Die bedrohliche Ästhetik der Maschinen

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Seit Stefan Toss beim Staatstheater Wiesbaden die Leitung der Tanztruppe übernommen hat, ist eine konsequente Modernisierung der Choreografien in Richtung des heute üblichen TanzTheaters festzustellen. Fast könnte man nach den Unruhen des Personalwechsels feststellen: „Das Ballett ist tot, es lebe das Ballett“. Denn mit seinen Choreografien hat Stefan Toss sich schnell den Ruf erworben, einerseits den Körperausdruck in den Vordergrund zu stellen, andererseits dabei nicht die Musikalität und innere Stimmigkeit der Bewegungen aufzugeben. Bei aller Modernität seiner Choreografien schlummert immer noch ein Rest des alten Balletts in ihnen, ausgedrückt in der Flüssigkeit und Lebensnähe der Bewegungen. In seiner neuesten Produktion interpretiert er Béla Bartóks „Konzert für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta“ sowie Igor Strawinskys berühmt-berüchtigte Ballettmusik „Le Sacre du Printemps“ auf zupackende und überzeugende Weise.

Szene aus „Solitaire“

Bela Bartók hat sein Konzert ursprünglich für eine konzertante Aufführung komponiert und dabei nicht an eine tänzerische Umsetzung gedacht. Stefan Toss legt über diese Musik jedoch unter dem Titel „Solitaire“ seine eigene Geschichte um Sehnsucht, Einsamkeit und Isolierung. Der erste Satz – Andante tranquillo – mit seiner komplexen Fugenstruktur und der langsam sich steigernden Intensität – dient ihm als Abbild der Sehnsucht, die seine Protagonistin verspürt. Eine Tür in der angedeuteten Rückwand öffnet sich und lässt einen Lichtstrahl aus dem Hintergrund auf die Bühne fallen; eine Hand lockt die einsame Tänzerin durch die Tür, doch die Realität hält sie zurück. Andere Paare erscheinen in offensichtlicher Harmonie – gleiche Kostüme – in ihren Träumen, doch der Schatten ihres „alter egos“, einer zweiten Tänzerin in dunklem Kleid, streicht schon über die Wände. Der zweite Satz von Bartóks Konzert – Allegro – zeigt die Hektik, die Extrovertiertheit und die Ichbezogenheit der realen Welt. Das Ensemble stellt eine permanent in Bewegung befindliche und mit Selbstdarstellung beschäftigte Gesellschaft dar, die selbst Zweierbeziehungen noch instrumentalisiert und jeglichen ruhigen, sprich nachdenklichen Augenblick vermeidet. Im dritten Satz – einem Adagio – fasziniert vor allem die Art und Weise, wie die beiden Tänzerinnen – die Protagonistin und ihr Alter Ego – die langsame, spannungsgeladene Musik tanzen. Da stimmt jede Bewegung mit dem Rhythmus der Musik überein, und jedes einzeln einsetzende Instrument findet sein tänzerisches Gegenstück in genau übereinstimmender Dynamik. Die musikalische Spannung überträgt sich hier nahtlos auf die Bühne. Immer wieder steht das einzelne, unter der Unmöglichkeit einer Verwirklichung seiner Sehnsucht leidende, Individuum – hier eine Frau – dem Block der „Anderen“ gegenüber, die sich solche Sehnsüchte bewusst versagen und die sichere Seite der illusionslosen Gegenwart vorziehen. Kurze Momente erahnten oder gefühlten Glücks verschwinden angesichts der Dominanz einer auf Effizienz ausgerichteten Umwelt.

