Claudio Monteverdis „L´Orfeo“ zum Auftakt der neuen Opernsaison in Darmstadt
Mit dem Intendantenwechsel im Darmstädter Staatstheater hatten viele Opernfreunde dem gefeierten und erfolgreichen Friedrich Meyer-Oertel nachgetrauert, skeptisch gegenüber dem – zumindest für die Darmstädter – „unbeschriebenen Blatt“ John Dew, neuer Intendant und gleichzeitig Opernspezialist. Mit Claudio Monteverdis „L´Orfeo“ gab er Ende September seinen Einstand und bewahrheitete damit sogleich das alte Sprichwort „Der König ist tot, es lebe der König“.
„L´Orfeo“ gilt unter den Experten als eine der ersten Opern im heutigen Sinne, ja, vielleicht sogar als deren Ursprung. Erzählt sie doch eine dramatische und tragische Geschichte, die in sich abgeschlossen ist. Das musikalische Element dient hier weder als reine Belustigung wie in frühen Singspielen noch als hymnisch-klerikale Anbetung der göttlichen Instanz sondern als Spiegel menschlicher Gefühle und Leiden.
Die Handlung selbst gibt den uralten Orfeus-Mythos wieder: Orfeus heiratet die geliebte Eurydike, verliert sie aber umgehend durch einen Schlangenbiss an die Unterwelt. Mit seiner Leier zieht er zum Hades und betört sowohl den Fährmann Charon als auch Proserpina, die Gattin des Unterweltherrschers Pluto. Er darf Eurydike ins Reich der Lebenden zurückführen, sich aber auf dem Wege nicht nach ihr umdrehen. Als schwacher Mensch tut er aus Liebe natürlich gerade dies und verliert sie auf ewig. Den Verzweifelten tröstet sein Vater Apollon mit der Unsterblichkeit.
Der Mythos vereint die elementaren und diametralen Triebkräfte menschlichen Lebens: Liebe und Tod. Der Mensch ist diesen Kräfte ausgeliefert und kann sie mit seinen transzendenten Fähigkeiten – und nichts anderes ist der Gesang – nur zeitweise aussetzen. Gehen Liebe und Gesang noch gemeinsame Wege ohne inhärenten Konflikt, stemmt sich der Tod allen menschlichen Bemühungen wie eine große Mauer entgegen. Doch selbst diesen kann die Kunst besiegen, wenn auch nur kurzfristig, und der Preis für diese Überwindung ist hoch. Die Ohnmacht des Menschen – hier ausgedrückt im Rückschauen Orfeus´ – ist ihm immanent und Teil des Lebens.
Monteverdi hat das Rezitativ als wichtigstes musikalisches Mittel in den Mittelpunkt seiner Oper gestellt. Die Texte werden nicht in freier musikalischer Form mit entsprechend voluminöser Begleitung des Orchesters präsentiert, sondern als kunstvoller Sprechgesang, der nur selten in eine freie musikalische Ausdrucksform übergeht, und mit minimaler Begleitung durch das Orchester. Doch wer meint, dies mindere die Tiefe und Intensität des Ausdrucks, irrt. Die Beschränkung – nicht Reduzierung! – des oralen Ausdrucks auf eine dicht an der Sprache orientierte Form erlaubt eine zumindest ebenso intensive Wiedergabe von Emotionen wie eine „ausgesungene“ Arie à la Mozart oder Verdi. Technisch sind die Anforderungen sogar höher, da die Solisten sich immer auf dem schmalen Grat zwischen spannungsloser Sprache und freiem Gesang bewegen müssen. Aus dem Orchester kommen zu diesen Rezitativen – vor allem den großen Solo-Arien – nur wenige „Tupfer“, im Wesentlichen vom Cembalo und der Holzorgel mit ihren lang ausgehaltenen, tiefen Lagen, daneben von einer Reihe alter Lauten-Instrumente, die man in einer solchen Ansammlung noch nie im Darmstädter Orchester gesehen bzw. gehört hat, und feinen Kommentaren der Streicher. An besonders markanten Stellen greifen die Blechbläser ein: So zu Beginn, wenn Fanfaren aus dem Hintergrund des Zuschauerraums ertönen, oder beim Eintritt in die Unterwelt.
