Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Franz Lehárs Operette „Die lustige Witwe“.
Es gelingt dem Dramaturgen doch immer wieder, Bühnenstoffe mit erstaunlicher Aktualität aus dem Fundus der Theatergeschichte zu zaubern und damit den jeweiligen Krisen auch noch einen humoristischen Aspekt abzugewinnen. In Darmstadt darf man im vorliegenden Fall von einer absichtsvollen Inszenierung ausgehen und muss nicht die Gunst des Zufalls bemühen. Lange genug brodelte bereits die heiße Brühe der europäischen Finanzkrise in den nationalen Töpfen, um ein passendes Stück zu diesem Thema zu finden. In Franz Lehárs „Lustiger Witwe“ fand das Team des Staatstheaters denn auch einen Operettenstoff, der sowohl das Lächerliche wie auch das Abgründige der gegenwärtigen Krise auf den Punkt bringt.
Montenegro ist so gut wie pleite – das war der ursprüngliche Ausgangspunkt des Librettos. Die heikle geopolitische Lage dieses „real existierenden Landes“ ließ jedoch die Zensoren der k.u.k.-Monarchie bei der Lektüre des Librettos zusammenzucken und ihr Veto einlegen. So wurde also aus Montenegro der nun gar nicht mehr identifizierbare fiktive Staat Pontevedro, und dem Wunsch der Zensur war Genüge getan.
Baron Zeta, der Gesandte Pontevedros in Paris, erfährt von der desolaten Lage seines Vaterlandes und handelt sofort. Als die steinreiche Witwe Hanna Glawari aus Pontevedro in Paris auftaucht und sofort zum Ziel von Schwerenötern und Mitgiftjägern wird, beschließt er, seinen eigenen Assistenten Danilo Danilowitsch als Heiratskandidaten an die Front zu schicken, um die Heimat zu retten. Der jedoch hat dazu aus verschiedenen Gründen keine Lust: erstens war es schon einmal mit Hanna liiert und musste die Verbindung aus Standesgründen lösen, zweitens möchte er nicht ebenfalls als Mitgiftjäger erscheinen. Er verbringt seine Abende lieber im Nachtlokal „Maxim“ („heut gehn wir ins Maxim“) mit den leichten Damen Jojo, Loulou und anderen. Um Pontevedro zu retten beschließt er jedoch, alles zu tun, um Hannas französische Verehrer zu vertreiben. Der kundige Operettenbesucher weiß natürlich bereits nach der ersten Szene, dass Hanna und Danilo sich immer noch lieben und dies nur nicht zeigen – und dass sie sich am Ende in die Arme fallen werden. Bis dahin sind allerdings noch einige Verwirrungen und Missverständnisse zu überstehen. So umgarnt der Franzose Rosillon ausgerechnet Zetas Frau Valencienne und stößt dabei auf nur geringe Gegenwehr. Zeta weiß, dass Rosillon einer verheirateten Frau nachstellt, ahnt aber nicht im entferntesten, dass diese delikate Liaison ihn selbst betrifft. Ein typischer Operetten-Gag!
In der Folge vergrault Danilo gekonnt alle Verehrer der reichen Witwe, sei es, dass er einen Tanz mit ihr für einen hohen Betrag auslobt oder dass er verschiedenste Gerüchte – meist mit handfestem Kern – über die eheliche Treue von Hannas Verehrern oder gar von deren eigenen Frauen ausstreut. Die Betroffenen sehen sich in einer kompromittierenden Situation und suchen erst einmal das Weite. Höhepunkt der erotischen Verwicklungen ist ein Stelldichein zwischen Rosillon und Valencienne, in das Zeta selbst zu platzen droht, und das nur dank Hanna Glawari entschärft wird, die mit Hilfe von Zetas umtriebigem Sekretär Njegus die Stelle von Valencienne einnimmt. Das wiederum weckt Danilos Eifersucht, und in einem pointenreichen Finale sinken sich schließlich Danilo und Hanna in die Arme, während Valencienne ihren tumben Ehemann weiterhin in der Illusion wiegen kann, sie sei ein „anständige Frau“.
Regisseur Chas Rader-Shieber hat die Operette mit leichter Hand inszeniert und auf übertriebenen k.u.k.-Pomp verzichtet. Sein Bühnen- und Kostümbildner David Zinn hat dazu eine Kulisse geschaffen, die ein wenig wie der Speisesaal eines großen Passagierdampfers des „fin de siècles“ aussieht. Dass dieser Saal deutliche Schlagseite zeigt, verweist angesichts der Entstehungsjahres 1905 auf die bevorstehende „Titanic“-Katastrophe, die weithin als Omen für das Jahrhundert galt. Doch das Personal dieser Operette, in einer Mischung aus eleganter Oberschicht dieser Zeit und osmanischer Balkantracht kostümiert, scheint die Schieflage ihres Lebensschiffes – man achte auf die symbolische Parallelität von Staatsbankrott und Schiffsuntergang – gar nicht zu bemerken und feiert unbeschwert vor sich hin. Für die Pontevedriner ist auch die drohende Staatspleite kein Grund zu tiefer Sorge.
