Hommage an den Impressionismus

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Das Staatstheater Darmstadt inszeniert Giacomo Puccinis Oper „La Bohème“.

Die Feststellung, das Bühnenbild sei das Beste an dieser Inszenierung, wäre eine Verzerrung der Realität und eine Ungerechtigkeit gegenüber den Darstellern und Musikern. Und doch: die Kulisse spielt in dieser Version der bekannten Oper eine entscheidende Rolle und bildet in seiner unaufdringlichen aber allgegenwärtigen Präsenz einen wesentliche Eckpfeiler der Gesamtwirkung. Wenn sich der Vorhang hebt – statt der Ouvertüre erklingt nur ein Akkord -, erstreckt sich ein impressionistisches Gemälde eines Pariser Boulevards als halbrunder Hintergrund über die gesamte Bühne. Kaleschen und Menschen spiegeln sich auf dem regennassen Pflaster, links und rechts türmen sich Häuserfassaden wie Felsgebirge, zartgrüne Bäume bringen ein wenig Natur in diesen Steinmoloch, und die nur an wenigen Stellen durch die dichten Wolken dringende Sonne beleuchtet einige Fassaden. Diese Darstellung verbreitet mit einem Schlag die Atmosphäre des „fin de siècle“: die Leichtigkeit des Seins einerseits sowie die urbane Enge andererseits; der Fortschrittsglaube neben der latenten Angst vor der ungestüm voranschreitenden Industrialisierung. Neben diesem Zeitgemälde reduziert sich die restliche Bühnenausstattung zur reinen Requisite: Tisch, Stühle, Ofen.

Susanne Serfling (Mimì), Gaston Rivero (Rodolfo), Chor mit Bühnenbild im zweiten Akt

Susanne Serfling (Mimì), Gaston Rivero (Rodolfo), Chor mit Bühnenbild im zweiten Akt

In diese von Heinz Balthes kreierte Szenerie setzt John Dew seine vier Künstler als Teil des impressionistischen Gesamtbildes. José-Manuel Vasquez hat sie in zeitgetreue Kostüme eingekleidet, und damit wird vom ersten Augenblick klar, dass John Dew auf jegliche vordergründige Aktualisierung verzichtet. Er versteht Texttreue konsequent als Umsetzung der ursprünglichen Intention von Librettist und Komponist und lässt das Lebensgefühl der Künstler im ausgehenden 19. Jahrhundert noch einmal aufleben. Dabei überträgt er den impressionistischen Ansatz der Malerei auf die Szenerie in Marcellos Atelier. So wie es den Malern dieser Stilrichtung mehr um die jeweilige, hinter den Dingen schwebende Atmosphäre ging, die sie mit Formen und Farben herausarbeiteten, so kreiert auch John Dew die Atmosphäre des Ateliers und seiner darbenden Bewohner aus den ganz auf das schnelle Bonmot angelegten Dialogen der vier Künstler. Die spöttischen, sarkastischen, provozierenden und scheinabgeklärten Bemerkungen sind dabei von vornherein auf Verständlichkeit angelegt und haben den gleichen Stellenwert wie die Musik. Denn hier geht es offensichtlich darum, den Mikrokosmos der vier mehr oder minder verkrachten Existenzen atmosphärisch zu beschreiben. Wenn Rodolfo aus nackter Kältenot sein Drama im Ofen verheizt, ist das nicht nur ein Gag, sondern der Akt gewinnt durch die pointierte Darbietung symbolische und fast literarisch-philosophische Bedeutung: plötzlich tut sich ein Abgrund zwischen der großen geistigen Geste und der nackten Realität auf. Alle vier dürfen auf diese Weise ihre Nöte zwischen „Kunst und Kohle“ offenbaren, und da wirkt das plötzliche Erscheinen des Vermieters Benoît wegen der ausstehenden Miete nur als Bündelung all der Probleme und als Katalysator für die weiteren Ereignisse. Auf diese Weise schaffen Regie und Bühnenbild ein impressionistisches Gesamtwerk aus Bild und Spiel, bei dem es nicht auf das exakte Detail sondern die Atmosphäre ankommt.

John In Eichen(Colline), Oleksandr Prytolyuk (Marcello), Gaston Rivero (Rodolfo), David Pichlmaier (Schaunard)

John In Eichen(Colline), Oleksandr Prytolyuk (Marcello), Gaston Rivero (Rodolfo), David Pichlmaier (Schaunard)

