Heinrich von Kleists „Der Prinz von Homburg“ im Staatstheater Darmstadt.
Die eigentliche Tragik des Heinrich von Kleist war, dass er, aus einer alten Militärfamilie stammend, selbst den Soldatenberuf ergriff, obwohl sich sein ganzes Wesen dagegen sträubte. Von höchster Sensibilität und ausgeprägter literarischer Begabung, hasste er diesen Beruf dermaßen, dass er den Dienst bald quittieren musste und sich als erfolgloser Journalist und Poet durchs Leben schlug. So geht es im „Prinzen von Homburg“ auch nur vordergründig um den Konflikt zwischen Staatsraison und individueller Tat, sondern vielmehr um die Abscheu gegenüber dem Krieg und die Angst vor dem Tod. Die zentrale Szene des Stückes liegt damit auch nicht etwa in der Aussprache zwischen dem König und dem Prinzen, sondern in seiner geradezu kreatürlichen Angst vor dem Tod, die im Augenblick des Erkennens der wahren Sachlage entgegen der damaligen „Heldenmoral“ eruptionsartig ausbricht.
Regisseur Axel Richter hat in seiner Inszenierung die Geschichte des undiszipliniert angreifenden Prinzen eng mit dem Leben des Heinrich von Kleist verknüpft, da er das Stück offensichtlich als eine elementare Auseinandersetzung zwischen dem Autor und der ihn umgebenden Staats- und Kriegsmoral sieht. Die eigene verhasste Militärzeit lag wie ein Albtraum auf Kleists Leben, und diesen Albtraum setzte er in das Bühnengeschehen des „Prinzen“ um. Der Konfliktstoff, der sich aus dem verfrühten, befehlswidrigen Eingreifen des Prinzen in die Schlacht gegen die Schweden ergibt, dient dabei lediglich dem Zweck, den Kontrast zwischen der Erwartungshaltung des Prinzen und der brutalen Realität zu verschärfen. Das Letzte, worum es Kleist in diesem Stück gegangen ist, dürfte die rationale Diskussion über den Vorrang der Staatsraison oder der Entscheidungsfreiheit des tatkräftigen Individuums gewesen sein.
Schon das Bühnenbild von Klaus Noack verweist auf den Traumcharakter des Stückes: die blutrote Bühnenrückwand weckt elementare Assoziationen an Feuer und Krieg, schemenhafte Pappmachee-Figuren erinnern an Traumfiguren, im Vordergrund liegen allerlei kriegerische Utensilien vom Helm bis zur einzelnen Hand umher, und das in der Bühnenmitte konzentrierte Bühnenbild erzeugt Enge und Beklemmung. Die typischen Merkmale eines bedrängenden und bedrückenden Traumes. Und so beginnt das Stück auch mit dem Traum des schlafenden Prinzen, dem die Hofgesellschaft einen Streich spielt und ihn damit in Verwirrung stürzt. Der Handschuh der von ihm verehrten Prinzessin Natalie, den er nach dem Erwachen in der Hand hält, verwirrt ihn so nachhaltig, dass er keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Die Anweisungen für die Schlacht hört er gar nicht oder nur halb, und so stürzt er sich verfrüht auf den Feind, zwar den Sieg erringend, aber den Schlachtplan des Kurfürsten und Onkels durchkreuzend. Dieser, den Urheber des verfrühten Angriffs nicht erahnend, verfügt die Todesstrafe für den Schuldigen.
Der siegestrunken mit den Feldzeichen des Gegners beim Kurfürsten auftretende Prinz sieht sich den für ihn unverständlichen Anschuldigungen ausgesetzt, geht aber mit einer gewissen Gelassenheit ins Gefängnis, da er in der Drohung des Kurfürsten nur eine formale Zurechtweisung sieht. Erst als er von Graf Hohenzollern von dem bereits ausgehobenen Grab erfährt, bricht er zusammen. Innerhalb von Minuten bricht sich die blanke Todesangst Bahn, und entgegen allen – heldenmütigen – Regeln der Zeit und des Standes fleht er bei den Frauen des Hofstaates um Gnade, so dass selbst die Kurfürstin als Frau männliche Haltung von ihm einfordern muss. An dieser Stelle bricht Kleist mit einem wesentlichen Tabu seiner Zeit, indem er die Angst eines adligen Offiziers vor dem Tode ungeschminkt und in aller Offenheit zeigt. Man kann sich vorstellen, dass diese Szene – und damit das ganze Stück – zu Kleists Zeit und noch ein Jahrhundert danach bei staatstragenden Institutionen nicht gerade begeistert gefeiert wurde, ja, dass man sogar noch im wilhelminischen Reich entsprechende – posthume – Änderungen verlangte.
