Der freie Wille des Einzelnen und damit seine Verantwortung für sein Leben und seine Handlungen sind Eckpfeiler der westlichen Philosophie, spätestens seit der Reformation. Daran haben auch extreme Materialisten nichts ändern können, die aus den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der Neuzeit auf einen Determinismus auch in gesellschaftlichen und ethischen Fragen schlossen. Die überwältigende Meinung war lange – und ist es immer noch -, dass der Mensch seine Handlungen – von Extremsituationen abgesehen – prinzipiell selbst bestimmt. Diese Sicht ist durch das vorliegende Buch, das 2004 in Englisch und ein Jahr später in Deutsch erschien, schwer erschüttert worden. Allerdings schafft es die Gesellschaft immer wieder, unliebsame Tatsachen einfach totzuschweigen, wenn sie nicht unmittelbar den Alltag betreffen. Da dies bei Benjamin Libets Buch der Fall ist, haben sich die theologischen und philosophischen Wogen nach einigem medialen Hin und Her wieder gelegt. Selbst Sloterdijk hat den Faden nicht wieder aufgenommen.
Benjamin Libet (1916-2007) war Neurologe und Physiologe und lehrte an der Universität von San Francisco, Kalifornien. Bereits in den fünfziger Jahren beschäftigte er sich intensiv mit der Frage, wie das Gehirn auf externe Reize reagiert, welche Teile mit welchen externen Sensoren verbunden sind und – vor allem – wie lange denn die „Schaltzeiten“ sind. Bei Operationen an offenen Gehirnen von gehirngeschädigten oder kranken Patienten (z. B. Epilepsie) nutzte man den verfügbaren Zugang zu den offen liegenden Partien, um dort bestimmte Experimente durchzuführen. Um hier gleich Missverständnisse auszuschließen: diese Experimente waren völlig ungefährlich und fanden auch nur mit dem Einverständnis der Patienten statt, die generell bei lokaler Betäubung (Kopfhaut, etc.) operiert wurden, da das Gehirn selbst bekanntlich schmerzunempfindlich ist.
Die Experimente verliefen nach einem einfachen Muster. Man reizte eine bestimmte Stelle, z. B. am Arm oder Bein, mit leichten Elektroimpulsen und ließ sich vom Patienten zeitlich exakt das Bewusstsein dieser Reizung nennen. Dabei stellte man nach einer statistisch signifikanten Reihe von Experimenten fest, das ein externer Reiz von seiner Entstehung bis zum Auftreten im Bewusstsein des Menschen etwa 500 Millisekunde benötigt. Das bedeutet, dass der Mensch den visuellen und akustischen Reizen seiner Umwelt etwa um eine halbe Sekunde „hinterherhinkt“. Im ersten Moment erscheint das weniger dramatisch, doch wenn man sich eine unerwartete Situation im Straßenverkehr oder beim Sport vorstellt, wirft diese Tatsache entscheidende Fragen auf. Beim Tennis benötigt der Aufschlag eines Weltklassespielers vom Schläger bis zur anderen Grundlinie etwa eine halbe Sekunde, bis zum Aufschlagen auf dem Boden vor dem Rückschläger vielleicht 400 Millisekunden. Das heißt, ein Spieler könnte einen solchen Ball nie zurückspielen, da dieser schon hinter ihm an den Zaun geprallt ist, ehe er den Aufschlag auf den Boden „sieht“. Analoge Beispiele kann man sich für Unfälle bei hohen Geschwindigkeiten im Auto oder Flugzeug ausmalen. Demnach wären die Menschen allen plötzlich auftretenden Gefahren schutzlos ausgeliefert und wahrscheinlich längst ausgestorben. Da Libets experimentelle Erkenntnisse hieb- und stichfest waren, musste er sich eine andere Erklärung für den Widerspruch zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen und der alltäglichen Realität suchen. Als erstes stellte er fest, dass das Bewusstsein die Entdeckung des externen Reizes nachträglich rückdatiert auf den Zeitpunkt des tatsächlichen Auftretens. Das Bewusstsein dreht in genau dem Moment sozusagen die Uhr zurück und tut so, als habe es die jeweilige Gegenmaßnahme – beim Tennis die Ausholbewegung – rechtzeitig eingeleitet. Da ein Rückdatieren aber den Ball nicht mehr aus dem Zaun klauben kann, muss die Gegenmaßnahme tatsächlich eingesetzt haben, bevor sich der Mensch dessen bewusst wird. Das heißt, nicht ich schlage den Ball zurück sondern „es“, das Unterbewusstsein.