Stefan Toss erzählt bewusst keine zusammenhängende Geschichte, was die Interpretation seiner Choreografie sicherlich erleichtern würde; ihm geht es um seelische Zustände, deren Kern er aus der Musik Béla Bartóks extrahiert und die er durch Körperkonstellationen darstellt. Die große emotionale Geste in Gestalt einzelner Tanzfiguren sucht man vergeblich, sie wäre der medial vermittelten gesellschaftlichen Realität und damit dem modernen Tanztheater auch nicht angemessen. So wie im Medienzeitalter jeder öffentliche Auftritt in erster Linie die Gefühle unter Kontrolle halten und eine fast indifferent zu nennende Abgeklärtheit zur Schau stellen muss, so zeigt auch Stefan Toss‘ Choreografie „Solitaire“ die Entwurzelung und den Verlust authentischer Werte nicht in der Einzelgeste sondern in der Isolierung und steigenden Selbstbezogenheit ihrer Figuren. Der Schmerz dringt nicht nach außen sondern entlädt sich nach innen in den Körperausdruck. Béla Bartóks Musik gewinnt dabei eine Eigenständigkeit, die sie zum gleichberechtigten Partner des Bühnengeschehens erhebt. Stefan Toss nimmt die Musik insofern ernst, als er sie auch ohne Tanz denken kann und nicht zur reinen Begleitung seiner Figuren degradiert. Das Tanzen zur Musik vom Band ist für ihn undenkbar, und das Orchester unter der Leitung von Wolfgang Ott erfüllt diese Erwartung durch ein außerordentlich präzises und hellwaches Spiel, das keinen Moment an Spannung verliert und den Tänzern auf der Bühne in jeder Phase die nötige Basis und Impulse verleiht.

Doppelsprung im „Sacre du Printemps“

In Igor Strawinslys „Le Sacre du Printemps“ – „Das Frühligsopfer“ – geht es ursprünglich um die Vertonung und tänzerische Darstellung des erwachenden Frühlings in einer archaischen Gesellschaft. Nach feinen, fast verträumten Klängen zu Beginn, die den unter der Eisdecke des Winters erwachenden Frühling darstellen, kommt die Natur mit aller Wucht zum Durchbruch, wie wir es im echten Frühling von gurgelnden Bächen und hervorbrechenden Knospen kennen. Die hoffnungsvolle Urgesellschaft wählt in rituellen Tänzen eine junge Frau aus, um sie schließlich den Göttern zum Wohle der Gemeinschaft zu opfern. Strawinsky markiert diese urtümlichen, von keinem humanistischen oder christlichen Menschen- und Götterbild getrübten Rituale kompromisslos mit harten Rhythmen und extremen Dissonanzen. Dabei überschreitet er, der Logik des grausamen Geschehens folgend, sämtliche tonalen und harmonischen Konventionen des 19. Jahrhunderts. Angesichts dieser Musik kann man noch heute den Skandal nachvollziehen, den seine Musik in der operettengesättigten Welt des frühen 20. Jahrhunderts hervorrief.

