Eines der drei Rätsel der eiskalten Prinzessin Turandot an ihre todessüchtigen Verehrer beschreibt ein „Etwas“, das beim Vergehen erkaltet. Keiner der bisherigen – und bereits unfreiwillig verstorbenen – Bewerber um die Hand der Prinzessin hat diesen Gegenstand erraten, nur Prinz Calaf erkennt in dieser verbalen Verkleidung richtig das Blut. Bereits im ersten Rätsel, das nach einem geheimnisvollen Wesen fragte, das nachts stirbt und tags wieder erwacht, hatte er treffend die Hoffung erkannt, so dass für ihn nur noch ein Rätsel zu lösen bleibt, um seinen Kopf zu retten und Turandot zu erringen – doch davon später.
Blut und Hoffnung sind die zwei treibenden Kräfte in dieser Oper, die mit ihrem Entstehungsdatum – 1924 – mehr als deutlich auf die Schrecken des Ersten Weltkrieges zurückverweist. Die scheinbar nur dem Kampf der Geschlechter gewidmete Oper mag in den letzten Jahrzehnten den historischen Hintergrund verdrängt haben, John Dew hat ihn jedoch in seiner Inszenierung wieder unmissverständlich und doch nicht aufdringlich in Erinnerung gerufen. Die Bühne ist über die gesamte Dauer in ein intensiv leuchtendes Rot getaucht – Metapher für Blut und Feuer zugleich, die beide den Krieg am deutlichsten widerspiegeln. Die Hoffnung dagegen, der Gegenstand des zweiten Rätsels, kommt im Schluss der dramatischen Handlung zu ihrem Recht, wenn die männermordende und rachsüchtige Turandot schließlich ihren Widerstand gegen den letzten und erfolgreichen Bewerber aufgibt und Rache durch Liebe ersetzt.
John Dew verzichtet klugerweise auf jegliche plakative Assoziation mit Krieg und Verwüstung und begnügt sich mit dem roten Bühnenbild sowie mit der zwingenden Metapher der sich sinnlos für eine emotionale Aufwallung aufopfernden jungen Männer. Ansonsten lässt er die Oper in der von Puccini vorgesehenen Umgebung ablaufen – einem im zeitlichen Nirgendwo verorteten China. Die Verlagerung in einen anderen zeitlichen oder geopolitischen Kontext wäre auch problematisch gewesen, weil Puccini ausgiebig die chinesische Musik – oder was er davon hält – zitiert. Eine unüberhörbare Pentatonik prägt die ersten Akte, wobei die Orchestrierung jedoch wieder europäischen Mustern folgt, sodass sich vor allem für die damaligen, keine akustischen Medien gewohnten Hörer ein pseudo-chinesischer Musikeindruck ergab. Puristen mögen über diesen Verschnitt nationaler musikalischer Stile die Nase rümpfen, doch für die damalige Zeit transportierte diese Methode auch so etwas wie globalisierte musikalische Bildung.
Auch in der Kostümierung erlaubt John Dew seinem Bühnenbildner José-Manuel Vázquez deutliche Hinweise auf das chinesische Lokalkolorit, sei es der einfache Kittel des Prinzen Calaf, das hochgeschlossene, enge und paillettenbesetzte Kleid der Prinzessin Turandot oder der schon fast wieder ironisierte Aufzug des alten Kaisers. Dagegen verwandelt er die drei Minister in drei Truffaldinos der italienischen „Commedia dell’arte“ und lässt sie auch als solche im Dreierpack mehr über die Bühne tanzen und springen denn würdig einherschreiten. Dieser bewusste Bruch mit dem chinesischen Hintergrund lässt sich nur als bewusste Ironisierung verstehen, um die Gefahr einer folkloristischen China-Oper von vornherein zu bannen. Den teilweise falschen weil pseudo-tiefsinnigen Ernst mancher Szenen unterläuft er zusätzlich durch die Karikatur des Kaisers Altoum, der mit langem Chinesenbart – über dem Mund! – und goldenem Gewand über die Bühne stolpert und den seine drei springenden Ministern permanent vor dem Umfallen bewahren müssen. Spätestens mit dem Auftritt des Kaisers wird klar, dass Dew die eigentliche Geschichte um die Prinzessin und die drei Rätsel nicht wirklich ernst nimmt. Die Konstellation einer gnadenlosen Despotin auf der einen und der sich nahezu willig in den drohenden Tod fügenden Freier auf der anderen Seite ist ihm wichtiger als die Geschichte mit den Rätseln, die denn doch zu sehr nach Märchen und einfacher Moral riecht. Folgerichtig betont Dew denn auch die Szenen nach der Lösung der Rätsel, in denen die eigentliche Dramatik der Oper stattfindet. Denn Turandot ist nach der unerwarteten Lösung der Rätsel durch den Fremden durchaus nicht bereit, ihren Teil der Verabredung einzuhalten und ihn zu heiraten, und fleht ihren Vater an, sie nicht wie eine Sklavin zu verkaufen.
