Beklemmende Aktualisierung eines zeitlosen Stoffes

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Giacomo Pucchini (1858-1924) entnahm den Stoff für seine Oper „Tosca“ aus dem Jahre 1900 dem Drama „La Tosca“ von Victorien Sardou. Die Handlung um politische Unterdrückung und Mord, persönlichen Mut, Erpressung und Opferbereitschaft spielt zwar in Italien, doch eher in einer fiktiven politischen Situation. Die Oper übte damit bei der Uraufführung mangels totalitärer Verhältnisse in Europa eine eher exemplarische Wirkung aus und wurde hauptsächlich wegen ihrer künstlerischen Qualität ein Erfolg. Regisseur Philipp Kochheim wollte in Darmstadt offensichtlich dieses Ausweichen ins Allgemein-Menschliche verhindern und das Publikum mit einer konkret-historischen Situation konfrontieren, die eine ausschließlich ästhetische Rezeption nicht erlaubt. Er hätte dafür mehrere Möglichkeiten gehabt: das Nordkorea eines Kim Jung il, den Irak eines Saddam Hussein – oder das Chile des General Pinochets. Er hat sich für letztere Variante entschieden, wohl, weil diese die reinste Form geplanten staatlichen Terrors im westlichen Kulturkreis darstellt. Die anderen beiden Fälle bieten zwar einen durchaus höheren Grad von Grausamkeit, sind jedoch dem hiesigen Publikum wegen des unterschiedlichen kulturellen Hintergrunds wohl schwerer zu vermitteln. Außerdem mag er bei einer zu ausgeprägten Aktualisierung politische Verwerfungen à la „Idomeneo“ befürchtet haben. Doch sei’s drum: die Wahl Chiles ist durchaus nachvollziehbar und gerechtfertigt.

Anja Vinken (Tosca), Zurab Zurabishvili (Cavaradossi)

Anja Vinken (Tosca), Zurab Zurabishvili (Cavaradossi)

Philipp Kochheim begnügt sich jedoch nicht mit einem mehr oder minder symbolischen Verweis auf Chile, sondern baut die historische Situation von 1973 kompromisslos in seine Inszenierung ein. Zwar behalten die Personen ihre Namen, doch vom Bühnenbild bis hin zum Text nimmt Kochheim durchgehend expliziten Bezug auf die chilenische Lage in den siebziger Jahren. Eine allgemeine, ästhetisierende Verurteilung staatlichen Terrors lässt sich aus dieser Inszenierung nicht ableiten. Die Konfrontation mit den historischen Ereignissen kommt abrupt und ohne Zugeständnisse, auch wenn sie verpackt ist in die fiktive Opernhandlung.

So ist Mario Cavaradossi, Geliebter der Opernsängerin Tosca, hier kein Kirchenmaler, sondern Fotograf. Angelotti wird zum verfolgten Gewerkschaftler, der sich in Cavaradossis Wohnung flüchtet und von diesem versteckt wird. Polizeichef Scarpia ahnt jedoch sofort, dass Cavaradossi etwas mit den Verschwinden zu tun haben muss, da Angelottis Schwester im selben Haus wohnt. Als Cavaradossi beim Verhör keine Aussagen zum Verbleib von Angelotti macht, lässt Scarpia ihn in Toscas Anwesenheit so lange foltern, bis sie zusammenbricht und dessen Versteck verrät. Der verzweifelte Cavaradossi äußert daraufhin seinen Hass auf die Regierung und wird dafür zum Tode verurteilt. Der um Gnade flehenden Tosca eröffnet Scarpia einen rettenden Weg, der jedoch auf sexuelle Erpressung hinausläuft. Als er ihr nach ihrem schwer erkämpften Einverständnis den Passierschein für sie und Mario übergibt, erdrosselt sie ihn. Mario wartet derweil im Stadion von Santiago auf seine Hinrichtung, die laut Scarpias letzter Anweisung nur zum Schein stattfinden soll. Als Tosca jedoch nach dem Pistolenschuss des Polizeischergen Spoletta feststellt, dass dieser sie – in stillem Einverständnis mit Scarpia – betrogen und Cavaradossi tatsächlich erschossen hat, wirft sie sich in den mit Hochspannung gesicherten Stadionzaun.

