Die Fragwürdigkeit von Opernlibretti haben wir an dieser Stelle schon öfters diskutiert, jedoch auch die Kunst von Regisseuren, auch aus einem schwachen Libretto etwas herauszuholen oder es aber im Rahmen gestalterischer Freiheiten neu zu interpretieren. Gerade in Darmstadt haben die meisten Regisseure versucht, das Verborgene eines Librettos hervorzuholen und eine Aussage zu formulieren. Wenn man jedoch die Wiesbadener Inszenierung von Tschaikowskys „Eugen Onegin“ betrachtet, sieht man, was dabei herauskommt, wenn lediglich der Handlungsablauf der Geschichte ohne jegliche Reflexion „abgespielt“ wird, als wäre dies ausreichend für eine gelungene Aufführung.
Worum geht es in dieser Oper? Im Hause der verwitweten Gutsbesitzerin Larin wachsen zwei Töchter auf, die mit dem jungen Lenski verlobte Olga und die verträumte Tatjana. Als Lenski eines Tages seinen Freund Eugen Onegin mitbringt, verliebt sich Tatjana Hals über Kopf in ihn und gesteht ihm ungefragt per Brief ihre Liebe. Der erstaunte und etwas konsternierte Onegin erwidert jedoch die Liebe nicht und tanzt auf dem anschließenden Ball anlässlich Tatjanas Namenstages ausgiebig mit Olga, die sogar Spaß an Lenskis Eifersucht findet. Dieser fordert seinen Freund nach einem erregten Disput zum Duell auf Pistolen und findet dabei den Tod. Onegin sucht in ausgedehnten Reisen Vergessen, kommt eines Tages an den Hof des Fürsten zurück und muss feststellen, dass Tatjana nun mit diesem verheiratet ist. Nun erst wird er sich seiner Liebe bewusst und gesteht sie Tatjana in einer Aussprache. Sie, die ihn immer noch liebt, weist ihn jedoch zurück und bleibt bei ihrem Mann.
Zugegeben: dies Libretto hat Schwächen. Warum brüskiert Onegin Tatjana zu Beginn, vor allem, warum macht er ausgerechnet der Verlobten seines besten Freundes den Hof? Ist er ein unverbesserlicher Don Juan? Dann hätte er aber seine Chance bei Tatjana genutzt. Ist er ein prinzipienloser Libertin oder vielleicht ein Vertreter der revolutionären Intelligentia, der bewusst Konventionen missachtet und bricht? Oder ist er vielleicht ein nicht mehr in die Zeit passender Menschentyp wie Musils Ulrich im „Mann ohne Eigenschaften? Eine ganz besondere Interpretation ergibt sich noch aus Tschaikowskys vermuteter Homosexualität. Demnach hat Onegin aus enttäuschter Liebe zu seinem Freund mit Olga angebändelt und bewusst den Bruch und den – eigenen? – Duell-Tod in Kauf genommen.
Von jeder dieser Seiten hätte man die Inszenierung „aufziehen“ können, und Friedrich Meyer-Oertel hat in seiner Darmstädter Version des „Don Giovanni“ gezeigt, wie man so etwas konsequent macht. Doch Siegfried Schoenbohm tut nichts dergleichen. Er erzählt einfach die Geschichte und geht den Hintergründen nicht nach. Bei ihm bleibt die Figur des Onegin vollkommen unscharf, noch nicht einmal zum Rätselhaften reicht es. Genauso wenig, wie die plötzliche Liebe Tatjana zu ihm schlüssig aus der Handlung hervorgeht – sie ist plötzlich einfach da -, so undeutbar sind Onegins Motive und sein Charakter. Und da ihm zu dieser Rolle offensichtlich keine Marschroute vorgegeben wurde, verharrt Thomas de Vries folgerichtig in einer hölzernen Pose und kommt nicht aus sich heraus. Mit der Schwäche dieser Schlüsselrolle steht und fällt denn auch die gesamte Inszenierung, und sie fällt!
