Das Staatstheater Darmstadt eröffnet die Opernsaison mit Janáčeks „Katja Kabanowa“.
Intuitiv möchte man meinen, die Oper habe nichts mit Politik zu tun, um im zweiten Schritt festzustellen, dass es nichts Unpolitisches im Leben gibt. Daher erscheint die einem Kulturpuristen unzulässige Beziehung zwischen hehren kulturellen Ereignissen und schnöder Tagespolitik durchaus gerechtfertigt. Wir wagen also daher die Feststellung, dass an diesem frühen Abend des 27. September auf der Darmstädter Opernbühne eine fiktive Frau tragisch scheiterte, während gleichzeitig eine real existierende Frau einen Triumph feierte. Das mag wie ein Kalauer klingen, doch die Tatsache, dass die Theaterleitung in der Pause – etwa gegen 19.15 Uhr – im Foyer eine erste Hochrechnung zur Bundestagswahl aushängte und damit schlagartig die Gespräche über die ersten beiden Akte versiegen ließ, trug dem Primat der Politik Rechnung. Wir fühlen uns daher zu dieser Verquickung der realen mit der fiktionalen Ebene berechtigt, zumal oftmals auch die Politik – unfreiwillig? – in fiktionale, will sagen visionäre oder illusionäre Bereiche vorstößt.
Doch genug der wohlfeilen weil populistischen Analogien. Auf dem Programm der ersten Opernpremiere stand Leoṥ Janáčeks Oper „Katja Kabanowa“, die er im reifen Alter von sechsundsechzig Jahren komponierte. Die Oper basiert auf dem Theaterstück „Der Sturm“ alias „Das Gewitter“ des russischen Literaten Alexander Nikolajewitsch Ostrowski (1823-1886), in dem dieser die gesellschaftlichen Zustände im Russland des 19. Jahrhunderts anhand einer tragischen Liebesgeschichte anprangert. Janáček ging es in seiner Oper jedoch weniger um die Kritik an einer konkreten, „real existierenden“ Gesellschaft, sondern um das individuelle Schicksal einer einzelnen Person unter diesen Verhältnissen, wobei auch dort die menschlichen Schwächen und Abgründe die wesentliche Rolle spielen. Das mag einerseits daran liegen, dass Janáček erklärter Russenfreund war, andererseits daran, dass er in dieser tragischen Liebesgeschichte auch seine unglückliche Liebe zu einer achtunddreißig Jahre jüngeren Frau verarbeitete.
Katja Kabanowa lebt irgendwo an der Wolga mit ihrem Mann Tichon und dessen Mutter Marfa, genannt Kabanicha, die ihren Sohn und ihre Schwiegertochter tyrannisiert. Vor allem Katja demütigt sie gerne und ausgiebig, weil sie ihr vorwirft, ihr die Liebe des Sohnes zu entziehen. Katjas Verhältnis zu Tichon ist eher von ehelichem Pflichtgefühl als von Liebe geprägt, und in Wirklichkeit hat sie sich bereits ein wenig in den jungen Boris Grigorjewitsch verliebt, der im Geschäft seines Onkels Dikoj arbeitet und sich ebenfalls in Katja verliebt hat. Doch beide wissen nichts von ihrer gegenseitigen Zuzneigung. Dikoj ist ähnlich herrisch wie die Witwe Kabanicha und lässt seinen Neffen dessen Abhängigkeit mehr als deutlich spüren. Dieser wiederum muckt nicht auf, da er und vor allem seine Schwester – beide Waisen – vom Onkel abhängig sind. Als Tichon auf eine längere Dienstreise geht, bittet ihn Katja aus Angst vor ihrer Neigung zu Boris, ihr einen Schwur abzunehmen, keine anderen Männer anzusehen, doch Tichon wischt dies beiseite. Stattdessen zwingt seine Mutter ihn, seiner Frau vor ihren Augen und Ohren demütigende Anweisungen für die Zeit seiner Abwesenheit zu erteilen. Es kommt, wie es kommen muss: die lebenslustige und stets erfindungsreiche Pflegetochter Barbara vermittelt ein Rendezvous zwischen Katja und Boris, und die beiden finden zusammen. Als Tichon unvermutet zurückkehrt, verfällt Katja in Gewissensqualen und beichtet ihr Verhältnis öffentlich. Als daraufhin Dikoj, seinerseits Liebhaber der Kabanicha, Boris in eine Niederlassung nach Sibirien schickt, bricht eine Welt für Katja zusammen. Von dem schwachen Geliebten allein gelassen mit der hasserfüllten und rachsüchtigen Schwiegermutter sowie einem ungeliebten und dem Alkohol verfallenen Ehemann, springt sie in die Wolga.