Jeffrey Treganza (Spoletta), Chor und Statisten (Soldaten und Gefangene)

Jeffrey Treganza (Spoletta), Chor und Statisten (Soldaten und Gefangene)

Kochheim und seine Bühnenbildnerin Uta Fink lassen von Anfang an keinen Zweifel an der hoffnungslosen Dramatik des Stoffes aufkommen. Das erste Bild zeigt Cavaradossis Wohnung und den zugehörigen Hausflur. Fotos von Ché Guevara und verschiedenen Frauen zieren die Wände seines Zimmers, eine Madonna mit Kind die Wand des Flurs, vor der sich jeder Ankömmling bekreuzigt und betet. Ein denunziatorischer Hausmeister schleicht um Cavaradossi herum, um prophylaktisch belastendes Material zu sammeln. Hier taumelt der flüchtige Angelotti mit blutverschmierten Hemd hinein und verbreitet vom ersten Moment den Schrecken des Polizeistaates, in dem jeder permanent in der Angst vor der Polizei lebt. Zwar zeigt sich Cavaradossi als lebenslustiger und gutmütiger Mensch, doch die Umstände treiben ihm seine Lebensfreude schnell aus. Nur Tosca, die mit Einkaufstüten voller Reizwäsche bei ihm einfällt und wegen der abgeschlossenen Tür sofort weibliches Unheil wittert, muntert ihn kurzfristig auf, wundert sich jedoch, warum er sie so schnell wieder los werden will. Von dem hinter der Badezimmer fast verblutenden Angelotti weiß sie vorerst noch nichts. Die plötzlich einbrechende Polizei mit Scarpia an der Spitze stellt die Wohnung des mittlerweile samt Angelotti verschwundenen Cavaradossi auf den Kopf, ohne etwas Belastendes zu finden, und Spoletta erschießt den unterwürfig sein Unwissen bekundenden Hausmeister aus purer Frustration wegen der fehlgeschlagenen Hausdurchsuchung.

Das zweite Bild zeigt das Hauptquartier der Polizei mit Scarpias Schreibtisch in zentraler Position. Den Hintergrund der Bühne beherrscht eine Video-Überwachungsanlage, die bei genauerem Hinsehen „Live“-Bilder aus der Tiefgarage zeigt, und bewaffnete Soldaten treiben Gefangene unter Misshandlungen über die Bühne. Krankenschwestern verhören an langen Tischreihen die verhafteten Einwohner, und auf der anderen Seite verüben Ärzte in weißen Kitteln undefinierbare Experimente an festgeschnallten Patienten. Mit diesem Bild klagt Kochheim eindeutig die heilende Zunft einer unseligen Komplizenschaft mit den Herrschenden an und zielt damit offensichtlich nicht nur auf chilenische Mediziner der siebziger Jahre. Hier spielen sich die „Verhandlungen“ zwischen Scarpia und Tosca ab, während Cavaradossis Schmerzensschreie gedämpft aus dem Bühnenrückraum dringen, hier erfährt dieser blutüberströmt und nahezu bewegungsunfähig den der Liebe abgepressten Verrat Toscas, und hier kämpft diese ihren langen Kampf mit Scarpia und ihrem eigenen Ehrgefühl, bis sie mit ihrer erotischen Zusage den vermeintlichen Passierschein erringt und sich für die ihr zugedachte Schmach an Scarpia rächt.

Zurab Zurabishvili (Cavaradossi)

Zurab Zurabishvili (Cavaradossi)

Den letzten Akt dominieren Betonstufen und -aufgang des Stadions, die sich wie eine hohe, drohende Wand am Bühnenvordergrund erheben. Gefangene liegen, offensichtlich misshandelt und notdürftig mit Decken zugedeckt, apathisch auf den Stufen, Soldaten überwachen sie mit dem Gewehr im Anschlag, während ihre wachfreien Kameraden es sich hinter dem Elektrozaun gemütlich machen. Als eine erschöpft daliegende junge Frau sich einer neu eingelieferten Mutter und deren kleinem Sohn nähert und mit ihnen spricht, zerrt ein Soldat sie mit Gewalt hinter die Stufen, um nach einigen Minuten unter Richten der Hose wieder hervorzukommen. Die Frau kriecht etwas später vollkommen zerstört wieder auf ihren Platz an der Treppe. In dieses apokalyptische Ambiente stolpert der körperlich und seelisch erschöpfte Cavaradossi hinein, um seiner Hinrichtung entgegenzusehen. Ein so gelangweilter wie machtbewusster Oberaufseher teilt ihm die noch verbleibende Zeit – eine Stunde – mit und entlässt ihn dann auf die Stufen des Stadions, wo ihn Tosca findet. Nach Ablauf der bemessenen Stunde taucht der zynische Spoletta auf, um in Toscas Anwesenheit die angeblich nur scheinbare Hinrichtung durchzuführen. Mit kaltblütiger Mordlust setzt er dem auf die nahe Freilassung hoffenden Cavaradossi erst die Pistole ins Genick, nimmt dann drei Meter Abstand und erschießt ihn kaltblütig von hinten. Die bewegendsten Augenblicke sind die, wenn Tosca dem in ihren Augen nur scheinbar Toten zuraunt, sich nicht zu früh zu bewegen, und dann auf schnellen Aufbruch dringt. Auch der Handlung unkundige Zuschauer wissen an dieser Stelle um die schreckliche Wahrheit. Nach deren Erkenntnis sieht auch Tosca angesichts der sie umstehenden Soldaten keinen anderen Ausweg als den Freitod.

