In Opern muss es sich nicht immer nur um Liebe und Leid drehen, obwohl dieses Paar noch in jede Handlung hineinspielt. Auch erfolgreiche politische Libretti kennt die Operngeschichte, und eines der wichtigsten dieser Art hat Giuseppe Verdi vertont: „Die sizilianische Vesper“. Angesichts der Urfassung seiner Oper „Gustavo III“, die später in einer überarbeiteten Version als „Der Maskenball“ bekannt wurde, lohnt sich ein knapper Vergleich der Ausgangspunkte.
In der „Vesper“ entfaltet sich vom ersten Moment an eine dramatische Situation: die Besetzung Siziliens durch die ungeliebten Franzosen, die Unterdrückung des Volkes und die beginnende Revolte. Die Handlung ist von Anfang an stimmig und entwickelt sich konsequent auf das desaströse Ende zu. Entsprechend diesem logischen inneren Aufbau ergibt sich auch – man möchte fast sagen: automatisch – die innere Dramatik und Wirkung der Musik. Im „Gustavo III“ dagegen stellt sich die Situation deutlich anders dar. Wir erleben einen „guten“ Herrscher, der im Volk weit und breit beliebt ist und sich bereits in der ersten Szene dieser Liebe würdig zeigt. Die gegen ihn laufende Verschwörung entbehrt jeglicher aus der Konstellation sich ergebender Notwendigkeit. Der Hintergrund der Verschwörer und ihre politischen Motive werden nicht ausgeleuchtet, schon gar nicht wird ein großer Konflikt heraufbeschworen. Zwar erwähnen die Verschwörer einmal kurz ihre eher privaten Rachegründe, diese werden jedoch in keiner Weise von irgendeiner „objektiven“ Instanz innerhalb des Librettos bestätigt. Sie können also reiner Vorwand sein und erhalten ihre einzige Berechtigung aus der historischen Vorlage.
Auf der anderen Seite steht der persönliche, erotische Konflikt. Ohne historischen Hintergrund der Handlung hinzugefügt, wirkt diese Geschichte konstruiert, weil sie mit dem politischen Hintergrund oder mit der Verschwörung nichts zu tun hat. Außerdem handelt es sich hier nicht um den klassischen „tragischen“ Konflikt, aus dem die Liebenden keinen Ausweg finden, sondern es geht eher um außereheliche Erotik, wie sie in den besten Familien vorkommt. Gustav liebt Amelia, die Frau seines besten Freundes Graf Ankastrom, und sie liebt offenbar auch ihn. Doch die Liebe bleibt platonisch, wird nur verbal mitgeteilt. Die beiden könnten sich in jedem Fall den Konventionen beugen und vermieden dadurch jeden dramatischen Konflikt. Die schlechte Ironie des Librettos will es sogar, dass Gustavo eben dies tut, Entsagung üben, und nur dem aus Eifersucht geborenen Irrtum und Misstrauen seines Freundes zum Opfer fällt. Eine weitere Schwäche der Handlung, denn Ankastrom unternimmt rein gar nichts, um die Situation zu klären. Das von ihm zufällig entdeckte Treffen Gustavos mit Amelia an einem erotisch wenig verdächtigen Ort, dem Galgen, dient in keiner Weise als Beweis für einen Ehebruch. Ankastrom jedoch handelt in überhasteter Raserei, als habe er die beiden im Bett erwischt.
Nun sind Opernlibretti nicht gerade für ihre logische Stringenz berühmt. Man denke da nur an die „Zauberflöte“. Aber in vielen Fällen besteht auch kein entsprechender Anspruch, und die Qualität der Oper liegt in anderen Bereichen, so bei der letzteren im Märchenhaften. Bei „Gustavo“ jedoch bildet die Verschwörung den Handlungsmittelpunkt und impliziert damit eine gewisse Notwendigkeit, die zum tödlichen Ausbruch des Konflikts führt. Was bei anderen Opern als Schönheitsfehler geduldet wird, trifft hier das Werk ins Mark. Ohne echten Konflikt, ohne zwingende Dramatik dümpelt die Handlung als unterhaltsame Hofintrige dahin, die niemanden wirklich ergreift. Das strahlt letztlich auch auf die Musik aus, die einer sich eher zufällig entwickelnden Dramatik keine innere Logik verleihen kann.