Aber Kleist wäre nicht der herausgehobene Dramatiker, wollte er es bei diesem „Gnadengejammer“ und einer eventuellen großherzigen Begnadigung belassen. Zu sehr haben Militärdienst und Befreiungskriege ihre Spuren auch bei ihm hinterlassen, als dass er gar keinen Stolz mehr sein eigen nennen könnte. Als der Kurfürst ihm die Begnadigung verspricht, falls er sich ungerecht behandelt fühlt, sieht er sich in der unmögliche Beweispflicht für das Unrecht des Kurfürsten. Als Offizier weiß er, dass der Kurfürst im Recht ist, und sein Stolz verbietet ihm, nur um des eigenen Lebens willen die Schuld bei anderen zu suchen. Hier geht es nicht mehr um militärische Diskussionen oder um den Vorwurf übergroßer Härte, hier geht es darum, dass er zum eigenen Vorteil die Grundsätze ins Gegenteil verkehren soll. Schlagartig sieht der Prinz sich als Verfemten, und wenn auch nur vor dem inneren Gericht, der alle Grundsätze der übergeordneten Gemeinschaft allein zum Zweck des eigenen Überlebens über Bord wirft. Das Eingeständnis der eigenen Schuld und die Annahme des Todesurteils ist daher bei Kleist nicht auf eine klare Unterordnung des Individuums unter die Staatsraison zurückzuführen, sondern darauf, dass der Beschuldigte dem Richtenden trotz besseren Wissens offenes Unrecht vorwerfen muss um zu überleben. Diese Selbstverleugnung würde jedoch den Kern des eigenen Wesens treffen und ein weiteres Leben in der Gemeinschaft so gut wie unmöglich machen. Der Kurfürst hätte einem Unwürdigen das Leben geschenkt, weil dieser ihm zu Unrecht Unrecht vorwirft. Zu Kleists Zeit rührte dieser Ausweg für den Todeskandidaten an elementare Ehrbegriffe und war daher nicht gangbar. Eine Begnadigung wegen Geringfügigkeit der Verfehlung wäre Großzügigkeit des Herrschers gewesen, die Frage nach einem offenen Unrecht wirft den Angeklagten wieder auf sich selbst zurück.
Dass der Kurfürst schließlich aus militärischen Gründen und wegen des mutigen Eintretens des gesamten Offizierskorps das Todesurteil zerreißt, ist nur noch zweitrangig und wohl als Zugeständnis an das Publikum zu werten. Konsequenter wäre der Weg in den Tod gewesen, doch Kleist wollte die Frage der Staatsraison offensichtlich nicht bis zum bitteren Ende durchspielen. Die ihn bewegenden Punkte der abgrundtiefen Todesfurcht und des inneren Stolzes hat er in dem Stück abgehandelt und kann es daher mit einem konventionellen, fast ironischen „happy end“ abschließen. Es ist übrigens aufschlussreich, dass Kleist keine der handelnden Personen als Negativhelden aufbaut. Die Offiziere sind entweder alte Haudegen – Kottwitz – oder junge Draufgänger aber durchweg sympathisch, selbst der Kurfürst wirkt in keinem Moment grausam oder gar despotisch. Seine Argumentation lässt sich unter militärischen und staatspolitischen Gesichtspunkten sowie angesichts der damaligen Usancen durchaus nachvollziehen. Kleist greift also nicht den einzelnen Herrscher oder eine bestimmte Staatsform an, sondern den Krieg und seine Konsequenzen selbst. Er diskutiert auch nicht Sinn und Zweck des Krieges sondern schildert seine schrecklichen Auswirkungen auf das Individuum, hier am Beispiel eines in führender Position aktiv Beteiligten, wie ja auch Kleist selbst als Leutnant zum Offizierskorps der preußischen Armee gehörte.
Diese enge Verflechtung von Fiktion und Vita des Autors setzt Richter in seiner Inszenierung konsequent um, indem er zum Schluss noch einmal den Traum oder besser, den Träumenden zu Wort kommen lässt. Während der Kurfürst und das Offizierskorps im Hintergrund die Fortsetzung des Krieges proklamieren, träumt sich Prinz Friedrich im Vordergrund in die Person seines Autors hinein. Fast möchte man zitieren: „Eine Person sucht ihren Autor“! Nachdem der Regisseur Friedrich schon einmal während des Stückes einen Brief Kleists an seinen Lehrer Martini in den Mund gelegt hat, lässt er ihn jetzt eine halluzinatorische Reise durch das Werk des Dichters unternehmen. Nacheinander zitiert er das Käthchen (von Heilbronn), Penthesilea und Hermann den Cherusker – alles drei Protagonisten der gleichnamigen Kleistschen Dramen – und lässt sie aus dem Staub der (Literatur-)Geschichte auferstehen und einige Verse deklamieren. Am Ende sitzt er mit Natalie zusammen zwischen den Trümmern seines Leben und erschießt erst sie, dann sich. Die Parallele zu Kleists Ende ist hier überdeutlich, so dass an eine freie Auslegung des „Homburg“-Stoffes nicht zu denken ist. Zwangsläufig und folgerichtig endet dieses für Kleist zentrale Drama in seinem eigenen Selbstmord, der sich ja auf ähnliche Weise abspielte. So rahmt nicht nur der Traum die eigentliche Handlung ein, sondern der Autor verschmilzt am Schluss mit dieser und übernimmt durch seinen Tod sozusagen die „Schuld“ des Prinzen von Homburg.