Die Musik fügt sich dem durch das Bühnenbild geschaffenen Gesamteindruck nahtlos ein. Puccini verbindet die romantische Tradition der eingängigen und ausdrucksstarken Themen mit moderner Expressivität, gewagten Harmonien und aufschreckenden rhythmischen Elementen. Das Schöne dominiert auch seine Musik über weite Strecken, doch der Schrecken spiegelt sich bei ihm auch in schroffen Klängen und harten Rhythmen. Hier verliert die Musik ganz bewusst den aus Klassik und Romantik überkommenen ausgewogenen und harmonischen Charakter. Grausamkeit, Schmerz und Leid lassen sich mit schöner Musik nicht mehr angemessen darstellen, dient diese doch letzten Endes nur der Marginalisierung und Bagatellisierung des Schreckens. Das Orchester unter der Leitung von Martin Lukas Meister agiert zu jeder Zeit auf der Höhe der Bühnenhandlung und interpretiert diese auf eine sehr präsente doch nie dominante Weise. Die Kunst bei diesem dramatischen Stück liegt darin, die Musik über den Geschehnissen nicht vergessen zu machen, sie nicht zum reinen akustischen Beiwerk werden zu lassen. Doch die kompromisslose, jedem falschen weil nur schönen Klang abholde Interpretation lässt diese Gefahr gar nicht erst aufkommen. Selbst in den lyrischen Partien kommt nie so etwas wie Heiterkeit auf. Die Freude am Leben scheint nie echt, immer nur der Wirklichkeit gestohlen. Die Musik entlarvt den Schein des Friedens und der Liebe und bewahrt stets eine gewisse Distanz auch in den wenigen heiteren Momenten. Diese sind schließlich selbst doppelbödig, denn während des Liebesgeplänkels zwischen Cavadarossi und Tosca leidet Angelotti im Bad Höllenqualen. Das Orchester lieferte mit der Interpretation der sicher nicht einfachen Musik Puccinis wieder einmal ein Meisterstück an Farbigkeit, Nuancenreichtum und Ausdruckskraft ab.

Jeffrey Treganza (Spoletta), Zurab Zurabishvili (Cavaradossi), Christopher Ryan(Schließer)

Jeffrey Treganza (Spoletta), Zurab Zurabishvili (Cavaradossi), Christopher Ryan(Schließer)

Ähnliches lässt sich vom singenden und schauspielernden Ensemble sagen. Zurab Zurabishvili ließ in der Rolle des Cavaradossi nichts von den zuvor angekündigten Folgen einer schweren Erkältung spüren und zeigte bis zum Schluss hohe stimmliche und darstellerische Präsenz, was vor allem angesichts der besonderen darstellerischen Anforderungen als Gefolterter und schwer Gezeichneter hervorzuheben ist. Anja Vincken stand ihm zumindest stimmlich in nichts nach und zeigte auch eine breite Palette schauspielerischer Fähigkeiten. Nur in dem entscheidenden Gespräch mit Scarpia erschien sie zeitweise etwas statisch; der innere Konflikt zwischen der Liebe zu Cavaradossi und dem eigenen Ehrgefühl hätte etwas schärfer zum Ausdruck kommen können. Dennoch überzeugte auch sie durch die Strahlkraft und die Ausdruckskraft ihres Gesangs. Riccardo Lombardi gab überzeugend den klassischen Offizier mit Herrscherdünkel und kalt kalkuliertem Machtgenuss, Jeffrey Treganza war die Reinkarnation des zynischen und skrupellosen Emporkömmlings. Hans-Joachim Porcher hatte als Gewerkschaftler Angelotti nur einen kurzen Auftritt im ersten Akt, absolviert diesen jedoch glaubwürdig und mit der ihm eigenen Stimmsicherheit.

Diese Inszenierung dürfte die Gemüter noch länger bewegen und neben überzeugten Fürsprechern auch Gegner finden, vor allem aus dem konservativen Lager. Auf jeden Fall kann sich niemand ihrer Wirkung entziehen und jeder muss sich dem konkreten Schrecken eines historischen politischen Systems stellen.

Frank Raudszus

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