Janáčeks Oper zeichnet sich durch Geschlossenheit und Konzentration auf das – aus der Perspektive des Komponisten – Wesentliche aus. Die rigide, hierarchische Haltung der Gesellschaft schlägt sich prägnant und zugespitzt in Dikoj und Kabanicha nieder, die von ihren Eltern gebrochene jüngere Generation der Männer spiegelt sich in Tichon und Boris wider. Die jüngeren – insgeheim bereits aufbegehrenden – Frauen kommen dagegen wesentlich besser weg: Barbara macht aus der Situation das beste und versucht, sich kleine Freiheiten herauszunehmen. Sie stellt eine neue Generation junger Frau dar, die sich gegen die starren Strukturen wenden. Katja dagegen ist durch die Ehe mit Tichon in das System gepresst, dem sie aus eigener Kraft nur durch den Tod entfliehen kann. Doch in der künstlerischen Überhöhung der Oper ist dieser Tod nicht Niederlage und Kapitulation, sondern Fanal zur Gegenwehr.
Bühnenbildner Heinz Balthes hat für die Darmstädter Inszenierung ein bewusst kalt und starr wirkendes Bühnenbild geschaffen. Der Bühnenhintergrund erstrahlt durchweg in einem stahlharten Blau, das sozusagen die Seele der Witwe Kabanicha reflektiert. Die Personen agieren auf einer brückenartigen Konstruktion im Stil des späten 19. Jahrhunderts mit viel – angedeutetem – Schmiedeeisen. Diese Brücken führen über Wasser, das auf dem Bühnenboden leichte Wellen schlägt (ist es „richtiges“ Wasser?) und sich auch im Blau des Hintergrunds in stetiger Unruhe bewegt. Dieses Wasser hat offensichtlich eine Bedeutung über den Freitod der Titelfigur hinaus, die sich auch hätte erhängen oder vergiften können. Wasser wirkt bekanntlich erodierend und kann über Jahrtausende Felsmassive zerschneiden. Ähnlich spielt hier das Wasser scheinbar harmlos um die Konstrukte der (russischen) Gesellschaft, weicht sie doch vom Untergrund her auf und unterspült die nur scheinbar festen Fundamente der Ständegesellschaft. In dem leichten Wellenschlag des Wasser kündigt sich bereits die – nicht nur russische – Revolution an, die dann im 20. Jahrhundert nach mehreren missglückten Versuchen endgültig das alte Gesellschaftssystem und damit die Welt verändern wird. Ob diese danach besser geworden ist, sei dahingestellt. Im dritten Akt kündigt ein Gewitter – auch der Namensgeber der Vorlage – die nahende Katastrophe an. Während vordergründig dabei wieder das Wasser eine Rolle spielt, lässt sich dieses Gewitter auch als eine Katharsis verstehen, die eine sich immer weiter zuspitzende Situation einer endgültigen Klärung und damit Reinigung zuführt. Die Katharsis mündet zwar in den Tod der Titelfigur, setzt jedoch in der Umgebung neue Kräfte für eine Veränderung der Verhältnisse frei. Die erstmalige Weigerung Tichons, den Anweisungen seiner Mutter zu folgen, um stattdessen die Leiche seiner Frau zu betrauern, ist als Hinweis auf diese Veränderungen zu verstehen.