Natürlich war ein Komponist wie Verdi in der Lage, dieser Handlung seinen musikalischen Stempel aufzudrücken, und seine Musik ist tatsächlich von Beginn an „reiner Verdi“. Liebhaber seiner Opern werden sich daher bei dieser Inszenierung sicher wiedergefunden haben. Die Musik folgt der Handlung und betont die jeweilige Atmosphäre, sei es durch okkultes Geraune beim Auftritt der Wahrsagerin Ulrika – übrigens eine weitere Figur, die weder mit der Verschwörung noch mit der falschen Liebe etwas zu tun hat – sei es durch den Spott der Verschwörer gegenüber dem scheinbar „gehörnten“ Graf Ankastrom, sei es in der zupackenden Dramatik der Finalszene. Raoul Grüneis hatte das Orchester gut auf dieses Werk eingestellt und lieferte den musikalischen Auftritt wie aus einem Guss ab. Auch die Abstimmung mit der Bühne klappte ausgezeichnet, so wenn Oskar, der Page, seinen Stab genau zu den Schlägen des Orchesters aufsetzt, oder wenn ein wichtiges Stück Papier exakt im Takt der Musik zerrissen wird. Man hatte sich einige gute Ideen einfallen lassen, um Bühne und Orchester eng miteinander zu verzahnen, und dabei hat auch der von André Weiß geleitete Chor seinen Anteil. Er bestach wieder einmal durch hohe szenische Beweglichkeit und darstellerische Elemente. Allerdings musste er sich zu Beginn ein einzelnes „Buh“ gefallen lassen, als er zum Kostüm der Hofschranzen rote Faschingsnasen aufsetzte. Da zeigte jemand wenig Humor……
Das Bühnenbild gibt wenig Auskunft über die Gefühlswelt der handelnden Personen. Eine geometrisch abgezirkelte, nüchterne Palastwelt deutet auf nordisch unterkühlten Charakter und verzichtet auf jeglichen bühnentechnischen Kommentar. Regisseur Anthony Pilavachi und Bühnenbildner Piero Vinciguerra müssen die Unentschiedenheit des Librettos gespürt haben. Die Kostüme von Tatjana Ivschina halten sich vage ans Zeitkolorit. Schwarz-Rot überwiegt, nur die Frauen weichen davon deutlich ab: Oskar im leuchtenden Blau, Amelia im schmelzenden Pastellweiß und Ulrika in einem grauen Umhang.
Die Darsteller machten wieder einmal das Beste aus dem dünnen Libretto. Anton Keremidtchiev (Graf Ankastrom) merkte man von seiner angeblichen Erkältung nichts an, er lieferte die von ihm bekannte souveräne Partie ab. Mary Anne Kruger glänzte in der Rolle der Amelia, konnte sie doch vor allem bei den Arien ihre ganze Ausdrucksbreite und Stimmkraft ausspielen. Ihr zur Seite stand als Gustavo Scott MacAllister, der seinen Part ebenfalls sehr stimmsicher und kraftvoll interpretierte. Das Lyrische liegt ihm nicht ganz so, dafür war aber Mary Anne Kruger zuständig. Barbara Meszaros feierte als ein äußerst agiler und bübischer Oskar ein mit viel Beifall bedachtes Comeback an der Darmstädter Oper und hat sich ihre alte Fan-Gemeinde im Sturm zurück erobert. Thomas Fleischmann und Hans-Joachim Porcher gaben zwei eher im Hintergrund agierende Verschwörer, die jedoch im Spottlied auf Ankastrom sehr gut zusammenfanden.
Im Großen und Ganzen ein unterhaltsamer Verdi-Abend mit dramatischen Effekten und einigem Verdi-Schmelz, aber ohne die große Erschütterung und das tiefe Gefühl. Doch auch solche Opernabende muss es geben, denn nicht jedes Werk eignet sich zum Aufwühlen der Gemüter. Das Publikum muss ähnlich empfunden haben und applaudierte allen Beteiligten freundlich und ein bisschen mehr, zu „standing ovations“ reichte es diesmal jedoch nicht.
Frank Raudszus
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