Kostüme und Masken verweisen zwar vordergründig auf die Zeit des Kurfürsten Friedrich Wilhelm (ca. 1675), aber eine Reihe von bewussten Anachronismen – Feldtelefon, Schreibmaschine und „Rote-Kreuz-Kasten“ – untergraben diese historische Einordnung sofort wieder auf ironisch-subversive Weise. Außerdem erinnern die weiß geschminkten Gesichter des Kurfürsten und seiner Offiziere an die anonymen Masken des antiken Theaters und lassen dadurch vor allem die Soldaten zu Archetypen ihrer selbst werden. Damit gewinnt die Inszenierung auch optisch eine Zeitlosigkeit, die den Konflikt zwischen Individuum und Staats- wie Kriegsmaschinerie treffend zum Ausdruck bringt.
Das Ensemble besticht durch eine geschlossene Gesamtleistung und überzeugende Protagonisten. Volker Muthmann bringt den Prinzen als zerrissenen Schwärmer auf die Bühne, der den verfrühten Befehl weniger aus militärischem Eifer denn aus innerer Verzweiflung befiehlt, weil er einmal eine identitätsstiftende Tat vollbringen möchte. Natalie ist ihm mehr als die kommende Schlacht, und während dieser sieht er sich plötzlich zwischen den Stühlen einer vergeblichen Liebe und einer verlorenen Karriere sitzen. Muthmann bringt diese Verzweiflung und die tief sitzende Abneigung gegen den Krieg sowohl gestisch als auch durch seine gesamte Körpersprache zum Ausdruck, wenn er alles spontan-sprunghaft angeht, so als ob er stets vor etwas auf der Flucht wäre. Sein Friedrich ist von Anfang an verzweifelt und innerlich zerrissen, und sein Flehen um Gnade bei den Frauen gehört zu den stärksten Szenen dieser Inszenierung. Eine weitere sehr starke Partie spielt Iris Melamed, die der Prinzessin Natalie – verarmte Waise aus der Familie des Kurfürsten – die ganze Bandbreite unterdrückter weiblicher Emotionen verleiht. Wie diese Natalie zwischen Verklemmung, Sehnsucht nach Zärtlichkeit und gesellschaftlichem Anstand hin und her schwankt, das ist sehenswert weil brillant gespielt. Auch der Mut zur Hässlichkeit ist zumindest anzumerken, denn Iris Melamed sieht in ihrem schwarzen Kostüm, ihren festgebundenen strohigen Haaren und dem verhärmt geschminkten Gesicht derart unattraktiv aus, das man sich fragt, was der Prinz an ihr findet. Nebenbei liefert hier der Regisseur noch ein ungeschminktes Frauenbild des kurfürstlichen Preußens ab, das jeder offiziellen Schönfärberei Hohn spricht. Uwe Zerwer spielt den Kurfürsten mit angemessener aber nie übertriebener Statur. Friedrich Wilhelm ist bei ihm ein eher denkender denn tobender Herrscher, der sich mehr gezwungen denn freiwillig mit der Insubordination des Prinzen auseinandersetzen muss. Auch er eher ein Getriebener des (Staats-)Systems denn ein skrupelloser Unterdrücker. Klaus Ziemann gibt einen aufrechten preußischen Obristen Kottwitz vom Typ „alter Haudegen“, die übrigen Rollen sind zwar gut besetzt, bleiben aber eher im Hintergrund. Dies gilt vor allem für die Offiziere, die in ihrer Zahl einen Eindruck von der Bedeutung des preußischen Militärs geben, genau wie die Frauen in ihren schwarzen Kleidern die Rolle der Frauen Preußens widerspiegeln.
Das Premierenpublikum nahm diese Neuinszenierung freundlich auf und spendete vor allem Volker Muthmann (Prinz Friedrich von Homburg), Iris Melamed (Prinzessin Natalie) und Uwe Zerwer (Kurfürst) kräftigen bis begeisterten Beifall. Auch die Regie erhielt diesmal kräftigen Applaus.
Frank Raudszus
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