Georg Büchner, jung gestorbener Revolutionär in Worten und Gedanken, ist vor allem in seiner Heimatstadt Darmstadt im Laufe der Jahre zum Klassiker geronnen. Seine Interpretation der französischen Revolution in „Dantons Tod“ hat sich in einem solchen Maße als literarisch abgeklärte Darstellung und Analyse der Pariser Ereignisse etabliert, dass oftmals der revolutionäre Impetus des Werkes und vor allem des jungen Autors darüber verloren gegangen ist. „Dantons Tod“ ist längst zum Repertoire-Renner des bürgerlichen Theaterbetriebs geworden und hat dadurch in gewissem Sinn seinen eigentlichen „Biss“ verloren. Das Staatstheater Darmstadt hatte den jungen Regisseur Benjamin Walther (Jahrgang 1975) mit einer Neuinszenierung dieses Stoffes beauftragt, und er hat sich dieser Aufgabe mit viel Mut und erstaunlicher Konsequenz angenommen.
Die Handlung ist im Grunde genommen einfach. Danton, Mitbegründer der Revolution, ist des ewigen Mordens müde und wendet sich mit seinen Freunden Desmoulins und Lacroix zunehmend gegen die Eiferer Robbespierre und St. Just. Der grausame Ablauf der Revolution führt bei ihm zu einem Lebensüberdruss, der ihn gleichgültig gegenüber der Gefahr für Leib und Leben macht. Mehr oder minder sehenden Auges läuft er in die Falle St. Justs, aus der ihn auch eine seltene sentimentale Anwandlung Robbespierres nicht mehr retten kann. Mit einer letzten flammenden Rede droht er das Volk für sich zu gewinnen, aber seine Gegner schaffen es, ihn unter dem Bruch aller Verfahrensregeln zu verurteilen und zusammen mit seinen beiden Gefährten umgehend hinzurichten. Der Schwerpunkt von Büchners Stück liegt also nicht auf einer konfliktbeladenen Handlung, die sich jederzeit auch anders entwickeln könnte, sondern auf der Struktur der revolutionären Bewegung sowie ihrer Eigengesetzlichkeit.
Bereits das erste Bild der neuen Inszenierung zeigt eine ungewohnte Sicht auf das Sujet: zum Zuschauerraum öffnet sich ein zweistöckiges Haus, dessen Stockwerke mit einer inneren Freitreppe verbunden sind. Keine Rokkoko-Architektur, sondern zeitlose, nackte Wände mit leeren Fenstern und wenige Requisiten prägen das Bild. Im Erdgeschoss hat sich offenbar eine Kommune der 68er-Generation breit gemacht. Promiskuitiv zusammengewürfeltes Bettzeug bedeckt verschiedene Kommunarden, die in den Tag hinein schlafen, vor dem Haus vertreibt sich Danton die Zeit gelangweilt mit Spielereien, die zeigen, dass hier jemand seine Ziele verloren hat und keinen Sinn mehr in seinem Tun sieht. Wenn sich die anderen aus den Betten quälen, greifen sie entweder – wie LaCroix (Gerhard Hermann) zur Gitarre und singen dazu Lieder aus dem Woodstock-Umfeld, oder sie verbringen ihre Zeit mit Nichtstun, so wie es in den Berliner Kommunen der siebziger Jahre wohl oft der Fall war. Im Gespräch mit seiner Frau Julie (Britta Hübel) wirkt Danton seltsam abwesend, bei der Prostituierten Marion sucht er nach etwas, das er nicht mehr fassen kann. Auch der Sex hat ausgedient. Danton ist ein ausgebrannter Revolutionär, blutbesudelt und ernüchtert. Er sehnt den Tod geradezu herbei. Doch ist dies nicht klassisch-hochherzig, sondern trägt die Züge heutiger Frustration und des Überdrusses. LaCroix warnt ihn mehrere Male vor der dringenden Verhaftung und rät zum Handeln, doch Danton bleibt wie gelähmt und reißt den ihm ergebenen Desmoulins mit ins Verderben. Als er in einer letzten Unterredung dem tugendfanatischen Robbespierre dessen Terror an den Kopf wirft, beugt sich dieser dem Verdikt des noch fanatischeren Revolutionärs St. Just, Danton und seine Genossen zu liquidieren.
Benjamin Walther hat den Stoff radikal gekürzt und auf hundert Minuten komprimiert . Die Sprache ist in das ausgehende 20. Jahrhundert gewandert, und außerdem sind Szenen aus dem – fast schon klassischen – APO-Ambiente hinzugekommen. Das verleiht der Inszenierung Tempo und Leben, und bisweilen überzieht Walther auch ein wenig. Alle inneren Kämpfe der Protagonisten werden extensiv körperlich ausgespielt. Statt sparsamer aber eindringlicher Gestik und Mimik überwiegen bei Walther konvulsivisches Zucken und schwere Sprachstörungen. So drückt Jürgen Hartmann Dantons innere Zerrissenheit durch minutenlanges Krümmen, Wälzen und Schreien aus, Heiko Raulin rennt als Robbespierre schreiend über die gesamte Bühne oder Ralf Dittrich flicht Gesichtsverrenkungen und Sprachzuckungen in St. Just Reden hinein. Dies kann zeitweise ermüdend wirken, und leisere, feiner abgestimmte Töne wären hier sicher wirkungsvoller gewesen.
