George Bizets „Carmen“ im Staatstheater Darmstadt
„Auf in den Kampf,…….“ – wer kennt nicht die Anfangstakte der berühmten Torero-Arie aus Bizets Carmen. Und damit ist bezüglich eventueller Erwartungshaltungen auch schon alles gesagt. Nimmt man dazu noch den Umstand, daß trotz herrlichem Sommerwetter das Große Haus des Staatstheaters Darmstadt zur Premiere restlos ausverkauft war, so ahnt man, was das festlich gestimmte Premieren-Publikum erwartete: auf jeden Fall einen schönen Opernabend. Das Staatstheater hatte für die Inszenierung dieses Erfolgsstücks den Filmregisseur Werner Schroeter gewinnen können, der sich in letzter Zeit vermehrt der Oper widmet. Die musikalische Leitung lag in den Händen von Generalmusikdirektor Marc Albrecht.
Wenn sich der Vorhang öffnet, erblickt man ein großes Gerüst, eine Mischung aus Fabrikhalle und Kathedrale mit Seitenschiffen. Das Fabrik-Symbol ergibt sich aus der Handlung, die weitgehend vor einer Tabakfabrik spielt, die Kathedralenform verweist auf den Katholizismus des Spaniens im letzten Jahrhundert mit seinem starken Einfluß auf die Menschen. Inmitten dieses Gerüstes liegen vier nackte Männer, ein Kreuz(sic!) bildend. Zwischen ihnen bewegt sich zu den Klängen der Ouvertüre eine Frau in einem erotischen Tanz, sich einzeln den Männern zu- und wieder von ihnen abwendend. Fredrika Brillembourg, die Darstellerin der Carmen in der Premiere, verkörpert in diesem Bühnen-Prolog die Kernaussage der folgenden Handlung.
Die eher strenge denn lebenslustig-zigeunerhafte Atmosphäre belebt sich langsam mit Bürgern, Soldaten der Wache, Kindern und später den Frauen aus der Tabakfabrik in ihrer Zigarettenpause. Auch sie erscheinen in der Inszenierung von Werner Schroeter eher in realistisch-grauen Farben, wie es halt der Fabrik- und Soldaten-Alltag in einer verschlafenen Kleinstadt mit sich bringt. Dadurch vermeidet Schroeter von vornherein jegliche unerwünschte „lustige“ Zigeuner-Atmosphäre. Die Frauen tun sich durch lautstarkes und giftiges Gezänk hervor, das so gar keine südländische Belanglosigkeit – Stichwort „heiterer Streit“ – vermittelt, sondern eher die trostlose Agression ausgebeuteter Arbeiter. Es geht Schroeter dabei offensichtlich jedoch nicht um marxistische Lehrsätze à la Brecht, sondern lediglich um Realitätsnähe.
So werden altgediente Opernbesucher auch über den Auftritt von Carmen enttäuscht gewesen sein: kein schwingender roter Rock, knappes enges Oberteil und rote Blume im Haar, kein wirbelnder Auftritt. Nein, Carmen erscheint eher zögerlich in einem schlichten schwarzen Hosenanzug, ganz Arbeiterin, jedoch mit viel verhaltenem Stolz.
Damit sind die Eckpfeiler der Inszenierung gesetzt. Statt einer herkömmlich-„schmissigen“ Carmen-Inszenierung bietet sich dem Zuschauer eine entschlackte und gestraffte „Carmen“. Kulisse und Bilder sind zugunsten der Musik und ihrer Ausdruckskraft stark reduziert, das Orchester unter Marc Albrecht besticht durch eine durchsichtige und dabei doch kraftvolle Interpretation. Kein falscher romantischer „touch“ trübt das musikalische Bild, die Musik folgt nicht dem Drama auf der Bühne, sondern interpretiert es ohne falsches Pathos oder Sentimentalität.
Jeder weiß, wie die Sache ausgeht. Carmen, von allen Männern verehrt und umschwärmt, ärgert sich, daß der Brigadier Don José sie nicht weiter beachtet, und provoziert ihn, der Wirkung ihrer erotischen Agressivität schon jetzt bewußt. Als Don José sie später wegen Tätlichkeiten gegen eine Kollegin festnehmen soll, überredet sie ihn gegen ein Liebesversprechen, sie freizulassen. Don José wird degradiert und geht ins Gefängnis. Nach der Entlassung geht er schnurstracks zu Carmen und verfällt ihr endgültig, wird sogar zum Deserteur und Mitglied der Schmugglerbande. Carmen jedoch vergißt ihn schnell und jagt ihn davon, weil sie sich in den Torero Escamillo verliebt hat. Don José jedoch kehrt zurück und bringt sie am Tage des großen Stierkampfs nach einer letzten Auseinandersetzung um.
