Wenn das nicht in die Zeit passt: ein Asiate (Minseok Kim als Arturo) soll einen wirtschaftlich und politisch maroden europäischen Granden vor dem Ruin bewahren. Weiter wollen wir die Analogie zur politischen Gegenwart nicht treiben, aber es böten sich noch ein paar andere Parallelen zur aktuellen Lage, auch wenn die nicht durch Liebe und EIfersucht geprägt ist.
Donizettis „Lucia di Lammermoor“ stand zuletzt im Jahre 1999 auf dem Programm des Staatstheaters Darmstadt und fand damals begeisterte Aufnahme. Diese Mal hat der erst 26jährige Lothar Krause die Regie übernommen, der in der letzten Saison bereits Verdis „Nabucco“ inszeniert hatte. Ihm zur Seite stehen Dirk Hofacker als Bühnenbildner und Ricarda Marose als Kostümbildnerin.
Gleich der Beginn setzt Zeichen. Zum Vorspiel des Orchesters lässt Krause den Tod von Lucias ud Enricos Mutter szenisch darstellen. Kaum ist die Mutter tot in die Kissen gesunken, zieht ihr Enrico mit pietätloser Gebärde den Siegelring der Familie vom Finger, womit er zeigt, dass von Stund an sein Wort gilt und was von ihm zu erwarten ist. Erst dann dreht sich die Bühne zur ersten Szene, in der Enrico und Normanno über den Fremden reden, der sich dann als Edgardo entpuppt, Enricos größter Feind und Lucias heimlicher Geliebter.
Dirk Hofacker hat für die gesamte Inszenierung ein einfaches, fast schlichtes Bühnenbild entworfen, das jedoch in sich durchaus konsistent ist und den Geist der Oper, wie Krause ihn sieht, wiedergibt. Rund ein Dutzend raumhoher Stelen quadratischen Querschnitts leuchten – je nach Szene – in wechselnden Farben. Den Wald markiert dabei eine grüne Einfärbung des oberen Endes, und dabei denkt man unwillkürlich an den Wald von Birnam, denn auch dieser Wald verheißt Unheil. Meist jedoch strahlen die Stelen kalte Farben aus und spiegeln damit die seelische Kälte der herrschenden Personen wieder, an der Lucia und Edgardo unweigerlich zerbrechen müssen. Das tragische Ende dieser Oper steht von Anfang an fest. Es ergibt sich nicht banalerweise aus der Kenntnis des Librettos sondern aus der Anlage der Handlung, die sofort Gewinner und Verlierer festlegt. Auch wenn Edgardo und Lucia hoffnungsvoll von einem späteren Liebesglück träumen, zeigt die wirtschaftlich-politische Lage des Hauses Lammermoor – gemäß den deutlichen Worten Enricos -, dass es für Lucias privates Glück keinen Freiraum gibt. Die Verhältnisse, sie sind nicht so. Es geht also nur darum, den Ablauf der Tragödie und die Vernichtung der Liebenden musikalisch und szenisch darzustellen. Enricos intriganter Gefolgsmann Normanno und der korrupte Priester Raimondo verstärken diesen Eindruck der geistig-seelischen Kälte noch.
Ricarda Marose verlagert die Handlung mit ihren Kostümen in das Schottland des 19. Jahrhunderts. Enricos kommt erst im Reitdress des britischen Lords, später im eleganten Frack daher, Lucia trägt ein wallendes Untergewand oder ihr Brautkleid. Der Chor ist als schottische Landbevölkerung mit karierten Hosen ausstaffiert oder spielt die Hochzeitsgesellschaft in der Abendgarderobe des „fin de siècle“. Die Argumentation für diese Zeitwahl scheint auf der Hand zu liegen: früher war es üblich, historische Dramen in den Kostümen der aktuellen Zeit zu spielen, da oftmals gar nicht der entsprechende Requisiten- und Kostümfundus vorhanden war. Da liegt es nahe, die Inszenierung in die Nähe der Entstehungszeit der Oper zu legen. Eine Übertragung in unsere heutige Zeit bietet sich angesichts des monolithisch emotionalen Stoffs und der durchgängigen Politikferne nicht an. Diese Oper handelt von Macht, Liebe und Tod in entschlackter Form und bietet wenig Anknüpfungspunkte für eine gesellschaftspolitische Umdeutung.
Lothar Krause hat sich jedoch gegenüber dem Stoff noch weitere Aus- oder Umdeutungen erlaubt. So lässt er in der letzten Szene Edgardo erst den Priester Raimondo und dann sich erschießen. Das Libretto sieht diese Variation nicht vor, und der Grund dafür erschließt sich dem Zuschauer auch nicht. Zwar lassen sich die Vergebungsgebete des sterbenden Raimondo jetzt auf ihn selbst anstatt auf – den sich erst danach erschießenden – Edgardo beziehen, doch die Logik bleibt unklar. Edgardo konnte um die dubiose Rolle des stets als Mittler und Versöhner auftretenden Raimondo gar nicht wissen. Dass der Knall aus dem Hintergrund bei Edgardos Selbstmord ausbleibt – eine Panne? – und man daher nur ein leises Klicken hört, führt in dieser letzten, dramatischen Szene sogar zu unfreiwilliger Komik. So läuft denn Edgardo auch noch einmal quer über die Bühne, eher er zusammenbricht. Für einen Menschen mit einer Kugel im Kopf eine beachtliche Leistung! Ebenso fordert die Diskrepanz zwischen den Pistolenschüssen und den Schwertern, von denen im Text immer wieder die Rede ist, das ganze Abstraktionvermögen des Zuschauers.