Stefan Toss interpretiert Strawinskys Musik jedoch auf völlig neue Weise: den erwachenden Frühling ersetzt er durch die erwachende Industrialisierung, die in die handwerklich und ständisch organisierte Welt des 19. Jahrhunderts mit ungleich größerer Wucht einbrach als der russische Frühling selbst in Sibirien es je könnte. Zitate der Futuristen anfangs des 20. Jahrhunderts belegen eine fast naive Fortschrittsgläubigkeit und Vergötterung der Maschinen und ihrer aller menschlichen Unzulänglichkeiten enthobenen rhythmischen Perfektion. Strawinskys Musik, die nahezu ausschließlich vom Rhythmus und seiner kompromisslosen Ausdeutung lebt, bietet sich daher geradezu für eine solche Interpretation an, nimmt sie auf und widerlegt sie gleichzeitig. Dazu kommt die aktuelle Beschleunigung der Technisierung – Stichwort „Internet“ -, deren Rhythmus vielleicht nicht mehr vordergründig akustisch aufzuspüren ist, der aber dennoch immer schneller und härter schlägt. Stefan Toss lässt daher in seiner Choreografie die Technik in den Mittelpunkt treten. Ein überdimensioniertes, einem Kran ähnelndes metallenes Gerüst erhebt sich in voller Bühnenhöhe im Hintergrund, besetzt im Laufe der Zeit zunehmend den vorderen Bühnenraum und erhebt sich wie eine bedrohliche Krake über den Tanzenden. Die Tänzer selbst tragen Kostüme, die farblich an Industriekittel erinnern und auf ihrem Rücken eine reißverschlussähnliche Musterung zeigen, in die große Zahnräder eingreifen könnten. Der Mensch als Rädchen im technischen Getriebe, ausgeliefert dem unerbittlichen Rhythmus der Maschinen. Und so, wie in Strawinskys ursprünglicher Choreografie zum Schluss eine einzelne Frau geopfert wird, opfert sich hier die Menschheit unbewusst und eher im aufgezwungenen Takt der Maschinen selbst. Doch Toss verzichtet auf eine plakative weil narrative Darstellung dieser Opferung. Seine Tänzer bewegen sich selbst wie Maschinen, repetieren bestimmte Bewegungen eine Zeitlang, um dann zum nächsten besinnungslosen Bewegungsritual überzuzgehen. Bei Toss ist die Opferung schon zu Beginn längst erfolgt, und die Menschen sind nur noch Zombies, die dem Takt der technischen Zivilisation folgen. Diese Interpretation unterstützt er jedoch lediglich mit dem beschriebenen Bühnenbild und den Kostümen und verzichtet darauf, sie vordergündig (gesellschafts)politisch auszuschlachten. Der Zuschauer ist aufgefordert, sich zu dieser Choreografie seine eigenen Gedanken zu machen, und wird nicht in eine Richtung genötigt.

Ensembleszene im „Sacre du Printemps“

Strawinskys Musik bietet sich dieser Interpretation in einzigartiger Weise an. Die harten Rhythmen und Schläge, nicht nur vom Schlagzeug sondern von allen Instrumenten ausgeführt, der weitgehende Verzicht – außer zu Beginn – auf eingängige Motive bilden vor allem die Welt der schweren Maschinen, aber auch den impliziten Druck neuer Technologien auf geradezu beängstigende Weise ab. Das Tanzensemble muss dazu auf der Bühne Schwerstarbeit verrichten. Die extremen Rhythmen aus dem Orchestergraben müssen in eine Vielzahl oft verzweifelt anmutender Figuren umgesetzt werden, und den Tänzern sind kaum Pausen gegönnt. Man freut sich als Zuschauer für die Tänzer, die sich für einige Zeit wie tot auf den Boden legen müssen – oder eher dürfen -, und leidet mit ihnen, wenn sie allein, zu zweit oder in einer Gruppe bisweilen halsbrecherische Figuren auch noch synchron und in insistierender Dauer tanzen müssen. Doch gerade diese äußerste Anstrengung vermittelt einen großartigen und gleichzeitig erschreckenden Eindruck. Die Musik und die tänzerische Darstellung auf der Bühne steigern sich aneinander und setzen Strawinskys Ziel, die besinnungslose und moralfreie Urkraft der Natur darzustellen, auf überzeugende Weise auch auf den aus der Flasche befreiten Geist der Technik um. Dem optimistischen Futurismus des frühen 20. Jahrhunderts wird damit endgültig der Garaus gemacht, denn Toss‘ Figuren strampeln sich bis zum Schlussakkord in besinnungsloser Verzweiflung ab. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann strampeln sie noch heute.

Das Orchester lief bei dieser Choreografie noch einmal zu Hochform auf und intonierte die äußerst schwierige Musik Strawinskys wie aus einem Guss und mit der nötigen Kompromisslosigkeit, die dem Ohr des Zuhörers auch nahezu hundert Jahre nach der skandalösen Uraufführung bisweilen noch zu schaffen macht. Nur, dass man heute diesen Anspruch versteht und akzeptiert, und der begeisterte Beifall des Publikums zeigte, dass Strawinsky auch beim normalen Publikum längst „angekommen“ ist.

Frank Raudszus

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