Mei Hong Lin inszeniert in Darmstadt Bizets Oper „Carmen“
Oper und Tanztheater leben beide von Raum und Bewegung, und so nimmt es nicht Wunder, wenn sich Tanz-Compagnien zunehmend mit Opernstoffen beschäftigen. In Darmstadt hat Mei Hong Lin, die Leiterin des TanzTheaters, bereits im April dieses Jahres mit einer tänzerischen Bearbeitung von Beethovens „Fidelio“ einen ersten Versuch aus der Perspektive des TanzTheaters unternommen, nun ist sie einen Schritt weiter gegangen und hat die Inszenierung der „Carmen“ als Oper übernommen.
Schon während der Ouvertüre wird das Konzept deutlich, denn zu deren schwungvoll präsentierten Klängen öffnet sich der Vorhang und lässt die Tanztruppe in einem bewegten Vorspiel auftreten. Das Bühnenbild verzichtet auf folkloristische Elemente und zeigt in der Mitte einen elliptischen, „selbstreferenziellen“ Turm, der sofort Assoziationen an das Portal des Staatstheaters weckt. Um diesen Turm windet sich eine Rampe nach oben in den Bühnenhintergrund, und das gesamte Ensemble ist in den hellen, fast weißen Farben spanischer Häuser gehalten. Eine bühnenhohe Wand aus stilisierten Fenstern schließt die rechte Bühnenseite ab und erstrahlt je nach Szene in unterschiedlichen Farben. Später wird der helle Turm zur nächtlich-düsteren Berglandschaft, und in der letzten Szene erstrahlt das anfängliche Bühnenbild in unheilvollem Blutrot.
Auf der Rampe stürmt zu Beginn die Tanztheatertruppe als Bevölkerung des Städtchens hinab, verteilt sich auf der Bühne und stellt die Bewegungen der flanierenden Menge nach. Mit dem Ende der Ouvertüre und dem Beginn des ersten Aktes veschwinden die Tänzer – unter welcher Bezeichnung wir hier unter bewusster Vermeidung der „korrekten“ Doppelbezeichnung auch die Damen subsumieren – und überlassen dem Gesangspersonal das Feld. Im weiteren Verlauf des Abends werden die Tänzer immer wieder die Szenen begleiten, so als nächtliche Schmuggler an der nachgebildeten Felswand oder als Stierkämpfer und Flamenco-Tänzerinnen. Die intensive Einbindung tänzerischer Einlagen verleiht der Inszenierung nicht nur Schwung und Bewegung, sie ergibt sich auch fast zwangsläufig aus dem Stoff, denn Spanien ist bekannt für seine Tänze, allen voran natürlich der Flamenco, aber auch der Sardana oder der Bolero. Darüber hinaus ist der Stierkampf selbst eigentlich ein ritueller Tanz des Toreros und seiner Helfer, der mit dem Tod des Stiers endet.
Damit sind wir bei dem zweiten Anknüpfungspunkt zwischen TanzTheater und Carmen-Inszenierung. So wie der Stierkampf-Tanz stets mit dem Tod des Stiers (bisweilen auch des Toreros) endet, steht auch am Ende der „Carmen“ der Tod der Titelfigur. Schaut man sich das Libretto näher an, so stellt sich schnell heraus, dass dieser Tod nicht nur die melodramatische Schlusspointe eines Beziehungsdramas ist, sondern dass dahinter eine fast philosophische Erkenntnis steckt. Von Alters her haben Religion, Mythos und Philosophie eine ambivalente Haltung zum Eros und der Frau eingenommen. Immer wieder erscheint sie als die Verlockung, die den Menschen (sprich „Mann“) vom Wege der Tugend abbringt und ins Unglück stürzt. Die Geschichte von Adam und Eva im Paradies, der „Tannhäuser“ und die Hexenverbrennungen im Mittelalter sprechen davon ein deutliches Wort. Die patriarchalische Gesellschaft entledigt sich mit dieser Stigmatisierung der Frau des eigenen schlechten Gewissens über die Macht des Sexualtriebs und zerstört das Objekt der Begierde statt diese zu besiegen.
So ergibt sich Carmens Tod am Ende als folgerichtige Konsequenz aus ihrer zerstörerischen Erotik, die sie bedenkenlos an den Männern auslässt. Alle wollen sie, aber sie hält alle auf Abstand, was aus der Sicht der Männer bereits das erste, ihren – der Männer – Stolz kränkende Vergehen ist. Dann bringt sie Don José, der sie im Gefängnis bewachen soll, nicht nur dazu, sie freizulassen, sondern hält sich den nützlichen Polizisten durch vage Versprechungen auch noch für andere Gelegenheiten warm. Auch heute setzt man den Eros – allerdings professioneller – noch gerne für die Gunst der Exekutive bei Geschäften aller Art ein. Erst als Don José ihr zuliebe desertiert und zu den Schmugglern übergelaufen ist, verliert er allen Nutzen für sie und damit auch ihr Interesse. So gesehen könnte man die Oper auch „Carmen muss sterben“ nennen. Bizet fügt bezeichnenderweise die Szene der Kartenlegerinnen ein, in der die beiden Frauen sich selbst Liebe und Reichtum prophezeien, Carmen jedoch den Tod. Natürlich kann man diese Wahrsagerszene als folkloristisches Element aus dem Zigeuner-Milieu betrachten, es bietet sich jedoch an, darin auch die unbewusste Verdammung der gewissenlosen „femme fatale“ zum Tode zu sehen. Zumindest dürfte das Publikum zu Bizets Zeiten einer solchen Interpretation im tiefsten Inneren zugestimmt haben.