Ein weiteres Fragezeichen muss man hinter das Kostüm von Lucias Hofdame Alisa setzen, erscheint diese doch tatsächlich mit lebensgroßen Engelsflügeln. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie sich Elisabeth Hornung in diesem die Grenzen des Kitschs nicht nur streifenden Kostüm fühlen mag. Da der gesamten Oper – wie meist in der italienischen „opera seria“ – der Sinn für Ironie oder gar Humor fehlt, lassen sich die Flügel auch aus dieser Perspektive nicht sinnvoll betrachten. Man könnte an „Lucias Schutzengel“ denken, aber das wäre doch zu weit hergeholt. Wer das Libretto nicht kennt, wird daher hinter dieser Figur anfangs – frei nach „Hamlet“ – den Geist der toten Mutter vermuten, die Lucia zur Annahme von Arturos Hochzeitswerbung drängt. Doch es ist nur die lebendige Hofdame.
Ein weiterer, diesmal allerdings nachvollziehbarer Regieeinfall besteht darin, im zweiten Akt beim Einzug der Braut in die Hochzeitsgesellschaft den männlichen Protagonisten – Enrico, Edgardo, Raimondo und Arturo – die Augen wie Erschießungskandidaten mit schwarzen Binden zu verbinden. Damit verdeutlicht Regisseur Krause, dass die gesungenen Texte der männlichen Darsteller nicht freie Rede sondern ihre Gedanken beim Anblick der Braut wiedergeben. Die Handlung setzt für diese Figuren sozusagen aus, die Zeit bleibt stehen. Erst mit dem tätigen Eingreifen Edgardos – er konfrontiert Lucia mit ihrem Treueschwur – nehmen die so auf sich selbst zurückgeworfenen Männer ihre Augenbinden wieder ab und gehören wieder der konkreten Welt an. Diesen Regieeinfall verwendet Krause noch ein zweites Mal gegen Ende, wo sich jedoch die Bedeutung lediglich aus der Extrapolation der vorangegangenen Szene ergibt. Eine weitere Änderung gegenüber der üblichen Inszenierung besteht in der zusätzlichen Arie „Amore e morte“, die Lothar Krause im dritten Akt zusätzlich zur berühmten Wahnsinnsarie einführt. Sowohl thematisch wie auch musikalisch ist diese Erweiterung nachvollziehbar und verstärkt die Wirkung dieses dritten Aktes sogar noch, soweit das überhaupt noch möglich ist.
So wie Spötter Verdis „Nabucco“ gerne als „Gefangenenchor mit Oper drumherum“ bezeichnen, könnte man Donizettis „Lucia di Lammermoor“ auch „Wahnsinnsarie mit Oper drumherum“ nennen, eine derart zentrale Stellung nimmt diese über zehnminütige Arie sowohl innerhalb der Oper wie auch beim Publikum ein. Alles läuft auf diese Szene zu, und danach strebt die Handlung schnell dem Ende entgegen. Für jede Sängerin ist diese Arie wohl eine der größten Herausforderungen, wenn vielleicht nicht von den stimmlichen Anforderung hinsichtlich Kraft und Koloraturfähigkeit so doch von der Intonation und Interpretation. Und damit sind wir bereits bei der Würdigung der künstlerischen Leistungen an diesem Abend.
Die Titelrolle sang bei der Premiere Alexandra Lubchansky, und sie erntete zu Recht begeisterten Szenenbeifall – nicht nur nach der besagten Wahnsinnsarie. Bereits in den ersten Duetten mit Joel Montero als Edgardo oder Bastiaan Everink als Enrico zeigte sie nicht nur darstellerische Vielseitigkeit und Beweglichkeit sondern vor allem ihre außerordentliche stimmliche Variabilität und Präsenz. Vom lyrischen Schmelz bis zur expressiven Verzweiflung beherrscht sie alle Gefühlslagen und kann ihnen stimmlich Ausdruck verleihen. Auch die hohen Lagen kann sie zart wie forciert singen. Den Höhepunkt des Premierenabends präsentierte sie dann mit der Wahnsinnsarie, mit der sie für eine knappe Viertelstunde die Bühne allein beherrschte. Bei dieser metrisch weitgehend freien Arie ist die Koordination zwischen Orchester und Solistin besonders schwierig, weil beide ihre Einsätze dynamisch sehr genau aufeinander abstimmen müssen. Gerade die kleinen Pausen und Verzögerungen bringen das Wesentliche dieser Arie, die vollständige geistige Verwirrung der Protagonistin bei gleichzeitiger scheinbarer Klarsichtigkeit, zum Ausdruck. Wenn Lucia die Hochzeit mit Edgardo glückstrahlend vor sich sieht, obwohl sie doch gerade erst ihren wahren Bräutigam Arturo im Brautgemach umgebracht hat, dann lebt sie in einer Traumwelt, die die schreckliche Realität endgültig verdrängt hat. Diese unwiderrufliche „Entrücktheit“ – „Verrücktheit“ wäre hier als grober Begriff irreführend – glaubwürdig darzustellen ist die größte Herausforderung, und Alexandra Lubchansky meistert sie überzeugend. Gerade in den zartesten Passagen dieser Arie bringt sie die enttäuschte Sehnsucht und die Flucht in die geistige Umnachtung am berührendsten zum Ausdruck.
