Martin Stadtfeld spielt im Kloster Eberbach Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“.
Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“ haben in den letzten Jahrzehnten geradezu Kultstatus errungen. Das liegt wohl nicht zuletzt an Interpretationen, die im Laufe der Zeit zu Ikonen der Klavierliteratur geronnen sind, sei es nun die von Glenn Gould oder Angela Hewitt. Daher sind Veranstaltungen, die dieses Werk durch einen bekannten Pianisten präsentieren, meist weit im voraus ausverkauft.
So war es auch am 17. August im Laiendormitorium des Klosters Eberbach im Rheingau, wo Martin Stadtfeld im Rahmen des Rheingau Musik Festivals eben diese Variationen spielte. Schon am Eingang empfing die glücklichen Kartenbesitzer ein Pappschild mit der Aufschrift „Suche zwei Karten“. Das war sozusagen der letzte Strohhalm, an den sich die im Vorverkauf leer ausgegangenen Musikfreunde klammerten, und wir wissen nicht, ob der Zufall einer Erkrankung oder anderweitigen Verhinderung diese zwei Karten in ihre Hände gespielt hat.
Martin Stadtfeld gehört trotz seines jugendlichen Alters von dreißig Jahren nicht mehr zu den „aufstrebenden Talenten“. Er hat sich mittlerweile einen festen Platz im internationalen Klavierbetrieb erarbeitet und gilt als einer der renommiertesten deutschen Pianisten. Seinen Durchbruch erzielte er im Jahr 2002, als er in Leipzig den Bach-Preis gewann, und ein Jahr später gewann er mit eben den „Goldberg-Variationen“ den ECHO-Preis als „Nachwuchskünstler des Jahres“.
Stadtfeld beginnt die „Aria“, die das Thema vorgibt, mit einem emphatischen, fast gesanglichen Anschlag. Das Tempo nimmt er extrem zurück und lässt vor allem zu Beginn die einzelnen Töne wirken. Er betrachtet die Aria offensichtlich nicht nur als Vorstellung des Themas sondern bereits als Herausforderung, den potentiellen musikalischen Gehalt der folgenden Variationen anzudeuten. Danach lässt er in der ersten Variation gleich die Muskeln spielen. Energisch modelliert er die Läufe der rechten Hand des „allegro moderato“ sowie die markante Basslinie der linken Hand heraus. Sein transparentes und ausgewogenes Spiel verzichtet auf Effekthascherei oder völlig neue Interpretationsansätze. Auffallend ist jedoch bereits in dieser ersten Variation die Nähe zum Jazz des 20. Jahrhunderts, dessen binäre Skalenvariationen deutlich an Bach erinnern. In der zweiten Variation, einem „Allegro“, das jedoch etwas ruhiger daherkommt, setzt er diese ausgeglichene und doch beherzte Spielweise fort.
Jeweils nach zwei Variationen folgt ein zweistimmiger Kanon, bei dem das erste Thema auf einer anderen Tonhöhe wiederholt wird. Im ersten Kanon liegt die Wiederholung auf dem selben Ton, die weiteren erhöhen den Abstand jeweils um einen Schritt, das heißt, beim dritten Kanon auf der Terz und beim fünften auf der Quinte. Dabei gilt die 32-taktige Basslinie der linken Hand als Grundlage für sämtliche Variationen. In den Kanons bemüht Stadtfeld sich besonders um Transparenz, da sich bei den sich überlagernden Stimmen schnell ein ununterscheidbarer Klangbrei ergeben könnte. Bei ihm hört man jedoch jede Stimme deutlich heraus, und dabei arbeitet er die linke Hand, die überwiegend die Begleitung spielt, deutlich heraus.
Bach hat die Goldberg-Variationen ursprünglich als Etüden zum „Ergetzen“ des Musikfreundes komponiert. Früher dürfte man sie ohne den heutigen Anspruch gespielt haben, in Zeiten des hochgezüchteten Flügels jedoch sind die Ansprüche an die Interpretation in ganz andere Größenordnungen gewachsen. Von „Ergetzen“ im ursprünglichen Sinne ist weder bei dem Solisten noch beim Publikum etwas zu spüren. Die Musik entwickelt mit dem Klangkörper des modernen Flügels eine ganz andere Präsenz, ja Wucht. Das fordert die volle Aufmerksamkeit des Publikums, das hierin keine Unterhaltung sondern ein musikalisches Bildungserlebnis sieht. Noch viel mehr ist dies beim Pianisten der Fall. Dass ein Solist die Variationen ohne Pause und aus dem Kopf spielt, gilt heute geradezu schon als selbstverständlich. Das erfordert jedoch nicht nur höchste Konzentration sondern darüber hinaus eine ausgesprochen gute physische Kondition. Die schnellen Läufe und die expressiven Passagen fordern eine lang andauernde körperliche und geistige Spannung, die nur bei entsprechender Fitness gewährleistet ist. Martin Stadtfeld bewies diese Ausdauer und hielt den Spannungsbogen nicht nur in den längeren Variationen – die jeweils mit Wiederholungen gespielt werden – sondern auch über alle dreißig Variationen aufrecht. Auch die langsamen Variationen erfordern diese Spannung, oder besser gesagt gerade sie am meisten, denn hier besteht eher die Gefahr des Nachlassens und beiläufigen Spielens als bei den schnellen Variationen. Ein gutes Indiz für Stadtfelds Fähigkeit, den Spannungsbogen zu gestalten und das Publikum zu fesseln, ist die „Hustenrate“. An diesem Abend hörte man erst – ausgerechnet! – in der abschließenden Aria den ersten Huster aus dem Publikum. Für diesen einzelnen Huster war wohl die hohe Spannung auch beim Publikum verantwortlich, die sich nach achtzig Minuten irgendwo ein Ventil schaffen musste.
Martin Stadtfeld zeigte seine hohe Anspannung und Konzerntration deutlich in seiner Mimik und Körperhaltung. Sein Gesichtsausdruck gab den jeweiligen emotionalen Gehalt der Musik deutlich wieder, so dass selbst Gehörlose eine Ahnung von der Kraft dieser Musik bekommen hätten. Und er verlieh den Goldberg-Variationen tatsächlich ein reiches Maß an Emotionen. Vorbei die Zeiten einer distanzierten, emotionslosen und fast mechanischen Bach-Interpretation, die vor langer Zeit einmal im Schwange war. Stadtfeld mißt den Raum zwischen aufbegehrendem Vorwärtsdrängen und lyrischer Introvertiertheit bis an seine Grenzen aus, ohne deswegen mit übermäßigen Retardandi und unnötigen Intensitätswechseln zu arbeiten. Nicht Tempo und Lautstärke sind in erster Linie sein Mittel, um den Gehalt der Musik auszudrücken, sondern allein der Anschlag, mit dem sich alle Gefühlslagen wiedergeben löassen.
Das Publikum zeigte sich nach dieser hochkonzentrierten „Jagd“ durch das Bachsche Notenmaterial rundweg begeistert und spendete rhythmischen und nicht nachlassenden Beifall, der Martin Stadtfeld schließlich noch zu einer Zugabe aus Bachs Klavierwerk motivierte. Es ist anzunehmen, dass die Besucher während der Heimfahrt auf Radiomusik verzichteten.
Frank Raudszus
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