Dass sich Carmen in den Torero Escamillo verliebt, ist offensichtlich auch von Bizet nicht als emotionaler Erkenntnisfortschritt und als Ausbruch der „wahren“ Liebe gemeint, sondern lediglich als ein Wandern zur nächsten Station eines unsteten erotischen Lebens. Escamillo ist bewusst derart eindimensional angelegt, dass man sich bereits bei der ersten Annäherung der beiden sicher ist, dass Carmen auch von ihm bald gelangweilt sein wird. Er bietet ihr kurzfristig mehr Glanz und Status als der arme Polizist und „nützliche Idiot“ Don José. In diesem Zusammenhang lohnt es sich, kurz bei der Frage zu verweilen, warum sich Carmen nicht dem Offizier Zuniga zuwendet, der als Don Josés Vorgesetzter über einen ganz anderen Status verfügt. Durchaus hätte auch Zuniga die Rolle Escamillos übernehmen können, doch dann wäre dem Opernkomponisten Bizet die Zugnummer des Toreros abhanden gekommen und aus dem Ganzen wäre ein Sozialdrama geworden. So musste er Zuniga durch derbe Handgreiflichkeiten gegenüber Carmen, die ihn für die stolze Zigeunerin zum Hassobjekt machen, als Konkurrent um ihre Gunst aus dem Libretto schreiben.
Mei Hong Lin hat das Libretto energisch gekürzt und die Spieldauer auf zweieinhalb Stunden verkürzt. Das kommt zwar dem Tempo der Inszenierung und der Rezeptionsfähigkeit des Publikums durchaus entgegen, dient jedoch nicht immer der Logik und Nachvollziehbarkeit der Handlung. So bleibt aufgrund der gekürzten Dialoge unklar, warum Carmen eigentlich ins Gefängnis gehen muss, da ihre Schuld nur angedeutet wird. Darüber hinaus ist die Szene, in der Carmen ihren Bewacher Don José zur Verletzung seiner Dienstpflichten und ihrer Befreiung verführt, ebenfalls zu stark verkürzt, so dass sich der Zuschauer nicht der Zwanghaftigkeit der Situation bewusst wird. Die – bei Opernbesuchern – allgemein verbreitete Kenntnis des „Carmen“-Stoffes sowie die allgemeine Lebenserfahrung erlauben zwar ein unmittelbares Verständnis der Situation, doch ersetzen sie keine zwingende psychologische Herleitung.
Mei Hong Lin ist offensichtlich nicht in erster Linie an einer psychologischen Ausdeutung der Personen, allen voran Carmen, interessiert. Sie betrachtet die Handlung eher als zweitrangig und konzentriert sich eher auf die Umsetzung der Musik in Körpersprache. Dazu lässt sie ihre Tanztruppe in verschiedenen Konstellationen und Kostümen auftreten, wobei sie durchaus auch Humor beweist. So treten die männlichen Tänzer unter anderem in langen roten Flamenco-Röcken und nackten Oberkörpern auf und verwischen damit bewusst die Geschlechtergrenzen. Was als „Gag“ gedacht sein mag, wirft dabei durchaus ein neues Licht auf die Inszenierung, da damit Carmens erotische Ambivalenz unterschwellig und durchaus zu Recht auf die Männer übertragen wird. Mei Hong Lin hat erkannt, dass Bizets durchweg stark rhythmisierte Musik zur tänzerischen Interpretation geradezu herausfordert, und hat diese Erkenntnis konsequent umgesetzt. Das geht jedoch nicht zu Lasten der Handlung, denn sie beschränkt die Tanzeinlagen weitgehend auf die sowieso vorgesehenen Volks- oder Gruppenszenen und integriert ihre Tänzer geschickt in die Auftritte des Chors, der auch in dieser Inszenierung sowohl gesanglich als auch darstellerisch wieder eine bemerkenswerte Leistung erbringt.