Joel Montero hatte in seiner Rolle des Edgardo mit dem Problem einer Virusinfektion zu kämpfen, der zum Trotz er seinen Premierenauftritt jedoch nicht absagte. Er stand die über zweieinhalbstündige Aufführung auch glänzend durch, ohne Anzeichen von Schwäche zu zeigen. Lediglich am Schluss, in seiner letzten Arie, zeigte seine Stimme in den leisen Momenten Brüche. Doch passte diese gesundheitsbedingte Brüchigkeit hervorragend zur dramatischen Situation, und hätte man nicht um seine Indisposition gewusst, hätte man dies für eine bewusst eingesetzte Stimmtechnik gehalten. Er hatte auch noch genügend Kraft, seine Rolle darstellerisch wie stimmlich über fast die gesamte Aufführungsdauer überzeugend zu gestalten.
Bastiaan Everink brilliert in der Rolle des Enrico mit seiner außerordentlich präsenten und in allen Lagen kräftigen Baritonstimme. Das energische und machtbewusste Profil dieser Rolle verlangt eine fast rücksichtslose Beherrschung der Szene, die sich natürlich auch stimmlich niederschlagen muss. An dem Paar Enrico/Edgardo bewahrheitet sich wieder einmal die alte Theaterweisheit, dass es die Bösewichter auf der Bühne allemal leichter haben als die Gutmenschen. Zwar hat auch Joel Montero als Edgardo ausreichend Gelegenheit, kräftige und profilierte Emotionen auszudrücken, doch Bastiaan Everinck hat den Vorteil der größeren Bühnenpräsenz, allein schon, was die Anzahl und Dauer der Auftritte betrifft. Er nutzt sie und verleihth dem Enrico ein scharfes Profil, das nur zum Schluss bei der plötzlichen Reue etwas unglaubwürdig wird. Doch das ist wohl eher ein Problem des Librettos.
John in Eichen gibt einen in ambivalenter Bigotterie schillernden Raimondo und verleiht dieser fragwürdigen Figur mit seinem kräftigen Bass raumgreifende Kontur. Minseok Kim hat in der Rolle des Arturo nicht allzuviel Ausdrucksmöglichkeiten, während Elisabeth Hornung als geflügelte Alisa eine Nebenrolle eindrucksvoll nach vorne spielt. Lasse Penttinen schließlich ist als Normanno eher eine Hintergrundfigur ohne bedeutende gesanglliche Entfaltungsmöglichkeiten.
Ein besonderes Lob gebührt wieder einmal dem Chor, der dieses Mal in verschiedenen Kostümierungen und dramaturgischen Konstellationen agiert. Mal kommt er als schottische Landbevölkerung, dann wieder als anfangs fröhliche, dann schockierte Hochzeitsgesellschaft daher. Jeder Auftritt erfordert andere darstellerische Mittel, und der Chor belebt die sonst nur von wenigen Protagonisten beherrschte Bühne deutlich.
Das Orchester des Staatstheaters stand an diesem Abend unter der Leitung von Martin Lukas Meister. Im ersten Teil brachte er die durchaus kontrastreichen Partien, mit denen das Orchester die spannungsgeladenen Auftritte von Enrico mit Lucia, Normanno und Raimondo begleitet, konturiert und mit der nötigen Schärfe zum Ausdruck. Später überwiegen die tragisch-emotionalen Momente. Ein besonderer Höhepunkt ist, wie bereits erwähnt, das fein ausgedeutete Zusammenspiel mit Alexandra Lubchansky in der großen Wahnsinnsszene, in der Meister das Orchester teilweise fast bis zur Unhörbarkeit zurücknahm, ohne dabei an Spannung zu verlieren. Präzision und instrumentale Transparenz waren auch bei dieser Aufführung herausragende Merkmale des Orchesters.
Der kräftige und lang anhaltende Schlussbeifall galt dem gesamten Ensemble ohne Ausnahme. Für Alexandra Lubchansky, Joel Montero und Bastiaan Everink gab es besonders kräftigen Applaus und „Bravo“-Rufe. Hervorzuheben ist bei dieser Inszenierung auch der reichlich gespendete Szenenapplaus nach den einzelnen Arien.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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