Doch im Gegensatz zur Inszenierung von Schillers „Turandot“ steht hier nicht die patriarchalische Verfügung über die Frau im Vordergrund sondern der Antagonismus zwischen Rache und Vergebung. Turandot meint, das grausame, von Männern verschuldete Schicksal einer Vorfahrin an den Männern ihrer Zeit rächen zu müssen, und geht dabei nicht nur über physische sondern auch über logische Leichen, indem sie ihren Teil des Vertrages nicht einhält. In dieser Haltung denunziert Puccini die Beweggründe aller Kriege: die Rachegedanken, die ihre Rechtfertigung aus uralten, oft kaum noch nachvollziehbaren nationalen Demütigungen beziehen. Im Kriege verdichten sich unkontrollierte weil tief sitzende Kränkungen und Demütigungen zu einem klaren Feindbild gegenüber allem Fremdem.
Doch in dem Schrecken des (Geschlechter-)Krieges gibt es noch Hoffnung. Calaf, der die drei Rätsel gelöst hat, will nicht eine ihm zwangsweise angetraute, sondern eine ihn liebende Turandot zur Frau. In fast unmenschlicher Selbstlosigkeit erweitert er den für ihn mit tödlicher Gefahr verbundenen Rätselvertrag um ein weiteres Rätsel: wenn Turandot bis zum Morgengrauen seinen Namen in Erfahrung bringt, ist er bereit zu sterben, andernfalls muss sie ihn heiraten. Als Turandot daraufhin der Sklavin, die man zufällig im Gespräch mit Calaf gesehen hat, mit der Folter droht, tötet diese sich selbst, um den geliebten Calaf nicht unter der Folter zu verraten. Der entsetzte Calaf fühlt sich deshalb schuldig, verrät am nächsten Morgen Turandot aus freien Stücken seinen Namen und begibt sich dadurch vollständig in ihre Hand. Turandot kostet diese Situation verbal aus und verurteilt ihn dann öffentlich – zur Ehe mit ihr. Mit diesem Ende tritt die Hoffnung, Gegenstand des zweiten Rätsels, in den Vordergrund, und Puccini markiert dieses Element sowohl dramaturgisch als auch musikalisch mehr als deutlich.
Was die musikalische Ausdeutung betrifft, ist jedoch festzuhalten, dass Puccini nach der Ausarbeitung des zweiten Aktes plötzlich verstarb und sein Zeitgenosse Alfano die Oper vervollständigte. Lange Zeit galten dessen Ergänzungen als „nicht standesgemäß“, und Toscanini brach sogar die Uraufführung nach dem letzten „Puccini-Akkord“ mit der öffentlichen Bemerkung ab, an dieser Stelle sei Puccini gestorben. Diese Vorgehensweise hatte zwar den Vorteil einer gewissen Authentizität, ließ aber die Oper ohne einen glaubwürdigen Schluss zurück. Alfano setzte den bereits fertig ausgearbeiteten Schluss des Librettos – nur Puccinis Musik fehlte! – in Musik um und stellte so einen ausgewogenen Handlunsgablauf sicher. Puccini-Puristen entfernten später jedoch alles, was ihrer Meinung nach zu sehr an Alfano erinnerte, und hinterließen den Bühnen damit einen „Puccini-Torso“, der das Repertoire über lange Zeit dominierte. John Dew hat sich aus nachvollziehbaren Gründen dafür entschieden, in Darmstadt Alfanos ursprüngliche Version zu spielen, um den fragmentarischen Eindruck zu vermeiden – und sich nicht der Zensur der Puristen zu beugen.