Die einleitenden Bläser-Fanfaren begleiten auch den Chor auf die Bühne, der sich als lustig lärmende Hochzeitsgesellschaft durch den Zuschauerraum zur Bühne begibt, die dort dem Prolog der „Musica“, einer harlekinartigen Figur, lauscht. Diese „Musica“, dargestellt von Gerson Luiz Sales in der Manier eines Counter-Tenors, führte in der ursprünglichen Aufführungspraxis das fürstliche Publikum in die Oper ein. Hier verdoppelt sich dieses Publikum um die fiktive Hochzeitsgesellschaft auf der Bühne und bringt dadurch eine reizvolle Brechung der Bezugsebenen ins Spiel. Dieser Prolog lässt sich auch als die Urform der Opern-Ouvertüre deuten, die sich später zu wahren Miniatur-Sinfonien entwickelte.
Bühnenbild und Kostüme der Inszenierung glänzen mit viel Farbe. Der Bühnenboden schwingt sich nach hinten zu einem Halbrund mit anschließendem blauen, von Wolken durchzogenen Himmel auf. Links und rechts stehen hohe Trennwände puristisch für Säulengänge. Die Kostüme sind zeitlos-modern, die Männer meist in hellen Leinenanzügen, die Damen des Chors in pastellfarbenen Kleidern. Die Protagonisten heben sich hiervon je nach Stellung ab: Eurydike im Hochzeitskleid, auch noch im Tod, Pluto als grün geschuppte Schlange – er hat sich über den Schlangenbiss Eurydike in den Hades geholt-, Proserpina mit einem symbolisch halbierten Kleid – halb grün wie Pluto, halb hell wie die Menschen -, die Diener des Hades in schwarz-grauen Fledermaus-Umhängen, glatzköpfig und furchterregend. Die Messagiera schließlich, die mit der bösen Botschaft von Eurydikes Tod Entsetzen auslöst, stürzt mit bleicher Maske und schwarzem Kleid auf die Bühne und zieht einen raumhohen, Unheil verheißenden Vorhang hinter sich her.
Die Musik lebt von der Welt des Frühbarocks zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Die Renaissance ist den Religionskriegen gewichen, Leid und Verfolgung breiten sich aus und üben ihre Wirkung auf die Menschen aus. Dieses Leid und die gewaltigen geistigen Umbrüche des 16. Jahrhunderts sind hier im Mythos des Orfeus verdichtet, zielen jedoch – ob unbewusst oder bewusst – auf die Befindlichkeit der Menschen in dieser Zeit. So überwiegt auch das – begründete – Klagen in der Musik, von der anfänglichen Hochzeitsfeier und ihrer Ausgelassenheit einmal abgesehen. Die Kernaussage erscheint zu Beginn des dritten Aktes, wenn Orfeus vor der Unterwelt steht, auf dem Vorhang: „Lasciate ogni speranza voi ch´entrate“; Dantes Wort aus der „Göttlichen Komödie“: „Ihr, die Ihr hier eintretet, lasset alle Hoffnung fahren!“.
Dem Ensemble gelingt es in hervorragender Weise, diese Aussage in emphatische Musik umzusetzen. Dabei liegt das Schwergewicht auf den Gesangssolisten, die in ihren Rezitativ-Arien die Emotionen der Protagonisten ausdrücken müssen. Zuallererst ist dabei Andreas Wagner zu nennen, der mit dem Orfeus die tragende Rolle innehat und es schafft, den Spannungsbogen bis zum Schluss aufrecht zu erhalten. Selten hat man ihn so intensiv und auch technisch so überzeugend erlebt. Daneben fallen die anderen Darsteller jedoch nicht ab, auch wenn sie nur kürzere oder weniger tragende Partien zu bewältigen haben. Julia Amos verleiht der Eurydike den Charme einer glücklichen jungen Braut und zum Schluss die Entsagung der zum zweiten Mal Gestorbenen. Elisabeth Hornung gibt eine geradezu furchterregende Messagiera, die von ihrer Botschaft selbst am meisten verstört – ja, zerstört – ist. Andrea Bogner als Proserpina und Tito You als Pluto liefern sichere und auch schauspielerisch gekonnte Partien ab, und Gerson Luiz Sales eröffnet und beschließt den Abend mit einer leichtfüßigen Interpretation der „Musica“. Hervorzuheben ist auch der Chor, der unter der Leitung von André Weiß wieder einmal durch seine Stimmsicherheit und darstellerische Beweglichkeit überzeugt. Das Orchester unter Chefdirigent Stefan Blunier besticht vor allem durch die ungewohnte Instrumentation sowie die exakte Ausformung der feinen Begleitstrukturen, kann sich aber in dramatischen Momenten auch durchaus zu harmonischer und instrumentaler Fülle aufschwingen.
Das Publikum geizte bereits zur Pause nicht mit Beifall und verabschiedete das gesamte Ensemble einschließlich Regie mit einhelligem, ausgiebigem Beifall, von dem der Löwenanteil auf Andreas Wagner entfiel.
Frank Raudszus
No comments yet.