Philipp Kochheim inszeniert im Staatstheater Verdis „Rigoletto“
Opern-Libretti leiden oftmals unter innerer Unlogik, Widersprüchen oder Handlungsbrüchen. Musik, Orchester und Sänger müssen dann die Ungereimtheiten des Textes wieder ausbügeln, was ihnen bei einer guten Inszenierung meist auch zur Zufriedenheit des Publikums gelingt. Da stellt es dann einen ausgesprochenen Glücksfall dar, wenn einmal das Libretto durch seine Logik und Dichte überzeugt und Regie wie Ensemble eine solche Vorlage stimmig interpretieren. In Darmstadt ist dieser Glücksfall mit Philipp Kochheims Inszenierung von Giuseppe Verdis „Rigoletto“ eingetreten.
Wer diese Oper nicht kennt, wird sich zwar zu Beginn über die scheinbar etwas konstruierte Handlung wundern. Da zerreißt sich der missgestaltete Hofnarr Rigoletto am Hof des Herzogs von Mantua auftragsgemäß das Maul über eitle Höflinge und Schnorrer, doch seine eigene Tochter Gilda hält er streng zu Hause unter Verschluss wie der strengstgläubige muslimische Familienvater. Man will es nicht glauben, dass im libertinären gesellschaftlichen Ambiente der italienischen Renaissance – denn hier darf man die Geschichte wohl ansiedeln – ein ausgewachsener Mann noch seine Tochter vor der Welt versteckt, und hält es für eine Notkonstruktion, um den Fortgang der Handlung zu rechtfertigen. Doch schon im Laufe des ersten Aktes klärt sich dieses Missverständnis auf: Rigoletto ist mitnichten ein erzreaktionärer Patriarch im familiären Machtrausch. Er kennt vielmehr die Sitten – oder besser Unsitten – am Hofe, und vor allem kennt er seinen Herzog, der keine hübsche Frau vorbeigehen lassen kann und eine Spur gebrochener Mädchenherzen und verlorener Unschuld hinter sich herzieht. Rigoletto weiß genau, was geschieht, wenn der Herzog die schöne Tochter seines Hofnarren entdeckt, und hält sie deshalb ängstlich von der Öffentlichkeit fern. Das Schicksal – oder besser: die alltägliche Realität – will es aber, dass der Herzog das Mädchen längst beim Kirchgang entdeckt hat und auch bereits ihr scheues Interesse geweckt hat. Während also Rigoletto am Hofe den adligen Vater eines vom Herzog entehrten Mädchens im dessen Namen öffentlich verspottet und sich dafür den Fluch des so Gedemütigten einhandelt, bandelt der Herzog in der Verkleidung eines Studenten im Hause Rigolettos mit dessen Tochter an. Wenig später entführen die Höflinge aus Ärger über die beißende Spottlust Rigolettos dessen vermeintliche Geliebte aus seinem Haus und bringen sie ausgerechnet in den Palast des Herzogs. Als schließlich der seine Tochter verzweifelt suchende Rigoletto am nächsten Tage davon erfährt, sieht er all seine Befürchtungen wahr werden. Kurz nach der – im Libretto nicht ausdrücklich erwähnten – Verführung Gildas vertreibt sich der Herzog bereits wieder die Zeit mit anderen Schönen. Der zutiefst getroffene Rigoletto nimmt das Angebot des Berufsmörders Sparafucile an, den Herzog bei einem Schäferstündchen mit seiner als Lockvogel dienenden Schwester Maddalena umzubringen. Doch Gilda, die den Herzog trotz seiner Untreue liebt, lauscht bei dieser Vereinbarung und beschließt, ihr Leben für den Geliebten zu opfern. In Männerkleidung schleicht sie zu dem Haus des Mörderpärchens, wo bereits Maddalena aus erwachender Liebe zu dem Herzog ihren Bruder überredet, statt seiner den ersten fremden Besucher an der Haustür umzubringen. Gilda klopft an die Tür, und wenig später kommt Rigoletto, um die vermeintliche Leiche des Herzogs zu beseitigen. Als er diesen jedoch im Hintergrund singen hört, hebt er das Sacktuch von dem am Boden liegenden Körper und entdeckt seine sterbende Tochter. In ihrem Todesgesang bittet die sterbende Gilda ihren verzweifelten Vater um Verzeihung.