Dieses Libretto bot sich lange Zeit geradezu dafür an, das Bild des gefährlichen, männerfressenden „Weibes“ zu zelebrieren. Nicht so Schroeter. Bei ihm erscheint Carmen eher als ein „unschuldiges“ Naturwesen, das lediglich einem inneren Drang zur Autonomie folgt. Ihr Liebesbegriff kennt keine bürgerliche Treue, sondern lebt vom steten und unsteten Wechsel, der jedoch nicht mit platter Promiskuität gleichzusetzen ist. Wen sie liebt, liebt sie uneingeschränkt, jedoch nur zeitweise. Somit ist es ihr auch völlig unverständlich, daß Don José mitten in einer heißen Liebeszene dem disziplinierenden Ruf des Zapfenstreichs folgt. Hier zerbricht bereits ihre Liebe zu ihm an seiner fehlenden Bereitschaft zum Absoluten. Auch seine späteren Schwüre und Aufgabe der gesamten bürgerlichen Existenz können diese Enttäuschung nicht mehr wettmachen. Vergeblich versucht sie ihm klarzumachen, dass die Liebe verblichen und nicht wieder zu beleben ist. Der dem Bürgerlichen zu sehr verhaftete Don José hat zu viel geopfert, um auf sie verzichten zu können, und muss sie töten, um sie nicht dem Rivalen zu überlassen.
Diese unerbittliche Seite der scheiternden Beziehungen zwischen zwei so grundverschiedenen Menschen arbeiten Ensemble und Orchester kompromisslos heraus. Da klingt keiner der Carmen-„Ohrwürmer“ mehr nach falsch-feurigem Zigeunertum, und Carmens „Arie“ über das Wesen der Zigeunerliebe gerinnt zum unbedingten Anspruch auf Selbstbestimmung. Auch die anderen Rollen sind mit deutlicher Distanz zu einem romantisierenden Carmen-Bild angelegt. Anton Keremiedtchiev als Escamillo verzichtet auf alles Torerohaft-Schmetternde, auch wenn man ihm etwas mehr Fülle in den tiefen Lagen gewünscht hätte, Jon Ketilsson ist ein eher zerrissener und unglücklicher denn ein sentimental-romantischer Liebhaber, und Hans Christof Begemann, Wilfried Plate und Peter Bording spielen Ihre Rollen als Schmuggler bzw. als Soldat glaubwürdig aber ohne übertriebenes Sozialkolorit. Ob Doris Brüggemann als 17jährige Micaela die ideale Besetzung darstellte, sei dahingestellt, gesanglich jedoch war an ihr nichts auszusetzen.
Neben der gesanglich und schauspielerisch als Carmen brillierende Fredrika Brillembourg zeichneten sich Barbara Meszaros als Frasquita und Marianne Andersen als Mercedes aus. Sie sorgten mit ihrem Temperament für Leben und Tempo auf der Bühne. Besonders publikumswirksam fiel das Sextett der drei Frauen mit den drei Schmugglern aus, das die Zuschauer mit verdientem Szenenapplaus bedachten.
Ein weiterer Pluspunkt der Inszenierung ist der Kinderchor, der immer wieder als verbindendes Element auf der Bühne erscheint und mal die Soldaten imitiert oder ärgert, mal dem Torero zujubelt. Neben der sauberen gesanglichen Leistung dieses Ensemble fiel vor allem das ungezwungene Spiel der Kinder auf.
Daneben hatt sich Schröter noch einige kleinere „Gags“ ausgedacht: ein lebendes Taubenpärchen stolzierte auf dem Gerüst umher und flatterte plötzlich während eines innigen Duetts auf der Bühne mit erheiternder Wirkung auf, und in einer Umbaupause spielen Kinder Stierkampf in einer Bühnenecke.
Musikalisch ist noch der Erwachsenenchor mit Bläserbegleitung erwähnenswert, der als musikalische Veranstaltung während der „Corrida“ das Geschehen aus dem Bühnen-Hintergrund kommentiert und sich sehr geschickt mit dem Orchester abwechselt. Die Überleitungen zwischen den Ebenen waren so fließend, daß sie kaum wahrzunehmen waren.
Als „alter Filmhase“ hat Werner Schroeter natürlich die Bedeutung des Handlungstempos bedacht und durch die Gestaltung sowohl der Szenenabfolge als auch der inneren Szenenstruktur jeglichen Leerlauf vermieden, ohne dabei jedoch in Hektik zu verfallen. Keinen Moment hat man das Gefühl von Langeweile, und die drei Stunden vergehen dadurch wie im Fluge.
Am Ende feierte das Publikum Darsteller, Orchester und Regie mit Bravo-Rufen und „standing ovations“, so daß es sogar Marc Albrecht zu einem Kuß für Fredrika Brillembourg hinriss. Worauf sich die deutlich vernehmbaren „Buuhs“ für die Regie bezogen, blieb allerdings im Dunklen. Vielleicht war einigen die Inszenierung nicht konventionell genug – siehe „roter Rock…..“. Die Darsteller jedenfalls freuten sich wie lange nicht nach einer Premiere, die beiden Hauptdarsteller umarmten sich nach der letzten Szene spontan und Hans Christof Begemann lachte lauthals vor Freude auf der Bühne. So nahm die Premiere trotz einem tragischen Schluß auf der Bühne anschließend noch ein fröhliches Ende.
Frank Raudszus
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