Kündigt man in einschlägigen Kreisen an, man gehe in eine Operetten-Premiere, so kräuseln sich die Lippen im besten Fall zu einem leicht herablassenden Lächeln, das noch deutlicher als im Musical-Fall ausfällt. Weist letzteres bei aller – unterstellten – Seichtheit noch den Vorteil einer größeren musikalischen Aktualität auf, so leidet die Operette unter dem hoffnungslosen Verdikt der totalen Veralterung, ja des Abgestandenen, Reaktionären. Man geht also mit einem zumindest unterschwellig schlechten Gewissen in eine Aufführung, die Adorno aus der Perspektive der Inszenierung sicherlich mit dem Satz „Es gibt kein richtiges [Leben] im Falschen“ charakterisiert hätte.
Dabei ist es Zeit, auch die Operette von dem ideologischen Vorurteil einer affirmativ-bourgeoisen (etc., etc….) Grundhaltung zu befreien und sie als das zu nehmen, was sie immer für sich in Anspruch genommen hat: reine Unterhaltung ohne tieferen Sinn zu liefern. Wer sich einer solchen Kunstgattung nicht stellen will, sollte also lieber gar nicht erst in eine Operette gehen und auch nicht diese Zeilen lesen; für den Rest der Theater- und Musikinteressenten wollen wir an dieser Stelle jedoch die Darmstädter Inszenierung der „Fledermaus“ besprechen und gleich zugeben, dass wir uns an diesem Abend gut amüsiert haben.
Über die Handlung einer Operette braucht man sich eigentlich nicht tiefschürfend auszulassen, weil sie meist zweitrangig ist und lediglich eine Beschaffungsgrundlage für schmissige oder komische Arien darstellt. Hier sei nur soviel zum Verständnis gesagt: Der reiche Gabriel von Eisenstein hat seinen Freund Dr. Falke einmal schwer düpiert, so dass dieser auf Rache sinnt und Gabriel zu einem vermeintlichen Prominentenfest bei einem ominösen Grafen Orlofsky – damals standen russische Adlige wegen ihrer Exotik hoch im Kurs – einlädt. Nur zu gut weiß er, dass Eisenstein auf junge Balletteusen steht, und ködert ihn mit einer entsprechenden Andeutung. Eisenstein soll aber eigentlich wegen irgendeiner Unbotmäßigkeit für einige Tage ins Gefängnis, und da bietet sich ein ensprechend tränenreicher Abschied von seiner Gattin Rosalinde an. Dass er im Frack ins Gefängnis zieht, wundert sie zwar, sie betrachtet es aber als eine weitere Marotte ihres egozentrischen Gatten. Doch Dr. Falke schickt auch ihr eine Einladung samt Verkleidung, damit sie einmal sehe, wer ihr Mann wirklich ist. Gleichzeitig erhält auch Eisensteins freche Hausangestellte Adele von ihrer Schwester eine Einladung, die an dem „potemkinschen“ Prominentenfest beteiligt ist, genauso wie der angebliche Fürst Orlofsky von einer arbeitslosen Schauspielerin dargestellt wird. Statt Eisenstein lässt sich allerdings der ein wenig tumbe Tenor und Verehrer Rosalindes Alfred vom Gefängnisdirektor Frank abführen, da Rosalinde ihm dafür Versprechungen macht. Frank selber erhält seinerseits eine Einladung, und man trifft sich inkognito abends in einem fragwürdigen Vorstadt-Etablissment: Eisenstein als „Marquis Renard“, Frank als „Chevalier Chagrin“ – die frankophile Eitelkeit lässt grüßen -, Rosalinde Eisenstein als ungarische Gräfin und Adele als angebliche Schauspielerin Olga – die russische Karte, wie gesagt, sticht stets. Die angeheuerte Schauspielerin spielt die Klischeevorstellung eines russischen Lebemannes und sorgt für reichlich Wodka-Nachschub. Man kann sich lebhaft vorstellen, welche Verwechslungen und peinliche Konfrontationen sich dabei ergeben, vor allem, wenn sich Gabriel von Eisenstein Hals über Kopf in die schöne ungarische Gräfin verliebt und vergeblich versucht, ihre Maske zu lüften. Doch Demaskierung der Gattin und Entlarvung aller anderen Pseudonyme und Hochstapeleien erfolgen erst ganz am Ende, wenn Dr. Falke die „Bombe platzen“ lässt. Seltsamerweise führt das jedoch bei niemandem zu einer Katharsis, schon gar nicht bei seinem Freund-Feind Eisenstein, weil alle froh sind, dass die Geschichte am Ende glimpflich abgelaufen ist und niemand wirklich Gesicht oder Ehepartner verloren hat. So steht Dr. Falke am Schluss als Triumphator mit leeren Händen da, weil alle mit sich beschäftigt sind.