Geradezu holzschnittartig konturiert das Libretto die Konfliktsituation: den mit Macht, erotischer Gier und Skrupellosigkeit ausgestatteten Herzog; den vom Leben benachteiligten Mann und Vater Rigoletto, dessen einziger Lebenssinn in seiner schönen Tochter besteht; die schnurgerade und folgerichtig auf die Verführung Gildas durch den Herzog zulaufende Handlung und die anschließende Untreue des Liebhabers; die Rachegelüste des getroffenen Vaters und die Opferbereitschaft der liebenden Gilda. Um die emotionale Situation noch zu verstärken, lässt das Libretto am Ende offen, ob der Herzog Gilda nicht doch liebt. In einer Arie äußert er sich dahingehend, dass er zum ersten Mal wirklich liebe. Es zeichnet sich also – wenn auch schwach – die Möglichkeit eines glücklichen Endes für alle Beteiligten – ein kitschiges „Happy End“ – ab, das zwar den Figuren im Libretto, allerdings nicht der Oper als Kunstwerk gutgetan hätte. Rigoletto zerstört durch seinen Mordplan nicht nur ungewollt das Leben seiner Tochter, sondern auch ohne deren Selbstaufopferung die zumindest hypothetische Möglichkeit einer glücklichen Fügung. Doppelte Tragik auf der Seite Rigolettos.
Während Victor Hugo in seiner Theatervorlage „Le Roi s‘ amuse“ eher den moralischen Aspekt hervorhebt – der Hofnarr stachelt aus dem Welthass des Missgebildeten den Herzog und die Hofgesellschaft geradezu zu Ehebruch, Skrupellosigkeit und Intrige an -, konzentriert sich Verdi auf die tragische Person des Rigoletto. Die Titel beider Werke drücken diese Schwerpunktbildung deutlich aus. Bei Hugo ist der Hofnarr Teil des Problems und muss dafür büßen, bei Verdi kennt Rigoletto die Schlechtigkeit der Welt und will seine Tochter davor schützen. Der Fluch trifft ihn in der Oper eher als Schicksal denn als Strafe für seine eigene Bosheit. Hugo leidet mit den Unterdrückten des Systems, Verdi mit dem Vater einer Tochter.
Diese dichte und in tödlicher Konsequenz voran schreitende Handlung unterlegt Verdi mit einer Musik, die an Dramatik und Emotion nichts zu wünschen übrig lässt, sei es bei den anrührenden Duetten zwischen Vater und Tochter, sei es in den Solo-Arien der liebenden Gilda, sei es in den Rachegesängen des getroffenen Rigoletto oder sei es in der Sterbeszene. In jeder Situation findet Verdi in ihrer Eindringlichkeit einmalige Motive und Klangbilder. Dass sich mehrere der Arien und Duette im Laufe der Zeit zu wahrhaften „Gassenhauern“ entwickelt haben („La donna é mobile…“), spricht für und nicht gegen ihren musikalischen Wert. Auch wenn diese Arien landauf, landab in Wunschkonzerten und Tenor-Treffen geträllert und geschmettert werden, tut dies ihnen letztlich genauso wenig Abbruch wie Mozarts „Kleiner Nachtmusik“. Das große Gefühl der italienischen Oper, hier wird es Wirklichkeit, ohne auch nur den Hauch falscher Sentimentalität.
Auch das Bühnenbild Thomas Grubers trägt zum Erfolg dieser Inszenierung bei. Ein raumfüllendes Gerüst aus weißen Balken, Streben und Flächen lässt die gesamte Bühne wie ein überdimensioniertes Gefängnis erscheinen, in dem die Gefühle der handelnden Personen gefangen sind, ohne sich daraus befreien zu können. Ja, bei dem Versuch, sich von den Ketten der Umgebung zu lösen, verirren sie sich im Labyrinth des Lebens und stehen am Ende wieder da, wo sie am Anfang waren. Eine vorwärts gerichtete Bewegung aus diesen Lebensumständen hinaus ist nicht möglich, alle Wege führen in die Irre oder zum tragischen Ende. Die weiße Farbe fügt dem Ganzen noch einen Zug von Strenge und Unerbittlichkeit zu. Schließlich ist Weiß keine Farbe mit einem bestimmten emotionalen Wert, sondern die Summe aller Farben – oder Gefühle, also deren Auslöschung.