Dennoch sind einige Längen in der Inszenierung nicht zu verkennen. Vor allem im zweiten Akt, wenn die Ausgangssituation geklärt ist und die Lösung noch auf sich warten lässt, plätschert die Handlung vor sich hin. Das mag auch an dem Libretto liegen, das an dieser Stelle keine großen Spannungsmomente bietet. Das heutige Publikum unterscheidet sich von dem der vorletzten Jahrhundertwende doch erheblich. Damals kam die einzige mediale Unterhaltung vom Theater. Radio, Film und Fernsehen existierten noch nicht, und so gab man sich auch mit der „leichten Muse“ der Operette und ihrer meist simplen Handlung zufrieden. Die heutige Zuschauer jedoch erwarten vom (Musik-)Theater hinsichtlich Spannung, Dramatik und Tempo denselben Erlebnisgrad wie Film und Fernsehen, vom Internet ganz zu schweigen. Unter diesen Randbedingungen wirkt eine Operette, auch wenn sie den Schwung einer „Lustigen Witwe“ aufweist, notgedrungen bieder. Will man die Aufführung nicht entäuscht oder gelangweilt verlassen, muss man sie unter dem historischen Aspekt betrachten, sie als Bericht über eine vergangene (Kultur-)Epoche auffassen. Dann allerdings kann auch diese Inszenierung durchaus einiges Schmunzeln auslösen, allerdings auch nicht mehr, da die aktuellen Bezüge – Finanzkrise! – schnell erschöpft sind. Weitere Assoziationen an die heutige gesellschaftliche und politische Situation stellen sich nicht ein.
Die Premiere stand unter einem etwas unglücklichen Stern. Hauptdarsteller David Pichlmaier war am Tage vorher an einer Erkältung erkrankt, und aufgrund der kurzen Zeit war kein Ersatz zu finden. Für den sängerischen Part erklärte sich zwar kurzfristig der Weimarer Sänger Uwe Schenker-Primus bereit, doch konnte er das szenische Spiel natürlich nicht mehr einüben. So trat David Pichlmaier als Darsteller auf, und Schenker-Primus sang dazu vom Bühnenrand. Dank gut synchronisierter Mundbewegungen von Pichlmaier – schließlich hat er die Rolle als Sänger eingeübt – und seines beweglichen, glaubwürdigen Spiels fiel diese „Doppelbesetzung“ nicht störend ins Gewicht. Über Strecken konnte man sogar annehmen, der Gesang komme aus dem Mund Pichlmaiers. Der machte das beste aus der Situation und spielte den Bonvivant und Schürzenjäger Danilo mit überzeugender Grandezza.
Neben ihm gab Adréana Kraschewski eine lebendige Hanna Glawari, konnte aber die fehlende Spannung nicht allein durch ihr temperamentvolles Spiel kompensieren. Dazu sind Handlungsstränge und Pointen zu durchsichtig und eindimensional. Monte Jaffe verlieh der Inszenierung mit der prallen Darstellung des Baron Zeta zwar zusätzliche Farbe, doch die humoristische Bandbreite dieser Figur ist mit den immer selben Witzen über die wachsenden Geweihe des Barons auch sehr schnell ausgeschöpft. Marie Rose Koenn hat als Valencienne keine besonderen Möglichkeiten, sich besonders zu profilieren, da die wesentlichen Merkmale dieser Figur in der zaudernden Reaktion auf die erotischen Avancen Rosillons bestehen. Ähnliches gilt für die Höflinge Cascada und St. Brioche, die in ihren Harlekinskostümen Karikaturen mitgiftjagender Hoschranzen sind und sich als direkte Konkurrenten um Hannas Gunst gegenseitig die Pest an den Hals wünschen. Andreas Wagner und Peter Koppelmann können sich in diesen Chargenrollen nur begrenzt entfalten.
Neben weiteren, jedoch nicht tragenden Rollen fällt noch Walter Renneiesen als Haushofmeister bzw. Gesandschaftssekretär Njegus auf. Zwar singt er so gut wie gar nicht, doch seine Sprechrollen sind von trockenem Witz und hintergründiger Ironie. So bemerkt er – am 23. Dezember! – nach einem gerade noch unterdrückten Hinweis auf den Namen von Zetas Verehrer Rosillon: „Mir ist ein „Ros“ entsrpungen“. Bei Renneisen kann man sich gut vorstellen, dass er dieses Wortspiel aus der Situation improvisiert hat. Denn im Januar oder Februar ist der Witz dahin.
Der Chor des Staatstheaters belebt das Geschehen als Ballgesellschaft, Gesandschaftsbelegschaft oder Pariser Halbwelt, das Orchester unter der Leitung von Witolf Werner bemüht sich um eine eher leichtfüßige Interpretation der Lehárschen Musik. Von Pomp oder Pathos, wie er in der k.u.k.-Zeit durchaus beliebt war, ist hier nichts zu spüren. Allerdings zeigt die Musik selbst auch nicht immer die Spritzigkeit, die man sich erwartet. Das hat aber wohl etwas damit zu tun, dass mittlerweile über hundert Jahre darüber hinweg gegangen sind. Mit der „lustigen Witwe“ kann man einen netten Abend verbringen, mehr aber auch nicht.
Das Premierenpublikum zeigte sich dennoch dankbar und spendete kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
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