Das Stück zeichnet sich durch eine Besonderheit aus, die zugleich Vorzug und Nachteil darstellt: nach der großen Festszene spielt sich das Geschehen im Gefängnis ab, wo Alfred als falscher Eisenstein einsitzt: erst in Gestalt des versoffenen Gefängniswärters Frosch, der eine gekonnte Slapstick-Nummer serviert – Betrunkene sind auf der Bühne stets dankbare Rollen -, dann mit dem Gefängnisdirektor Frank, dem Anwalt Blind, Adele und ihrer Schwester, schließlich Eisenstein und seiner Gattin. Alle Beteiligten treffen hier nacheinander ein und verkeilen sich hoffnungslos in einem Verstellungskrieg, den erst am Schluss diverse Demaskierungen beenden. Diese Szene läuft über lange Strecken als reines Sprechstück, ohne jegliche Musik. Das ist für das Verständnis der Pointen durchaus positiv, und angesichts der grotesken Situation hagelt es solche geradezu; auf der anderen Seite stellt diese Szene einen „Medienbruch“ dar, wenn aus einem Musiktheater plötzlich eine Komödie mit dem deutlichen Hang zur Klamotte wird. Denn der Klamauk, der bereits die anderen Szenen andeutungsweise durchzieht, feiert hier fröhliche Urständ. Die Situationskomik wird bis zur Neige ausgekostet – vor allem die Trunkenheit – und auch Kalauer sind gern gesehene Gäste in dieser Szene. Man kommt so richtig in den schenkelklopfenden Schwung mit Hang zum Wiehern. In dieser Gefängnisszene durchwandert das Libretto das Tal des humoristischen Todes, übersteht dabei schließlich jedoch diese intellektuelle Durststrecke und schwingt sich wieder zu echtem satirischen Humor auf. Offensichtlich hat bereits im späten 19. Jahrhundert der künstlerische Populismus eine wesentliche Rolle gespielt, und man gab dem Affen „Publikum“ gerne Zucker um der Lacher und des anschließenden Erfolges willen. Man kannte sein Operetten-Publikum und wusste, dass man es nicht unbedingt mit humoristischen Samthandschuhen anzufassen brauchte. Wie dem auch sei: auch das Premierenpublikum einschließlich des Rezensenten ist der Kalauer-Kanonade erlegen und hat sich köstlich amüsiert, wobei der ein oder andere auch an das berühmte Wort gedacht haben mag „Ich habe gelacht, aber unter meinem Niveau“.
Abgesehen von der „konkret-korrekten“ Komik der Gefängnisszene gibt es auch in dieser wie den anderen Szene mit Grund viel zu lachen, so wenn typische Ehesituationen und die Macho-Eitelkeit persifliert oder die kleinen Tricks des nur scheinbar ausgebeuteten Hauspersonals entlarvt werden. Die meisten Szenen haben durchaus satirisches Potential, das sich beileibe nicht nur auf die Gründerzeit nach dem deutsch-französischen Krieg bezieht. Dass vieles auch heute noch unverändert gilt – siehe Ehekrieg -, hat Regisseur Ansgar Weigner mit einer Kleinigkeit veranschaulicht. Das Entstehungsjahr der „Fledermaus“, 1873, war von einem großen Börsenkrach geprägt. Also lässt Weigner auf einem Gaze-Vorhang vor der Szene das Datum „29. Oktober 1929“ anzeigen und schlägt damit nicht nur den Bogen von 1873 zu 1929 sondern unausgesprochen auch zum 15. September 2008, als die Lehman-Bank pleite ging. In der „Fledermaus“ herrscht der Galgenhumor des nahenden Untergangs; jeder möchte noch einmal so richtig auf die Pauke hauen, bevor alles zugrunde geht. „Nach uns die Sintflut“ lautet die Devise, und die Champagnerkorken knallen dementsprechend. Die Verstellung und permanente Hochstapelei lässt sich als Satire auf eine außer Rand und Band geratene Wirtschaft verstehen, und der dubiose Fürst Orlofsky lässt sich durchaus als führender Investment-Banker des frühen 21. Jahrhunderts interpretieren. Doch Weigner verzichtet auf eine plakative Umdeutung auf unsere Zeit und überlässt das dem Publikum. Bei ihm soll auch derjenige zu seinem Recht kommen, der in der „Fledermaus“ nur eine schwungvolle, witzige Operette des ausgehenden 19. Jahrhunderts genießen möchte. Belehrung oder gar gesellschaftspolitische Umdeutung und Kritik liegen ihm fern. Die „Fledermaus“ ist jedenfalls das denkbar schlechteste Objekt dafür.