Es gelingen jedoch auch große Szenen: die Auseinandersetzung zwischen Danton und Robbespierre erfolgt in Form zweier synchronisierter Monologe. Danton spricht zu einem imaginären Robbespierre im Publikum, während dieser im ersten Stock der Herrschenden zu einem Spiegel spricht, als übe er seine Rede. Mit dieser Konstellation wird deutlich, dass sich beide nichts mehr zu sagen haben und buchstäblich aneinander vorbeireden. Der Gang ins Gefängnis erfolgt aus einem Monopoly-Spiel der drei gelangweilten „Ex“-Revolutionäre, die der Gang des Spiel ins Gefängnis („gehe direkt dorthin, gehe nicht über Los“) schickt. Im Spiel aus zwei Bierbänken zusammengestellt, wird dieses Konstrukt im Nu zum echten Gefängnis, das ihre Hälse mit beklemmender Analogie zwischen zwei Bänke einklemmt. Zum Schluss von Dantons langer Rede kommt Dr. Guillotin (Gerd K. Höfle), wirft eine Bank um, und das war´s.
Das Volk, bei Büchner in eigenen Szenen als wankelmütige, leicht zu beeinflussende Masse charakterisiert, mutiert bei Walther zu einem Affen, der um die Gesellschaft herumhüpft und jedem seine dankbare Aufwartung macht, der ihm eine Banane schenkt. St. Just weiß diese Mentalität geschickt zu nutzen und naht bei Dantons mitreißender Verteidigungsrede – die eigentlich eine Anklage ist – mit einer Tüte Bananen. Das Tier Volk dankt es ihm und hört Danton nicht mehr zu. Ja, es erhält zum Dank von den Herrschenden noch ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Ich AG“ und kann nun stolz des Volkes neue Kleider zeigen.
Walthers Inszenierung bricht die herkömmliche Sicht dieses Stückes deutlich auf und wagt die Provokation, obwohl er eine solche nach eigenen Aussagen nicht gesucht hat. Allein die konsequente Übertragung in ein heutiges Ambiente, die „Entlarvung“ des Helden Danton als eines bereits innerlich guillotinierten Revolutionärs, der nur noch ziellos durch sein Restleben läuft und nicht einmal der ebenfalls dem Untergang geweihten Freunde gedenkt, sowie der Verzicht auf die Erarbeitung einer wie immer gearteten „positiven“ Aussage wirkt bereits provozierend. Er hat damit dem Publikum den gewohnten und geliebten Büchner geraubt. Das Risiko eines so radikalen Schnittes birgt auch immer die Gefahr des Scheiterns in sich. Walther jedoch ist dieser Gefahr entronnen, von einigen Überzeichnungen abgesehen, und hat mit dieser Inszenierung einen gelungenen Einstand gefeiert. Dabei hat ihn das Ensemble allerdings nach besten Kräften unterstützt. Da sind natürlich vor allem die Protagonisten zu nennen. Jürgen Hartmann macht als Danton deutlich, wie Zweifel und vor allem Selbstekel in eine vorgetäuschte Wurstigkeit münden können, die doch nur die Verzweiflung verdeckt. Ralf Dittrich gibt einen diabolischen St. Just, der aus dem Hintergrund die Fäden zieht und dabei immer kühl und beherrscht bleibt, während Heiko Raulin als Robbespierre durchaus pharisäerhafter und asketisch-bigotter hätte auftreten können. Bisweilen wirkt er eher wie ein Jungmanager bei einer Firmensanierung. Sein Anzug – dunkel mit passender Krawatte – und Hartschalenkoffer passen jedenfalls dazu. Doch etwas mehr Schärfe hätte dieser Rolle gut gestanden. Tim Bierbaums Camille Desmoulins stolpert in jugendlichem Idealismus in den Tod, während Gerhard Hermann den Lacroix mit einer Mischung aus Weitsicht und Fatalismus ausstattet. Ihm nimmt man den jungen Gitarren-Revolutionär immer noch mühelos ab.
Wenn auch die Frauen im Stück immer nur eine reagierende Rolle spielen, sind sie doch wegen ihrer gut ausgewogenen Profilierung hervorzuheben. Gabriele Drechsel als weltgescheite und doch verlorene Prostituierte Marion, Britta Hübel als die mit und an ihrem Mann Danton leidende Julie und vor allem Susanne Burkhard als Lucile, die mit allen Mittel versucht, den gutgläubigen Camilles Desmoulins zu retten und sich sogar in einem Anfall verzweifelter Raserei halbnackt Robbespierre anbietet, bilden ein gut ausgewogenes Frauen-Ensemble, das einen Gegenentwurf zu der mörderischen oder perspektivelosen Männerwelt bietet.
Dem Premierenpublikum allerdings hat diese Inszenierung offensichtlich nicht so richtig geschmeckt. Freundlicher bis kräftiger Beifall für die Darsteller, dann jedoch neben Beifall und vereinzelten Bravo-Rufen ein gellendes „Buh“-Konzert aus verschiedenen Ecken des Saales. Auch sah man viele Zuschauer, die zwar keine Missfallensäußerungen von sich gaben, aber auch keine Hand zum Beifall rührten. Schade, dass eine so mutige – und damit teilweise auch widersprüchliche – Aufführung nicht die verdiente Honorierung seitens des Publikums gefunden hat. Es ist zu befürchten, dass diese Inszenierung kein Abonnements-Renner wird, obwohl sie es verdient hätte.
Frank Raudszus
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