Bei den Darstellern ist von viel Licht doch auch von einigem Schatten zu berichten. Intendant John Dew hatte vorher eine leichte Erkältung des Escamillo-Darstellers Bastiaan Everink vermeldet und auf eine mögliche „fliegende Umbesetzung“ hingewiesen. Dieser Fall trat glücklicherweise nicht ein, doch Everink blieb etwas gehemmt, da er offensichtlich seiner Stimme nicht recht traute. Das führe zu einer etwas zu statischen Interpretation dieser Rolle, wirkte sich jedoch insoweit nicht aus, als Escamillo sowieso als eitler, etwas eindimensionaler Selbstdarsteller angelegt ist, den man durchaus auch etwas steifer spielen kann. Als Carmen trat in der Premiere Erica Brookhyser auf. Vom Äußerlichen entspricht sie der Erwartungshaltung an diese Figur, und stimmlich war sie an diesem Abend auch durchaus auf der Höhe, doch bei der Interpretation der Figur hätte man sich mehr gewünscht. Die Oper heißt nicht umsonst „Carmen“ und nicht „Liebesdrama in einer spanischen Kleinstadt“. Carmen ist der Dreh- und Angelpunkt der Handlung, auf sie schauen alle, Männer wie Frauen. Die Männer sind verrückt nach ihr und liegen ihr zu Füßen, die Frauen beneiden und hassen sie. Diese Rolle stellt höchste Ansprüche an die Darstellerin, sie muss überzeugend den Sog wiedergeben, den diese Frau auf ihre Umgebung ausübt. Dazu gehören Laszivität, Kälte, Spott, Herausforderung und Hochmut. All diese Eigenschaften brachte Erica Brookhyser an diesem Abend etwas zu wenig auf die Bühne. Ihre Carmen bleibt brav und geradezu lieb. Schon in der ersten Szene vor der Zigarettenfabrik fasziniert und dominiert sie nicht die Menge vor der Fabrik, sondern ist eine von mehreren Frauen. In der Gefängnisszene fehlt die gesamte erotische Palette, mit der sie Don José verführt, so dass nicht ganz klar wird, wieso der arme Tropf so schnell umfällt. In der Nachtszene der Wahrsagung fehlt ihrem ahnungsvollen Gesang über den drohenden Tod die innerliche Erschütterung, der tiefe Schrecken über die Prophezeiung. In der Abschlussszene schließlich kommt die stolze Ergebung in den vorhergesagten Tod nicht mit der Konsequenz zum Ausdruck, wie sie in der Szene angelegt ist. Vielleicht ist Erica Brookhyser noch etwas zu jung, um diese äußerst komplexen und unterschiedlichen psychischen Vorgänge darzustellen, vielleicht hätte hier aber auch die Regie etwas mehr tun können.
Andere sind darstellerisch überzeugender. In erster Linie ist Susanne Serfling als Micaëla zu nennen. Bei fast jedem Auftritt zeigt sie die gesamte Ausdruckskraft ihrer Stimme, die sich in dieser Inszenierung auf die lyrische Seite konzentriert. Auf beeindruckende Weise bringt sie das Leiden der unglücklich in Don José verliebten Micaëla zum Ausruck, die ihre Zuneigung auf verschiedene Weise deutlich machen will, aber an den Konventionen und an Don Josés verzweifelter Liebe zu Carmen scheitert, und die ihm am Schluss auch noch vom Sterben seiner Mutter berichten muss. Susanne Serflings Auftritte stellen – zumindest bei der Premiere – die Höhepunkte dieser Inszenierung dar. Auch Daniel Magdal überzeugt als Don José, vor allem in der Schlussszene, wenn Don José verzweifelt und überwältigt von Eifersucht Carmen zurückzugewinnen versucht. Magdal zeigt nicht nur eine stimmlich starke Leistung sondern beeindruckt auch darstellerisch als gedemütigter verschmähter Liebhaber.
Aki Hashimoto und Carolin Neukamm füllen die Rollen der Frasquita und der Mercédès mit viel Temperament und darstellerischem Witz aus und heben sie damit aus dem Schattendasein der Nebenrolle auf Augenhöhe zu den Hauptrollen. Thomas Mehnert gibt den Leutnant Zuniga mit gewohnter Souveränität und glaubwürdiger schauspielerischer Leistung. Sven Ehrke und Lucian Krasznec treten in den Rollen von Dancaïro und Remendado auf.
Das Orchester unter der Leitung von Lukas Beikircher besticht durch hohe Präzision und Spielfreude. Sorgfältig tariert Beikircher die verschiedenen Klangfarben der einzelnen Instrumentengruppen aus, wobei immer wieder die Brillanz der Bläser zum Vorschein kommt, die bei dem spanischen Kolorit der Musik natürlich eine besondere Rolle spielen. Auch der tänzerische Aspekt kam bei dieser Oper unter der Gesamtleitung einer Tanzexpertin natürlich besonders zur Geltung, auch und besonders im Orchestergraben.
Das Publikum bedachte das gesamte Beifall mit kräftigem Beifall, der für Susanne Serfling geradezu begeistert ausfiel. Man hatte ihre besondere Leistung an diesem Abend durchaus erkannt und honorierte ihn entsprechend. Auch Mei Hong Lin und ihre Tanztruppe erhielten kräftigen Beifall, was bedeutet, dass die Darmstädter Zuschauer die tänzerische Interpretation dieser Oper zumindest am Premierenabend ohne Einschränkungen akzeptierten.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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