Die Tanztruppe des Staatstheaters Darmstadt zeigt ihre neue Produktion „Blind Date“.
Ein „Blind Date“ ist ein Rendezvous zweier Menschen – vorzugsweise mit erotischer Zielsetzung -, die sich vorher nicht kennengelernt haben. Entscheidend bei diesem Zusammentreffen ist daher, dass es nicht zufällig unter normalen Alltagsbedingungen zustandekommt, sondern mit eindeutigen Vorstellungen und Wünschen verknüpft ist. Das macht diese Art des Kennenlernens spannend und riskant, denn die Realität kann sich beiderseits weit von den Vorstellungen entfernen.
Mei Hong Lin, die Leiterin des Darmstädter Tanztheaters, hat diesen Begriff zum Titel ihrer neuen Choreographie gewählt. In einer eineinhalb Stunden währenden Abfolge von siebzehn nahtlos ineinander übergehenden Szenen dekliniert sie die gesamte Befindlichkeit der Geschlechter bei der Partnersuche sowie bei der Gestaltung und dem Ende einer Partnerschaft durch. Dabei stehen die heterosexuellen Beziehungsgeflechte eindeutig im Vordergrund, und die gleichgeschlechtlichen Versionen blitzen lediglich als kurze, eher witzige Aperçus durch einzelne Szenen.
Mei Hong Lin erzählt keine durchgehende Geschichte, wie es noch in der „Brautschminkerin“ der Fall war, sondern thematisiert (geschlechts-)typische Verhaltensweisen und Befindlichkeiten. Um das Verständnis der jeweiligen Szene sicherzustellen, nimmt sie oft die Stimmen zur Hilfe. So stößt Lee Bramford in der Szene „She always wants more“ eben diesen Satz des öfteren lauthals aus, um die Situation zu erklären. Das getanzte Bild lässt nicht von sich aus erkennen, dass es sich hier um eine unersättliche Frau (nicht unbedingt sexuell zu verstehen) handelt, die immer neue Forderungen an den Mann stellt, und daher ist die verbale Erklärung notwendig. Sabine Prokop hält fast schon Kurzvorträge über Beziehungsprobleme und die (männliche) Unfähigkeit zu einer tragfähigen Beziehung, so dass die Choreographie streckenweise zum Sprechtheater mit Tanzeinlagen mutiert. Die Tänzer sind jedoch in erster Linie Bewegungs- und Körperkünstler und keine Schauspieler, so dass Abstriche bei der verbalen Darstellung nicht zu vermeiden sind. Sie machen das durchaus nicht schlecht, so Sabine Prokop, die dabei in vorderster Front steht (die anderen sprechen die deutsche Sprache meist nur rudimentär), doch diese Schwerpunktverlagerung auf die Sprache kommt der Choreographie nicht unbedingt zugute. Dazu kommt, dass die Tänzer in bestimmten Szenen Wut, Enttäuschung, Frustration und Verlangen durch mehr oder minder artikulierte Schreie ausdrücken. Auch diese Befindlichkeiten hätte man wahrscheinlich allein durch Körpersprache ausdrücken können, ohne übermäßig an Verständlichkeit einzubüßen, vor allem angesichts der Tatsache, dass ein Schrei auch nicht mehr als eine entsprechende Körperhaltung „erklären“ kann. In einer anderen Szene rufen oder schreien die Darsteller ganze Sätze in ihrer jeweiligen Muttersprache einander zu oder ins Publikum. Die Bedeutung dieser Sätze kann man eher dem Szenenkontext als dem Text entnehmen, so dass man sich fragt, ob auch da nicht die Körpersprache genügt hätte.
Aber dieser Einsatz der Sprache ist auch der einzige fragwürdige Aspekt der Choreographie. Ansonsten lebt diese von der Orginalität, dem Tempo und vor allem dem treffenden Witz der meisten Szenen. Dabei geht es immer wieder um Frauen, die eine verlässliche Beziehung suchen, und Männer, die eben dieser Forderung aus dem Wege gehen. In „Sie und er“ schwankt Eszter Kozár zwischen zwei Männern (Celedonio I. M. Fuentes, Peter de Grasse), was zu den klassischen Dreiecksspannungen führt, und in „She always wants more“ bedrängt Maasa Sakano mit ihrem Tanz ihren Partner Lee Bramford auf fast diabolische Weise. In einer anderen Szenen wirbt der Mann um die schöne Spröde, doch sobald sie seiner Werbung nachgibt, dreht er sich um und schaut einer anderen (Spröden) hinterher. In einer Nebenszene liefert eine Frau ihrem Liebhaber permanente Eifersuchtsszenen und degradiert den armen Kerl zum kopfeinziehenden Pantoffelhelden.