Libets Analysen seiner Experimente führten ihn eindeutig zu dem Schluss, dass die externen Reize unter Umgehung – oder besser Vorwegnahme – des Bewusstseins eine der jeweiligen Situation entsprechende, eingeübte Gegenreaktion einleiten, die dazu führt, dass der Körper beim Tennis die Ausholbewegung und beim Autofahren die Vollbremsung selbständig bereits viel früher durchführt, als dies dem denkenden Besitzer dieses Körpers bewusst wird. Damit der Mensch jedoch an dieser Situation nicht irre wird, spiegelt ihm sein Bewusstsein nachträglich vor, er habe selbständig, eigenverantwortlich und vor allem rechtzeitig gehandelt. Bereits diese Erkenntnisse nagen deutlich an der Vorstellung eines freien Willens, entfalten ihre prekäre Wirkung jedoch nur bei Handlungen unter hohem Zeitdruck. Alles, was nicht auf plötzlich eintretende externe Reize zurückzuführen ist, kann der Mensch sich in Ruhe überlegen und dann ausführen.
Das dachte anfangs auch Benjamin Libet, bis er dann Experimente zur zeitlichen Gestaltung freier Handlungsentscheidungen durchführte. Details der Experimentanordnung würden den Rahmen der Rezension sprengen, daher wollen wir hier nur darauf verweisen, dass es ihm gelang, seinen Probanden den Zeitpunkt einer bestimmten Handlungsabsicht – etwa das Krümmen eines Fingers – mit ausreichend hoher Genauigkeit zu entlocken. Die Messungen der Gehirnströme in den entsprechenden Arealen ergaben dabei einen deutlichen Vorlauf der entsprechenden neuronalen Aktivitäten, will sagen, das Gehirn leitete eben diese Aktionen bereits ein, bevor sich der Kandidat seiner bevorstehenden Handlung bewusst wurde, da die Übertragung der Impulse an die Extremität etwa eine halbe Sekunde benötigt (s. oben) und dem Bewusstsein Synchronität vorgespielt werden musste.
Auch diese Experiment-Reihe ergab stabile Werte mit einer Standardabweichung, die deutlich unter den Absolutwerten lag. Damit ergab sich plötzlich die alarmierende Erkenntnis, dass auch geplante – nicht nur hoch-reaktive – Handlungen außerhalb des Bewusstseins ausgelöst werden und dieses lediglich anschließend informiert wird. Nimmt man diese Erkenntnis ernst, dann ist kein Mensch mehr verantwortlich für seine Taten, da er keine Möglichkeit hat, deren ethische Bedeutung zu bewerten. Ein unterdrückter Mordwunsch wird dann vom physischen Apparat befriedigt, und das Bewusstsein hat keine Chance, dies zu verhindern. Nur die Tatsache, dass wir nicht immer die Mittel zur Hand haben, einen plötzlich aufwallenden Wunsch in die Tat umzusetzen, verhindert demnach ein allgemeines Chaos, Mord und Totschlag, denn etwa eine halbe Sekunde später merken wir, was da in uns hochkocht, und können uns kontrollieren. Libet nennt diesen Rettungsanker das „Vetorecht“ des Bewusstseins. Dazu stehen dem Menschen nach Abzug verschiedener Laufzeiten etwa ein bis zwei Zehntel Sekunden zur Verfügung. Das ist zwar nicht viel, reicht aber Libets Meinung nach, um in affektiven Situationen eine Handlung zu unterdrücken. Somit konnte er den freien Willen, den er bis dahin als Mensch nie in Frage gestellt hatte, retten. Dass natürlich das „Veto“ ebenfalls einer neuronalen Verzögerung unterliegt, hat er dabei nicht bedacht….