Mit seiner Inszenierung hat John dew wieder einmal seine Vorliebe für opulente Opernaufführungen bewiesen, die zeitweise auch vor der Überladung und – ja, dem Kitsch – nicht gefeit ist. Neben großartigen Szenen – vor allem den Auftritten der drei Protagonisten Calaf, Turandot und der Sklavin Liu sowie den mitreißenden Darstellungen der drei Minister Ping, Pang und Pong – schleichen sich auch einzelne Szenen fragwürdigen Charakters ein. So geraten die altersschwachen Auftritte des Kaisers Altoum fast zur lachhaften Slapstick-Einlage, und die Idee, gewisse Szenen durch einen Kinderchor mit Engelsflügeln anzureichern, gerät durch mehrmalige Wiederholung in die gefährliche Nähe des Kitsches. Die bereits erwähnten brillanten Szenen retten den Eindruck jedoch immer wieder, bis die Schlussszene wieder in plakativer „Happy End“-Übertreibung endet.
Die Darsteller haben in dieser Inszenierung wieder einmal ausreichend Gelegenheit, sich zu profilieren. Katrin Gerstenberger zeigt als Turandot ihr beeindruckendes Stimmvolumen und beherrscht vor allem in ihren dramatischen Auftritten die Bühne. Auch darstellerisch verkörpert sie die nur äußerlich harte, innerlich aber höchst verletzliche Frau überzeugend. Als weibliches Gegenstück und komplementäres Frauenbild beeindruckt Susanne Serfling in der Rolle der Skalvin Liu. Ihr lyrischer Sopran kommt in dieser selbstlos liebenden und leidenden Figur besonders zur Geltung und erntete mehr als einmal spontanen Szenenapplaus. Zurab Zurabishvili überzeugt vor allem stimmlich in der Rolle des Prinzen Calaf, wirkt jedoch darstellerisch bisweilen ein wenig zu statisch, vor allem in den Duett-Szenen mit Katrin Gerstenberger, die auch die Körpersprache gekonnt einsetzt. Thomas Mehnert hat als alter Vater Timur diesmal nur eine Nebenrolle, ähnlich wie Markus Durst, der als Kaiser Altoum eine gefährliche Gratwanderung zwischen Würde und Lächerlichkeit des Alters zu absolvieren hat. Hervorzuheben sind auch noch David Pichlmaier, Lucian Kreaznec und Sven Ehrke, die als die Minister Ping, Pang und Pong eine wahre Tanz- und Sketchrevue präsentieren, sowie Oleksandr Prytolyuk als Mandarin (und Henker).
André Weiß hatte den Chor wieder einmal hervorragend eingestellt und stellte ihn als vollwertigen Partner neben die EIntzelakteure. Beweglichkeit auf der Bühne und sichere gesangliche Ensembleleistungen sind die zwei Grundpfeiler dieses „Stimmkörpers“. Martin Lukas Meister dirigierte im Orchestergraben mit viel Gespür für die modernen Elemente in Pucchinis Musik und ließ die verschiedenen Klangbilder bewusst und scharfkantig aufeinanderstoßen. Die Musik des Orchesters illustrierte die ätzende Dramatik auf der Bühne konsequent mit entsprechenden Reizklängen, ließ den Sängern jedoch jederzeit ausreichend akustischen Raum zur Entfaltung.
Das Publikum zeigte sich bereits beim Szenenapplaus und dann am Ende begeistert und spendete allen Beteiligten einschließlich Regie lang anhaltenden, kräftigen Beifall.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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