Joanna Laurens´ „Die drei Vögel“ in einer Inszenierung des Staatstheaters Darmstadt
Die griechische Mythologie erweist sich auch heute noch als unerschöpfliche Fundgrube für Autoren und Theatermacher, bringen sie doch elementare menschliche Erfahrungen in so schlichter wie wuchtiger Form zum Ausdruck. So auch in dem Fragment „Tereus“ des großen griechischen Tragikers Sophokles, das unerfüllte Leidenschaft, Gewalt und Rache in den Mittelpunkt des Geschehens stellt.
Tereus, König von Thrakien, hat dem Athenischen Herrscher Pandion in einem Krieg zum Sieg verholfen. Zum Dank dafür gibt ihm Pandion seine Tochter Procne zur Frau; doch Tereus liebt deren jüngere Schwester Philomela, ohne sich zu erklären. Im fernen Thrakien vereinsamt Procne an der Seite des sie nicht liebenden Mannes, obwohl sie sogar einen Sohn mit ihm hat. Sie bittet Tereus um einen Besuch ihrer Schwester, und nur zu gern willigt Tereus ein, diese persönlich von Athen nach Thrakien zu geleiten. Auf der Reise gesteht er Philomela seine Liebe, vergewaltigt sie, reißt ihr – zu seinem Schutz – die Zunge heraus und versteckt sie. Die laut Tereus von wilden Wölfen Zerrissene webt ihre Geschichte jedoch in einen Teppich ein und schickt ihn Procne. Nachdem diese die Schwester befreit hat, sinnen die Beiden auf Rache. Schließlich töten sie Itys, Procnes und Tereus´ einzigen Sohn, und setzen ihn Tereus zum Mahl vor. Als dieser die Wahrheit erfährt, verfällt er in Wahnsinn. Pandion, der nach Thrakien eilt, fasst die tragischen Ereignisse in einem bitteren Schlusswort zusammen: drei Vögel sah er davonfliegen, jeder steht für einen der drei Menschen, die ihre Verstrickung in Liebe, Hass und Rache nicht entwirren konnten.
Die junge Engländerin Joanna Laurens hat den alten Mythos in neue Kleider gehüllt. Während die Sprache weit gehend unverändert bleibt und deutlich archaische Züge trägt, treten die Protagonisten in zeitgenössischen oder zeitlosen Kostümen auf. Die beiden Frauen in weiblich-elegantem Kleid (Procne) oder in Jeans (Philomela), König Pandion im leichten Sommeranzug und Tereus in einem fast antik geschnittenen, kragenlosen Dress. Das Bühnenbild ist auf einen Vorhang, ein Bett, eine Couch und einen zur Metapher überdimensionierten Teppich beschränkt und lenkt somit von der strengen Handlung nicht ab. Doch nicht nur die Kostüme verweisen auf andere Zeiten als die mythischen. Immer wieder streut Laurens Dialogelemente in den Text, die zeitgenössische Mentalität und Lebensgefühl transportieren. Diese Szenen integrieren sich dank geschickter Dramaturgie und Regie nahtlos in die alten Texte und verleihen dadurch dem Mythos ein modernes Antlitz.
Die entscheidende Änderung gegenüber der klassischen Tragödie besteht jedoch in der Rolle des Chors. Zeichnet sich dieser in der klassischen griechischen Tragödie durch ein statuarisches, streng kommentierendes und urteilendes Wirken aus dem Hintergrund aus, so gibt er bei Laurens diese höhere Sicht auf und betätigt sich eher als eine Umwelt, die sich dem herrschenden Trend nahtlos anpasst. Dargestellt von fünf Schauspielern und Tänzern, präsentiert sich dieser „Chor“ wie eine Tanz/Theater-Truppe und versetzt das tragischen Geschehen um mythische Individuen auf die allgemein menschliche Ebene. Der Chor tritt sozusagen als Vertretung des „einfachen“ Volkes auf und spielt die Szenen der drei Protagonisten auf teilweise farcenhafte Weise nach. Man trinkt, tanzt und treibt allerlei Spielchen miteinander. Eine junge Frau im Hosenanzug wirbt um den jungen Tänzer, wird jedoch brüsk zurückgewiesen. Und wenn Philomela vergewaltigt und um ihre Sprache gebracht wird oder wenn Procne ihrem Mann zum Schluss den Sohn zum Mahle serviert, steht der Chor betroffen und ohne Kommentar im Bühneneck. Die Botschaft ist klar: es gibt keine höhere Macht mehr, die das Individuum vor den Gefahren von Leidenschaft und Rache warnt; der Mensch bleibt auf sich zurückgeworfen und muss sich seinen eigenen Trieben selbst stellen. Damit ist auch der alt-griechische Glauben an das unerforschbare Walten göttlicher Gesetze und das Ausgeliefertsein an das Schicksal hinfällig. Der Mensch ist sein eigener Richter und Henker.