Ein besonderer Höhepunkt spielt sich auf einer mehrfarbigen „Patchworkdecke “ im Bühnenmittelpunkt ab. Dort treffen sich nacheinander und separat erst die Frauen und dann die Männer. Ohne die Anwesenheit des jeweils anderen Geschlechts herrschen Müdigkeit, Lethargie und schlechte Laune, doch beim ersten Auftreten erwacht die Belegschaft dann zu plötzlichem Leben, jedes Geschlecht auf seine eigene, typische Weise. Sabine Prokop mischt dabei als Vamp eine ganze Truppe von Männern in Unterhosen auf und lässt sich am Ende auf Händen tragen.
In einem Einzelauftritt präsentiert dann Sabine Prokop die Sucht nach kulinarischen Genüssen – hier ausgerechnet in Gestalt des türkischen Dürums (Döner). Das hat zwar beim ersten Hinsehen nichts mit erotischen Beziehungen zu tun, aber man weiß auch, dass Frauen Liebeskummer oft mit Essen bekämpfen, und so passt diese groteske Geschichte doch wieder in die Choreographie. In der Szene „Frauen allein im Bett“ kommt die ganze Frustration allein lebender Frauen zum Ausdruck, die sich vor Schlaflosigkeit und Frustration von links nach rechts wälzen, sich Phantasien hingeben und den Morgen oder den Mann herbeiwünschen. Als Pendant dazu servieren die Männer ihre „Männerträume“ in einer ähnlichen pointierten Szene. Die quälende Unsicherheit über den Stand einer sich noch am Anfang befindenden Beziehung stellen Sabine Prokop und Peter de Grasse in einer Szene unter dem langen, selbsterklärenden Titel „Doubt is the only thing that makes love beautiful! – Warum hat er nichts gesagt?“ überzeugend dar, mit wenigen gut gesetzten Worten garniert.
Zum Schluss kommt dann noch der ernüchternde Alltag zu Wort: In der Szene „Waschsalon“ bringen leicht verbitterte und gelangweilte Frauen ihre Wäsche in eben diesen Waschsalon und warten auf das Ende des Waschvorgangs. Während die Mehrheit der dort versammelten Frauen die Desillusion des Immergleichen zum Ausdruck bringen, verfällt Andressa Miyazato einem selbstzerstörerischen Wahn, enkleidet sich bis auf den Slip und wickelt sich von Kopf bis Fuß in die Seiten eines Frauenmagazins ein, um sich dann am Boden zu wälzen. Die reinste Form der Frustration und des stillen Protestes gegen ein unerträgliches Leben. In einer früheren Szene glänzt Andressa Miyazato als grotesker, geradezu klischeehafter fernöstlicher Magier und erntet dazu spontane Lacher und Szenenapplaus.
Letzterer war an diesem Abend mehrere Male fällig, wenn das Ensemble oder einzelne Tänzer wieder einmal eine typische Situation zwischen den Geschlechtern mit einer Bewegung oder einem Wort auf den Punkt brachten. Das dabei letztlich das Wort den Ausschlag gab, minderte zwar nicht die Wirkung, führte aber jedes Mal vom Tanz weg. Aber wahrscheinlich ist es zu schwierig oder gar unmöglich, die psychologischen Pointen ausschließlich mit Körpersprache zu zünden.
Insgesamt liefert die Truppe mit dieser Choreographie eine unterhaltsame und facettenreiche Produktion ab, die einen Kernbereich des menschlichen Zusammenlebens mit Witz und Augenmaß auf den Punkt bringt. Zu erwähnen wäre auch noch die Musik, die zum großen Teil aus naiven Schlagern der fünfziger Jahre über Liebe, Triebe, Herz und Schmerz bestand und einen ironischen Hintergrund für die Beziehungsprobleme schuf. Man fühlte sich beim Hören dieser Schmachtfetzen einerseits an die eigene Jugend erinnert und wurde sich andererseits der ironischen Spannung zu dem Dargestellten bewusst. Diese Spannung lässt sich dann nur durch Lachen lösen, und dazu gibt es in dieser Produktion ausreichend Gelegenheit.
Das Premierenpublikum fühlte sich sehr gut unterhalten und dankte dem gesamten Ensemble einschließlich Mei Hong Lin für diesen kurzweiligen Abend mit lang anhaltendem Beifall.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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