Darüber hinaus hat Regisseur Schoenbohm keine glückliche Hand mit der Szenenabfolge. Viel zu lange dauert bei ihm die Schlafzimmerszene der Tatjana, in der sie sich ihrer Liebe bewusst wird und sie auf Papier bringt. Und wenn man glaubt, die Szene sei zu Ende, beginnt sie unerwartet nach wenigen Momenten in der gleichen Weise wieder, ohne Steigerung, ohne echte Tiefe. Diese Szene hätte man gut um die Hälfte kürzen können, ohne dem Stück wesentliche Handlungselemente zu nehmen.
Unter der fehlenden Notwendigkeit des dramatischen Geschehens leiden auch die anderen Rollen. Da sich die anderen Darsteller nicht an der Schlüsselperson ausrichten können, spielen und singen sie ihren Part herunter, ohne dass sich eine schlüssige und emotionell überzeugende Aussage ergibt. Lenski und Olga sind ein verliebtes Paar, und so ist Lenskis Ärger über sie und Onegin verständlich. Da aber in der Wiesbadener Inszenierung Onegin sich Olga gegenüber geradezu als Gentleman benimmt und ihr in keinem Moment sichtbar zu nahe tritt, wirkt Lenskis Reaktion überzogen und unverständlich. Es scheint fast, als müsse er es tun, damit die Handlung weiter gehe….
Die ausbleibende Reaktion der beiden Frauen auf das tödliche Duell stellt eine weitere Schwäche des Librettos dar und macht den anschließenden Zeitsprung noch problematischer, denn plötzlich tritt der Mann, der Unglück über sie und ihre Schwester brachte, abrupt in Tatjanas Leben, ohne dass man etwas über sie und ihre Schwester erfahren hätte. Olga verschwindet sogar vollständig aus der Handlung. Dieser Bruch der Kontinuität tut ein Übriges, um dem Stück die innere Konsequenz auszutreiben.
Schließlich beteiligt sich auch das Orchester an der allgemeinen Beliebigkeit. In vielen Szenen, so bei dem Duell, erscheint die Musik eine Spur zu langsam oder für das Tempo zu spannungslos. Stattdessen werden die Motive emphatisch und teilweise pathetisch intoniert und geraten damit in die Nähe einer falschen Sentimentalität. Generell fehlt dem Orchester die innere Spannung, die Musik ist über lange Strecken zu „nett“ und unterhaltsam. Dem passt sich der Chor an, der auch nicht gerade durch Witz glänzt. Die Gesellschaftstänze hätte man mit viel mehr gesellschaftskritischer Ironie würzen oder mit übertriebenem Glamour lächerlich machen können. Die milde Parodie in Form einer offensichtlich gewollten Steifheit reicht nicht aus, um die Wesensmerkmale dieser adligen Gesellschaft auf den Punkt zu bringen.
Einer der schwerer wiegenden Faux Pas dieser Inszenierung liegt jedoch in den Zwischentexten auf dem Gaze-Vorhang. Diese aus dem Russischen übersetzten Puschkin-Texte kommen daher wie schlechte Knittel-Verse von Wilhelm Busch. Oftmals stolpert das Versmaß auf grausame Weise, und bisweilen fehlt sogar der rechte grammatische Zusammenhang. So sorgten ausgerechnet diese ernst gemeinten Zwischentexte für unfreiwillige Heiterkeit; jedoch eine Heiterkeit, die für die Aufführung eher wie ein Todesstoß denn wie eine Aufmunterung wirkten.
Für eine der wenigen positiven Seiten dieser Inszenierung steht das Bühnenbild. Wolfgang Reuter spielt mit Scherenschnitt-Motiven, bringt mit lebensgroßen Birken russische Atmosphäre auf die Bühne und lässt in der Duell-Szene das ganze Grauen eines tödlichen Morgens entstehen. Die gesanglichen Leistungen hielten sich dagegen in Grenzen, von der verzweifelten Arie des Lenski (Axel Mendrok) und der Liebes-Arie des Fürsten Gremin (Thomas Mehnert) einmal abgesehen. Selbst Oxana Bescherova als Tatjana hatte bisweilen Probleme, sich gegen das Orchester durchzusetzen, hatte daneben aber auch überzeugende Momente.
Das Publikum quittierte diese schwache Inszenierung denn auch mit eher lauem Beifall, und nach zwei Vorstellungsrunden des Ensembles war dann auch schon Schluss.
Frank Raudszus
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