Ute Rauwald lässt die Personen in durchaus modernem Habitus auftreten. Die Schwestern Procne (Britta Hübel) und Philomela (Melanie Nawroth) tollen zu Beginn wie zwei ausgelassene junge Fohlen durch ihren Schlafraum und erzählen sich ihre Träume. Pandion (Olaf Weißenberg) und Tereus (Michael Witte im Look von Oliver Kahn) unterhalten sich eher wie zwei Unternehmer denn wie zwei mythische Könige. Dabei wirken die sophokleischen Verse durchaus nicht abgestanden sondern eher zeitlos, wenn man sich erst einmal an das nicht unbedingt unserer Umgangssprache entlehnte Versmaß gewöhnt hat.
Die Inszenierung zeichnet sich durch wohltuende Straffheit aus und kann daher auch auf eine Pause verzichten. Die Szenen werden nur soweit ausgespielt, wie es für das Verständnis der Situation und die Entwicklung der Charaktere notwendig ist. Umbauten des knappen Bühnenbilds sind so gut wie nicht nötig, so dass sich eine Szene nahtlos aus der anderen entwickeln kann. Als eine Art Höhepunkt erscheint der Bericht über Philomelas grausame Schändung als Video-Installation auf der Rückseite des hoch gezogenen Teppichs, nachdem Procne diesen Bericht aus dem ausgelegten Teppich heraus gelesen hat. Wie ein Menetekel tropfen die blutroten Buchstaben nacheinander auf die (Lein-) Wand und künden damit die grausame Rache an.
Die Schauspieler gehen in ihren Rollen geradezu auf, wohl das Beste, was man über eine Inszenierung sagen kann. Besonders eindrucksvoll gelingt die Vergewaltigungszene – übrigens ohne jegliche Peinlichkeit – und das anschließende Entsetzen von Opfer wie Täter. Philomela scheint sogar mehr durch das zerbrochene Vertrauen innerhalb der Familie getroffen zu sein als durch den Akt selbst und malt sich die Folgen für sich und Tereus aus, so dass dieser sich aus Angst vor der Entdeckung auch noch zu dem nächsten grausamen Schritt gezwungen sieht. Melanie Nawroth und Michael Witte beschwören eine geradezu beängstigend dichte und tiefe Atmosphäre nach einem nicht wieder gut zu machenden Schritt herauf. Auf schmalem Grat bewegt sich auch die Szene, wenn Procne und Philomela beschließen, Itys zu opfern, der als kindergroße Puppe auftritt. Der Mord an der Kindpuppe gelingt ebenfalls ohne peinliche Lächerlichkeit, da die Herleitung der Entscheidung straff, mit dem nötigen Ernst und vor allem der Dringlichkeit einer angemessenen Rache erfolgt. Noch ehe auch nur ein Zuschauer eine unfreiwillige Komik im Puppenmord entdecken kann, ist die Szene vorüber. Für die Schauspielerinnen Britta Hübel und Melanie Nawroth kommt es bei dieser Szene auf jedes Wort und jede einzelne Bewegung an, und gerade durch ihre Sparsamkeit in Mimik und Gestik gelingt die Szene überzeugend.
Das Publikum dankte dem gesamten Ensemble, und im Gegensatz zu Darmstädter Gepflogenheiten auch der Regie, mit mehr als freundlichem, von einigen Bravo-Rufen angereichertem Beifall, der alle Beteiligten einige Male auf die Bühne zurückholte. Als der letzte Applaus verklungen war, vernahm man hinter der Bühne einen weiblichen Freudenschrei…….
Frank Raudszus
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