Entsprechend hat Dieter Richter auch die Bühne hergerichtet. Man sieht im ersten Teil eine herrschaftliche Villa Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhundert, und die Protagonisten tragen Kostüme, die unserer Zeit nicht zu fern sind. Sie könnten in beide betroffenen Jahrhunderte passen. Die Gefängnisszene dagegen spielt in einem niedrigen „Schuhkarton“, der die Enge und das Eingesperrtsein symbolisiert und neben Büromöbeln noch ein großes Gitter zu den Zellen enthält, an dem sich der betrunkene Frosch vorzugsweise festhält. Die große Festszene spielt in einem eher zweitklassigen Etablissement mit einer kleinen Musikbühne – roter Samtvorhang und Lichterkette ringsum – und zeigt damit den unechten Charakter der Veranstaltung. Die Kostüme von Renate Schmitzer unterstützen die zeitliche Ansiedlung. Die Damen tragen gerne Roben oder Morgenmäntel, Adele erst das kleine Schwarze mit weißer Schürze und weißer Haube, später ebenfalls ein elegantes Abendkleid. Die Herren kommen im Frack mit weißer Hemdbrust und schwarzem Umhang oder im unscheinbaren Anzug, wenn sie inkognito unterwegs sind. Gerne klappt die weiße Hemdbrust auch einmal hoch und vernagelt ihrem Träger das Gesicht – Lacher sind garantiert.
Die Darsteller hatten offensichtlich Spaß an der Inszenierung und spielten ihre Rollen mit Genuss aus, ohne dabei die gesangliche Seite zu vernachlässigen. Die Star-Rolle kam diesmal Margaret Rose Koenn zu. Sie glänzte als Adele mit den berühmten Koloratur-Arien und riss das Publikum zu Szenenapplaus und extra starkem Endapplaus hin. Auch ihr Spiel der kecken Hausangestellten überzeugte durch Frische, Temperament und Witz. Neben ihr zeigte Maria Gessler als Rosalinde eine sowohl stimmlich als auch darstellerisch überzeugende Leistung. Norbert Schmittberg gab einen agilen Gabriel von Eisenstein, der sich aus jeder fatalen Situation mit List und Tücke wieder herausmanövriert, und war auch stimmlich in jeder Hinsicht auf der Höhe. Lars Moller, der David Pichlmaier krankheitsbedingt vertrat, wirkte als Dr. Falke etwas statisch, was aber auch an der nicht gerade sehr dankbaren Rolle – keine Ausbrüche, immer kontrollliert! – liegen mag. Thomas Mehnert verlieh dem windigen Gefängnisdirektor Frank ein entsprechend doppelbödiges Leben, wobei er auch einmal in den Genuss kam, einen Betrunkenen spielen zu dürfen, Markus Durst musste sich dagegen diesmal mit der „underdog“-Rolle des Dr. Blind – ein guter Name für einen Juristen – begnügen, die ihm nicht viel Spielraum für gesangliche oder darstellerische Profilierung gibt und sich eher für kleine Slapstick-Einlagen eignet. Elisabeth Hornung stieg als Fürst Orlofsky über Tische und Bänke und möbelte die zwielichtige Champagnergesellschaft ordentlich auf, wobei sie auch ihre Stimme wirkungsvoll und mit Durchsetzungskraft einsetzte. Mark Adler gab den tumben Tenor Alfred als eben solchen und daneben noch Arienanfänge aus einigen bekannten Opern zum Besten, einmal sogar – bei der „Carmen“ – sogar mit Orchester-Begleitung- Lukas Beikircher als Dirigent ging in diesen wenigen Takten sozusagen „fremd“.
Ansonsten blieb das Orchester der Partitur treu und interpretierte sie mit viel Schwung und Spielwitz, wie es sich bei einer Operette gehört. Dass manche Zuschauer dabei mit den Füßen wippten, ist nicht als „faux-pas“ zu bewerten sondern bei einer Operette ausnahmsweise erlaubt und fast erwünscht. Man hat sich halt gut amüsiert, und das galt an diesem Samstag für die große Mehrheit des Publikums, das einzelne, nicht ganz verständliche „Buuhs“ sofort mit „Bravos“ und ostentativem Beifall konterkarierte. Man kann die Operette „an sich“ mit einem „Buuh“ bedenken, geht dann aber gar nicht erst hin. Die Inszenierung jedenfalls gab keinen Anlass dazu.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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