einer wesentlich engeren Einbindung der tänzerischen Komponente in die Handlung. Der Tanz dient jetzt nicht länger der Auflockerung sondern der Interpretation der seelischen Befindlichkeiten durch die Körpersprache. Wenn Orpheus den Eingang zur Unterwelt betritt und vor deren Bewohnern sein Leid beklagt, steht er den Geistern der Toten gegenüber, die – mit schwarzen Umhängen bekleidet – der Klage über den ewigen Tod mit ausdrucksstarken Einzel- und Paarfiguren Ausdruck verleihen. Wenn Orpheus dann beginnt, um die Rückgabe seiner Geliebten zu flehen, folgt vom Chor jedes Mal ein barsches „No“, und die Tanztruppe setzt dieses „No“ jedes Mal in abrupte, ablehnende Figuren um. Später, wenn Orpheus die Hades-Herrscher erweicht hat, werfen die Toten erleichtert ihre schwarzen Umhänge weg und gehen zu fließenden, freudvollen Bewegungen über. Auf diese Weise folgt der Tanz dem Ablauf der Handlung und schafft neben dem Gesang und der schauspielerischen Darstellung der beiden Hauptdarsteller eine weitere Ebene des Ausdrucks für deren Gefühle.
Das Bühnenbild von Dirk Hofacker bildet einen strengen, fast antiken Rahmen mit zwei Ebenen. Während die Geister der Toten in der Unterwelt eine Pyramide aus farbigem Papier – grobkörnigem Konfetti nicht unähnlich – wie die Erinnerung an ein buntes Leben aufwühlen, spiegelt sich diese Pyramide auf einer Ebene darüber, in der die verstorbene Eurydike wie in einem Zwischenreich auf ihr weiteres Schicksal wartet. Bis zu ihrer ersten Wiederbelebung, die einem Triumphzug ähnelt, begleitet sie Klagen und Kampf ihres Geliebten wie eine ständige Mahnung und stellt gleichzeitig einen fernen, unsichtbaren Fluchtpunkt für Orpheus dar. Den Umschwung aus düsterer Verzweiflung zu freudiger Lebenserwartung verdeutlicht Hofacker durch helles Licht und eine Videoprojektion, die eine sonnendurchflutete Landschaft auf einen Gazevorhang wirft.
Auch ein wenig Humor gönnt Mei Hong Lin den Zuschauern in dieser ansonsten strengen und konsequenten Inszenierung. Amors Helfer sind als antike Soldaten kostümiert und amüsieren sich über die Liebesprobleme der Menschen gerne auch einmal bei Tanzeinlagen wie in einem Urlaubsclub. Der Chor tritt in dieser Inszenierung in variablen Konstellationen auf. Zu Beginn kommt er singend von beiden Seiten auf die Bühne, später singt er von beiden Seiten des Zuschauerraums und erzeugt damit einen besonderen Raumeindruck, vor allem bei dem bereits erwähnten „No“ auf Orpheus´ Klagen.
Die sängerische und darstellerische Last liegt in dieser Oper auf zwei Schultern und erfordert daher höchste Konzentration und Kondition. Das gilt vor allem für die Rolle des Orpheus, die in dieser Inszenierung mit der Mezzosopranistin Erica Brookhyser besetzt ist. Sie steht von Anfang bis Ende auf der Bühne und hat ein entsprechendes gesangliches Pensum zu absolvieren. Die darstellerischen Anforderungen sind ebenfalls hoch, da Mei Hong Lin auch von der Sängerin einen entsprechenden mimischen und gestischen Ausdruck fordert. Erica Brookhyser meistert diese Anforderungen in überzeugender Manier. Sowohl stimmlich als auch darstellerisch hält sie den Spannungsbogen bis zum Schluss. Die lang gezogene Szene des gemeinsamen Weges von Orpheus und Eurydike durch die Unterwelt wird dabei zum Höhepunkt des Abends. Hier steht nicht nur die Darstellung eines antiken Mythus zur Debatte sondern das Geschlechterverhältnis per se. Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Liebenden über Orpheus´ Sprachlosigkeit wird zum Archetyp ehelicher Differenzen, und das ohne aufdringliche Aktualisierung des mythischen Stoffes. Allein die Kraft der Darstellung einer allzu menschlichen Situation führt zu dieser Verallgemeinerung der mythischen Vorlage.
Susanne Serfling ist als Eurydike ein starker Partner. Sie tritt zwar erst später auf, doch in der bereits erwähnten Szene des gemeinsamen Gangs durch die Unterwelt zeigt sie ihr ganzes Spektrum an darstellerischen und gesanglichen Fähigkeiten. Der dauernde Wechsel zwischen Verzweiflung, Flehen, Trotz und Zärtlichkeit gelingt ihr in beeindruckender Weise. Ihr strahlender Sopran hebt sich vor allem in den Duetten reizvoll von dem etwas dunkleren Mezzo Erica Brookhysers ab.
Aki Hashimoto gibt einen leichtfüßigen und stets zu kleinen Scherzen aufgelegten Amor und bietet mit der üppigen blonden Perücke einmal einen ganz anderen Anblick.
Das Orchester hält den strengen, kristallklaren Klang bis zum Schluss durch und verzichtet bewusst auf konzertante Fülle. In den Rezitativen nimmt Meister das Orchester deutlich zurück, um die Stimmen mehr zur Wirkung kommen zu lassen. Insgesamt übt der verhaltene, auf lyrische Schönheit bewusst verzichtende Klang einen ganz eigenen Reiz aus, auf den sich der Zuhörer erst einstellen muss, der sich dann aber als außerordentlich wirksam im Sinne einer stimmigen Deutung des Stoffes erweist.
Das Premierenpublikum zeigte sich beeindruckt von dieser Inszenierung und bedankte sich bei allen Beteiligten mit kräftigem, lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
Weitere Aufführungen: 2.,14., 17. und 26. 2.2012
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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