Dieses impressionistische Konzept setzt sich im zweiten Satz fort, wenn das Künstlerquartett, nun um Rodolfos Nachbarin und neue Liebe Mimi erweitert, ins Café Momus einzieht. Auf der Bühnenrundwand erscheint nun ein Nachtbild des – selben? – Boulevards, in dem die aus der blauschwarzen Nacht hervorspringenden gelb-orangen Lichter der Restaurants und Bars die Menschen aus dem Regen in die Wärme locken. In diesem Akt kommt die Stunde des Chors, der in dieser Inszenierung um einen Kinderchor erweitert wurde. Die Regie lässt im Quartier Latin des nächtlichen Paris im wahrsten Sinne des Wortes die Puppen tanzen. Die Menschen feiern hier ein spontanes Volksfest, bei dem Zauberer und Spielzeugverkäufer immer wieder die Kinder begeistern. Die Künstler schauen sich diesen Mummenschanz eher amüsiert an, halten selbst aber wohlweislich Distanz zum einfachen Volk. Auch das wiederum eine mehr oder minder subtile Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Zwar ist man arm, muss frieren und hat wenig zu essen und zu trinken, das heißt jedoch noch lange nicht, dass man sich mit dem Volk gemein macht. Die Träume handeln von künstlerischem und gesellschaftlichem Erfolg und – natürlich – von den Frauen. Denn letztere sind der wunde Punkt aller Künstler. Sie sehen sich in der Geschlechterbeziehung als Opfer, denn die Frauen suchen ihrer Meinung nach Geld und Status und betrachten den Künstler höchstens als temporären Liebhaber auf dem Weg zu einer gesicherten bürgerlichen Existenz. Diese Weltsicht spiegelt sich in der Szene mit Musetta. Die ehemalige Freundin von Marcello erscheint mit ihrem ältlichen Liebhaber, jedoch offensichtlich mit der Absicht, Marcellos Eifersucht zu erwecken, was auch gelingt. Da es ihr in dieser temperamentvollen und witzigen Szene gelingt, sowohl Marcello zurückzugewinnen (obwohl sie ihn verlassen hat!) und ihren Liebhaber mit der gesamten Wirtshausrechnung sitzen zu lassen, bestätigt sie die manipulative Macht der Frauen und die Abhängigkeit der Männer. Das vermeintliche „happy end“ am Ende dieses Aktes – Marcello mit Musetta und Rodolfo mit Mimi – steht sichtbar auf tönernen Füßen. Szenisch deutet sich das dadurch an, dass sich alle sechs dem Umzug des Volkes anschließen und damit in gewisser Weise ihre bisher so hoch geschätzte Autonomie aufgeben. Das kann natürlich nur schief gehen.

Gaston Rivero (Rodolfo), Susanne Serfling (Mimì) vor dem Bühnenbild des dritten Aktes

Gaston Rivero (Rodolfo), Susanne Serfling (Mimì) vor dem Bühnenbild des dritten Aktes

Auch der dritte Akt beginnt wieder mit einem impressionistischen Gemälde, das sich in diesem Fall sogar nahtlos auf der Bühne fortsetzt. Das Bild zeigt eine verschneite Stadt mit braunen Fahrspuren, kahlen Bäumen und im Schneetreiben schemenhaft erkennbaren Kutschen. Die von keinem belaubten Baum mehr verdeckten Hausfassaden schauen trostlos vom Rand des Gemäldes, und rechts im Vordergrund bilden zwei schwarze Baumstümpfe und eine ebenso schwarze Laterne geradezu den Eingang zum Totenreich. Dazu schwebt vom Bühnenbild (künstlicher) Schnee auf den bereits weißen Bühnenboden, auf dem einsam eine einzelne Bank steht. Zwei Polizisten schreiten mürrisch im Hintergrund auf und ab. In dieser eiskalten Atmosphäre treffen sich Mimi und Rodolfo noch einmal, nachdem er sich wegen ihre Krankheit von ihr getrennt hat. Sein Argument, sein kaltes Zimmer sei ihrer Gesundheit nicht zuträglich, klingt konstruiert. In Wirklichkeit fühlt er sich ganz einfach der Situation nicht gewachsen. Die durch eine Eifersuchtsszene zwischen Musetta und Marcello angereicherte Aussprache zwischen den beiden Liebenden bekräftigt zwar ihre Liebe, zeigt aber auch, dass dieser keine lange Dauer beschieden sein wird. Die existenzielle Kälte des impressionistischen Bildes im Hintergrund überträgt sich geradezu zwanghaft auf die Handlung. In diesem Akt hängen Bühnenbild und Szene aufgrund der sehr fokussierten Stimmung sogar noch enger zusammen als in den vorhergehenden Akten.

Gaston Rivero (Rodolfo), Susanne Serfling (Mimì), dahinter Margaret Rose Koenn (Musetta)

Gaston Rivero (Rodolfo), Susanne Serfling (Mimì), dahinter Margaret Rose Koenn (Musetta)