John Dew hat Janáčeks Oper kompakt und ohne überflüssige Schnörkel inszeniert. Die Handlung läuft von Anfang an konsequent auf das Ende zu, die beteiligten Personen werden anhand der wichtigsten Ereignisse prägnant vorgestellt. Dadurch entwickelt die Inszenierung überzeugende Dramatik und Dichte, was sich auch in der Aufführungsdauer von nur zweieinhalb Stunden mit Pause niederschlägt. Obwohl die Darmstädter Version auf Deutsch gesungen wird – die Musik hat Janáček allerdings ursprünglich auf die tschechische Sprachmelodie abgestimmt -, zeigt die elektronische Anzeige über der Bühne noch einmal den Text, wie es Zuschauer am Ende der letzten Saison in einer Diskussion mit dem Intendanten angeregt hatten. John Dew hat diesen Wunsch trotz der eigenen Skepsis – das Mitlesen lenkt seiner Meinung nach vom Bühnengeschehen ab – in die Tat umgesetzt und erhöht damit auf jeden Fall die Verständlichkeit der Handlung im Detail. Der Ablenkungseffekt ist jedoch nicht von der Hand zu weisen.
Janáčeks Musik trägt angesichts des Entstehungsdatums (1921) erstaunlich tonale Züge. Zwischen ihm und jüngeren Zeitgenossen wie Webern, Schönberg oder Berg liegen musikalische Welten, am ehesten ist er wohl mit Richard Strauss oder Gustav Mahler zu vergleichen, die wie er auf einer tradititionellen Basis ein Höchstmaß an differenzierten Klangfarben entwickelten. Janáčeks bezieht sich – wie seine Landsleute Smetana und Dvorak – immer wieder auf Volkslieder und die nationale böhmisch-mährische Musiktradition, entwickelt diese jedoch im Sinne einer modernen Harmonik und Dynamik weiter. Seine Musik zeigt deutliche Zeichen des Expressionismus, mit großen Intervallsprüngen und deutlicher Betonung des dramatischen Moments. Das Orchester unter Martin Lukas Meister arbeitete die dramatischen Effekte markant heraus, wobei sich besonders die Bläser profilierten, da sie die Dramatik des Geschehens musikalisch am besten darstellen können.
Die Darsteller beeindrucken durch überzeugende Leistungen, allen voran Susanne Serfling in der Titelrolle, die der Rolle der Katja Kabanowa eine breite Palette von lyrischen bis dramatischen Momenten verleiht und damit diese Figur in ihrer Zerrissenheit lebendig und glaubhaft werden lässt. Als ihre Gegenspielerin Kabanicha zeigt Sonja Borowski-Tudor nicht nur stimmliche Präsenz sondern auch die eiskalte Bosheit dieser herrschsücghtigen alten Frau, die im hochgeschlossenen Schwarzen und mit einer matronenhaften Frisur des späten 19. Jahrhunderts die jungen Frauen in ihrer Umgebung vor Angst erstarren lässt. Viola Zimmermann (Barbara) betont als anderer weiblicher Gegenpart zur Titelrolle den Optimismus und die Lebenslust einer neuen Generation, die sich immer weniger um die rigide Hierarchie der Familie kümmert. Bei den männlichen Darstellern ragt vor allem Andreas Daum mit seinem raumfüllenden Bass und auch seiner schauspielerischen Präsenz heraus. Wie die Kabanicha bei den Frauen so beherrscht er das Feld bei den Männern. Andreas Wagner tritt als unterwürfiger Sohn Tichon darstellerisch zwangsläufig ein wenig in den Hintergund, überzeugt jedoch durch seinen klaren und durchsetzungsfähigen Tenor. Ähnliches gilt für Norbert Schmittberg als Boris, der im Stück ebenfalls eine eher schwache Figur darstellt. Wer von der Rolle her schwach und unentschieden sein soll, kann halt nur schwer glänzen. Doch auch er füllt seine Rolle glaubwürdig aus.
Neben diesen Hauptrollen treten in durchaus nicht unbedeutenden Nebenrollen Niina Keitel und Margaret Rose Koenn (Dienstmädchen), Werner Volker Meyer (Kuligin) und Lucian Krasznec (Lehrer Kudrjasch) sowie Barbara Huber als Frau aus dem Volk auf.
Der Beifall des Premierenpublikums war kräftig und mehr als freundlich, wenn auch die ganz große Begeisterung nicht aufkam. Das mag an dem Thema oder an der expressiven Musik liegen, die zwar die Dramatik des Geschehenes treffend wiedergibt, aber das Publikum nicht von den Sitzen reißt. Begeisterung entsteht eher im Kontext einer sich aufschwingenden Musik als im Abgesang eines tragischen Geschehens
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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