Die Darsteller werden den Anforderungen dieser Inszenierung mehr als gerecht und machen sie erst zu einer denkwürdigen. Allen voran sind hier Tito You als Rigoletto und Eleonore Marguerre als Gilda zu nennen, die sich beide in nichts nachstehen. Tito You glänzt durch einen überaus modulationsfähigen und ausdrucksstarken Bariton, der sowohl in den dramatischen wie in den lyrischen Momenten seine Intensität beweist. Hervorzuhaben ist auch die Kondition des Sängers, zeigte doch seine Stimme angesichts der Dauerpräsenz von mehr als zwei Stunden keinerlei Anzeichen von Schwäche. Dass Tito You auch darstellerisch überzeugen kann, wissen wir spätestens seit der „Traviata“ oder dem „Don Carlos“ in Wiesbaden; hier zeigt er uns einen vom Leben gequälten und verbitterten Mann, der unter seiner missgestalteten Maske die tiefen Emotionen eines liebenden Vaters verbirgt. Eleonore Marguerre besticht durch ihren lupenreinen Sopran, der auch die höchsten Lagen und schwierigsten Koloraturen fast mühelos meistert und dabei noch geschmeidig und innig klingt. Dass man ihr die von den Männern geliebte junge Frau sofort abnimmt, ist ein sehr angenehmer Seiteneffekt, der bei der die Stimme grundsätzlich höher bewertenden Oper nicht selbstverständlich ist. Wie Tito You beherrscht sie neben dem Gesang auch das darstellerische Fach und wirkt in jeder Szene überzeugend, selbst wenn sie sich vor dem stürmischen Herzog unter den Tisch rettet.
Diesen singt und spielt Harrie van der Plas mit männlicher Präsenz und Durchsetzungskraft. Man nimmt ihm sowohl stimmlich als auch darstellerisch den von sich selbst überzeugten und auf Moral pfeifenden Regionaldespoten jederzeit ab. Und sogar der Charme des rücksichtslosen Machos wirkt bei ihm glaubwürdig wie auch die Wirkung auf die Frauenherzen. Obwohl er von der Handlung her eigentlich der Antiheld ist, muss man ihm ungewollt Sympathie zollen, wirkt er doch stets wie ein großer Junge, der immer alles bekommen hat, was er wollte. In dieser Hinsicht erscheint der Herzog des Harrie van der Plas nicht als Klischeé des skrupellosen Mädchenschänders sondern als Produkt einer Gesellschaft, die eben dies ermöglicht. Thomas Mehnert gibt einen schwarz gekleideten Dunkelmann Sparafucile, der mit seinem tiefen Bass fast wie ein Philosoph des Verbrechens wirkt, und Stefanie Schaefer versieht seine Schwester Maddalena mit der bockigen Aufmüpfigkeit des jungen Mädchens, das auch einen Zipfel vom Glück erhaschen will und dafür notfalls über fremde Leichen geht. Daneben agieren Andreas Daum als Graf von Monterone – mit viel Verve und Sinn für Dramatik – sowie Werner Volker Meyer und Jeffrey Treganza als Höflinge Marullo und Borsa. Den gehörnten Grafen Ceprano singt Wiktor Czerniawski, seine untreue Gattin Allison Oakes.
Das Orchester unter der Leitung von „Noch-GMD“ Stefan Blunier spielt mit außerordentlicher Aufmerksamkeit und Präzision, stets mit dem richtigen Sinn für Dramatik oder Zurückhaltung und mit ausgezeichneten Einsätzen der Bläser. Ein Großteil der Wirkung dieser Oper erschließt sich aus der Musik im Orchestergraben, die allein schon eine dramatische Geschihte von Liebe, Rache und Tod erzählt.
Das Publikum der mittlerweile fünften und ausverkauften Aufführung reagierte begeistert wie bei einer Premiere mit viel Szenenapplaus für Tito SYou und Eleonore Marguerre, und sparte nicht mit „Bravo“-Rufen für Ensemble únd Orchester. Wer in der auslaufenden Saison keine Karten mnehr ergattern kann, sollte sich diese Inszenierung gleich für die nächste Saison merken, in der sie weider aufgenommen wird.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Barbara Aumüller
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