Der letzte Akt nimmt wieder das Bühnenbild des ersten auf – wie in einem Kreislauf. Nur sind jetzt die Farben mehr ausgeleuchtet, das Bild wirkt freundlicher als zu Beginn, der Regen hat sich von einem November- in einen Aprilregen verwandelt, und das bereits etwas blasse Grün der Herbstbäume ist zu einem frischen Frühlingsgrün geworden. Hier kontrastiert die Aufbruchstimmung des Bühnenbildes mit der Handlung. In die melancholische Stimmung im Atelier – Marcello und Rodolfo haben sich zwar von Musetta und Mimi getrennt, kommen aber offensichtlich nur schwer darüber hinweg – platzen die beiden Freunde Colline und Schaunard, um Rodolfo und Marcello abzulenken. Es folgt eine wilde Feier, die den einzigen Zweck verfolgt, die schweren Gedanken durch sinnlose Aktivitäten bis zum imitierten Duell zu vertreiben. Erst als plötzlich Musetta in der Tür steht und die todkranke Mimi ankündigt, die Rodolfo noch einmal sehen will, erwacht das Künstlerquartett und erkennt den Ernst der Lage. Zwar ist jetzt jeder bereit, sein letztes Hab und Gut für die sterbende Mimi zu opfern, doch es ist zu spät. Sie stirbt, als die Medizin naht. Nur der ersehnte Muff für die eiskalten Hände kommt rechtzeitig und erleichtert ihr die letzten Minuten. Der Vorhang schließt sich exakt mit dem letzten leisen Akkord des Orchesters.

In dieser bewusst konventionellen aber runden und berührenden Inszenierung glänzt das Ensemble mit überzeugenden Leistungen. Susanne Serfling steigert sich im Laufe des Abends von der schüchternen jungen Frau, die nur um Licht für ihre Kerze bittet, über die große Liebende und verzweifelte Verlassene bis zur entsagenden (und glücklichen) Sterbenden. Sie zeigt ihre größten Stärken wieder einmal in den hier vorherrschenden lyrischen Szenen. Margaret Rose Koenn setzt als Musetta den Kontrast auf Augenhöhe, indem sie die temperamentvolle und machtbewusste Seite der Weiblichkeit betont. Allein diese beiden Frauen beherrschen bisweilen alleine die Bühne, sowohl stimmlich als auch darstellerisch. Bei den Männern überzeugt neben Gaston Rivero als Rodolfo vor allem Oleksandr Prytolyuk in der Rolle des Marcello. Beide bestechen durch ihre stimmliche Präsenz und Variabilität sowie ihre darstellerische Fähigkeiten. Nicht umsonst sind sie in vielen Szenen gemeinsam vertreten. Dagegen fallen David Pichlmaier als Schaunard und John in Eichen zwar nicht unbedingt ab, doch sie haben in ihren Rollen auch nicht die gleichen Möglichkeiten, sich in gleichem Maße zu profilieren. Sie fügen sich jedoch sowohl gesanglich als auch schauspielerisch sehr gut in das Quartett ein und verleihen ihren jeweiligen Rollen ein eigenständiges Profil. Lasse Penttinen im Märchenkostüm spielt den Spielzeughändler Parpignal im zweiten Akt mit viel Temperament und Witz, und Monte Jaffe – der auch den Tevje in „Anatevka“ spielt – tritt gleich in zwei Rollen als Musettas ältlicher Lieberhaber und als Vermieter Benoît auf.

Lasse Penttinen (Parpignol), Kinderchor, Chor

Lasse Penttinen (Parpignol), Kinderchor, Chor

Der Einsatz des Chors beschränkt sich in dieser Inszenierung auf den zweiten Akt, dort hat er jedoch einen Dauereinsatz mit viel Bewegung und unterschiedlichen Gesangseinlagen zu bestehen. Wie immer bewältigt er diese Aufgabe unter der Leitung von André Weiß mit viel Engagement und Präzision. Das Orchester, dirigiert von Martin Lukas Meister, überzeugt vor allem durch die lineare und transparente Stimmführung. Oftmals nimmt die Musik kammermusikalische Züge an, wenn die Befindlichkeiten und Emotionen der Protagonisten auf der Bühne durch einzelne Instrumente – Klarinette, Horn, Oboe oder welche Tonlage gerade gefragt sind – widergespiegelt wird. Dabei kommt auch die für die damalige Zeit moderne Tonalität – Brahms lebte bei der Uraufführung noch! – deutlich zum Ausdruck, die sich sowohl in der Art der Melodieführung als auch in den Harmonien niederschlägt. Diese Modernität geht jedoch nie auf Kosten der lyrischen Grundstimmung, die in den großen Arien geradezu zeitlos anmutet. Das Orchester hat großen Anteil an der Geschlossenheit der Inszenierung, schafft es doch einen musikalischen Rahmen, der dem Geschehen auf der Bühne aufs engste folgt, ohne dieses zu dominieren.

Das Publikum zeigte sich begeistert von dieser gelungenen Inszenierung, die das Kunststück fertigbrachte, die sentiment-geladene Handlung ohne jegliche falsche Gefühligkeit zu interpretieren und dabei dennoch die individuelle Tragik des Geschehens deutlich werden zu lassen. Langer, zeitweise rhythmischer Beifall für alle Akteure, vor allem für Susanne Serfling und Margaret Rose Koenn sowie für Orchester und Regie, und einzelne „Bravo“-Rufe zeigten dies mehr als deutlich.

Frank Raudszus

Alle Fotos © Barbara Aumüller

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