Libet hat das Problem von Verantwortung und Schuld durchaus erfasst und mit dem „Veto“ einen Schnellschuss versucht, um einerseits seinem eigenen Missbehagen über die Situation zu begegnen; andererseits waren die Messergebnisse zu eindeutig und nicht widerlegbar, als dass er sie hätte unter den Tisch fallen lassen können. Versteht sich, dass Theologen und Philosophen über ihn herfielen und seine Fakten ethisch-moralisch zerrissen. Das erinnert durchaus an die Reaktion der heiligen katholischen Kirche auf das neue Weltbild eines Galilei oder Kepler: man begegnet unwiderlegten Fakten (wir wollen hier noch gar nicht von unwiderlegbaren reden) mit weltanschaulichen Argumenten, „weil nicht sein kann, was nicht sein darf“.
Ein grundsätzliches Problem war für Libet das Bewusstsein selbst: nicht das eines externen Reizes sondern des eigenen Ichs. Ihm war klar, dass man dieses „Ich-Bewusstsein“ des Menschen nicht in Form neuronaler Impulse messen kann. Auch bei den Philosophen, so bei Descartes mit seinem dualen Substrat, fand er keine stichhaltigen Theorien, sondern nur nebulöse, nicht falsifizierbare Behauptungen. Wie allgemein bekannt ist, kennt die Wissenschaft nur Hypothesen, die so lange gelten, bis sie widerlegt sind. Ein Wissenschaftler versucht nie, einen positiven Beweis für seine Theorie zu finden, weil der jederzeit durch ein einziges Beispiel ad absurdum geführt werden könnte. Um aber eine Hypothese widerlegen zu können, muss sie überprüfbar sein. Glaubenssätze sind das nicht und daher als wissenschaftliche Hypothesen unbrauchbar. Der Heilige Geist der christlichen Religion fällt ebenso unter diese Kategorie wie Descartes Lehre vom geistigen und physischen „Substrat“, das er ohne nähere Beschreibung quasi als Axiom hinstellte.
Um diesem Dilemma zu entgehen, stellt Libet das Konzept eines „bewussten mentalen Feldes“ (BMF) in den Raum, das Geist und Bewusstsein ausmacht und die neuronalen Aktivitäten beeinflussen kann. Allerdings weiß er, dass er dieses Konzept mit seinen Mitteln experimentell weder beweisen noch widerlegen kann, und belässt es daher auch im vagen Zustand einer Überlegung. Dabei wusste er offensichtlich nichts von den Überlegungen über morphologische Felder, die sich aus dem feinstofflichen Konzept von Klaus Volkamer ergeben. Dieser entwickelt in seinem neuen naturwissenschaftlichen Weltbild genau solche Felder, die außerhalb der uns zur Verfügung stehenden Messmethoden liegen und sich daher nur mathematisch-logisch herleiten lassen. Wäre Benjamin Libet nicht im Jahr 2007 verstorben, wäre seine Reaktion auf diese neue Theorie höchst aufschlussreich gewesen. So jedoch wird man auf den nächsten mutigen Wissenschaftler warten müssen, der sich in das verminte Feld der „verbotenen Gedanken“ begibt und den Zorn der herrschenden wissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Schulen provoziert.
Dazu passt dann Nils Bohrs Zitat, das auch Libet erwähnt: „Wenn die große Innovation erscheint, wird sie verworren und seltsam aussehen. Sie wird von ihrem Entdecker nur halb verstanden werden und für alle anderen ein Rätsel sein. Jede Idee, die am Anfang nicht merkwürdig erscheint, ist hoffnungslos“. Dem ist nichts hinzuzufügen.
Das Buch ist im Suhrkamp-Verlag unter der ISBN 978-3-518-58427-8 erschienen und kostet 19,80 €.
Frank Raudszus
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