Seit der Uraufführung 1835 in Neapel hat sich Donizettis Oper „Lucia di Lammermoor“ in den Programmen der großen Opernhäuser gehalten. Donizetti und sein Librettist Cammarano hatten den Roman „The Bride of Lammermmoor“ des Schotten Sir Walter Scott auf die wesentlichen Elemente verkürzt, die Namen etwas unmotiviert ins Italienische übertragen und mit der Vertonung das Publikum gewonnen. Die so einfache und dennoch eindringliche Geschichte um eine verratene Liebe hat dazu sicherlich genauso beigetragen wie die effektvollen Solo-Partien, allen voran die berühmte Wahnsinns-Szene der Lucia.
Das Staatstheater in Darmstadt hat diese Oper unter der Leitung von Markus Imhoff neu inszeniert und dem Publikum am 27. März 1999 in der Premiere vorgestellt. Fast mutet die Geschichte wie ein Plagiat von „Romeo und Julia“ an: Lucia soll nach dem Willen ihres Bruders Enrico zur Rettung des Familienbesitzes den einflußreichen Arturo heiraten. Sie liebt jedoch heimlich Edgardo, den ärgsten Feind der Familie, und die beiden schwören sich ewige Treue, bevor Edgardo nach Frankreich reist. Enrico, erbost über diese für ihn gefährliche Entwicklung, fängt die Briefe der beiden ab und überredet die bereits innerlich gebrochene Lucia schließlich unter dem Hinweis auf die offensichtliche Untreue des Geliebten, der Ehe zuzustimmen. Bei der Unterzeichnung des Ehevertrages erscheint Edgardo, und es kommt zur großen Auseinandersetzung aller Beteiligten. In Unkenntnis der Hintergründe wirft Edgardo Lucia den Ring vor die Füße und schwört Rache. Enrico fordert ihn zum Duell, um einen lästigen Störenfried loszuwerden, während sich das Brautpaar zurückzieht. Kurz danach ersticht Lucia ihren ungeliebten Ehemann im Brautbett und verfällt dem Wahnsinn. Der auf das Duell wartende Edgardo hört hiervon und will zu ihr. Als er jedoch von dem Priester Raimondo von ihrem Tod erfährt, bringt er sich um.
Cammarano und Donizetti haben diese Handlung in wenige, in sich geschlossene Szenen umgesetzt. Die Zahl der Personen ist auf das daramaturgisch notwendige Maß begrenzt, gegenüber dem Roman von Walter Scott wurden die Familien drastisch „ausgedünnt“. Enrico und sein Gefolgsmann Normanno stehen Lucia und Edgardo gegenüber, der Priester Raimondo versucht zwischen den Gegenspielern zu vermitteln, Arturo und Alisa sind schon eher Randfiguren. Der Chor wird sparsam eingesetzt, vornehmlich um über Ereignissen „hinter der Bühne“ zu berichten. Zu Beginn sucht die Schloßwache vergeblich nach Edgardo, bei der Hochzeit tritt der Chor als Hochzeitsgesellschaft auf.
Die eigentlichen dramatischen Abläufe spielen sich immer zwischen den Protagonisten ab, wobei gerade diese Oper durch ihre Solopartien besticht. Enrico-Lucia, Lucia-Alisa, Lucia-Edgardo, Enrico-Edgardo und schließlich die beiden großen Solo-Arien: Lucias „Wahnsinns“-Arie und Edgardos Schlußarie. Aus dieser konzentrierten und kompakten Dramaturgie fällt nur die Hochzeits-Szene im 2. Akt mit dem Sextett aller Beteiligten (Lucia, Edgardo, Enrico, Arturo, Raimondo und Normanno) etwas heraus. Gerade diese Konzentration ermöglicht jedoch die Intensität der Darstellung, die einem bereits dutzendmal in Oper und Schauspiel abgehandelten Konflikt die erforderliche Tiefe verleiht. Der weitgehende Verzicht auf dialogische Rezitative zugunsten ausdrucksstarker Solopartien verstärkt diese Wirkung noch.
Die Darmstädter Inszenierung von Markus Imhoff konzentrierte sich daher auch auf die Gefühle der Hauptpersonen. Die eigentliche Handlung verliert an Bedeutung und dient nur dem Verständnis der emotionellen Entwicklung. Das beginnt bereits mit dem Bühnenbild von Werner Hutterli, das sich auf einen turmartigen Bau inmitten angedeuteter Mauerbrüstungen beschränkt, Symbol für das düstere und unwandelbare System des herrschenden Adels. Im Hintergrund leuchtet eine gewittrige Wolkenlandschaft in wechselnden Farben, mal gelb, mal blau hinterlegt. Der Turm öffnet und schließt sich je nach szenischem Bedarf und läßt die Darsteller auftreten oder abgehen. Keine Zugeständnisse an realistische Darstellungen, die von den eigentlich wichtigen Vorgängen ablenken könnten.
Die Sänger und Sängerinnen folgten dieser nahezu „puristischen“ Inszenierung konsequent und konzentriert, allen voran Akiko Nakajima als Julia. Ihr Sopran wurde allen Herausforderungen dieser schwierigen Rolle gerecht, nicht nur in der Wahnsinns-Szene. Stimmvolumen und -sicherheit sorgten für hohe Präsenz und Klarheit. In den Duetten mit Edgardo (Harrie van der Plas) überstrahlte sie diesen deutlich. Ihr gesamtes gesangliches und schauspielerisches Können spielte Akiko Nakajima jedoch in der endlos langen Wahnsinns-Szene im 3. Akt aus. Verzweiflung, Sehnsucht, Schmerz spiegelten sich in jedem Schritt, jedem Ton. Die Stimme folgte den schnellen Ausdrucksänderungen vom Verliebtsein zum Wahnsinn und zurück mit Leichtigkeit und hoher Präzision. Die zeitweise fast akrobatische Körpersprache – Wanken, Stürzen, Drehen – ließ den geistigen Verfall der Lucia auch optisch glaubwürdig erscheinen. Begeisterter Szenenapplaus verabschiedete die Darstellerin aus dieser Szene.
Harrie van der Plas als Arturo bestach durch einen hellen und klaren Tenor, der nur in den tieferen Lagen bisweilen etwas schwach wirkte und dem man etwas mehr Volumen gewünscht hätte. In der Umsetzung der Rolle jedoch wirkte er überzeugend und konnte sich neben Akiko Nakajima behaupten. Besonders eindrucksvoll gelang seine mit dem Tod endende Schlußarie. Die Regie hatte sich dabei einfallen lassen, Akiko Nakajima als Geist der toten Lucia auftreten zu lassen, um Edgardo wortlos den Dolch für den Selbstmord zu reichen. Peter Bording als Enrico glänzte durch stimmliche und körperliche Präsenz auf der Bühne. Über lange Strecken dominierte er die Handlung und wirkte als Dreh- und Angelpunkt des Geschehens, und das nicht nur aufgrund seiner handelnden Rolle. Jyrki Korhonen gab einen väterlich-ausgleichenden Raimondo, der beiden Seiten gerecht zu werden hat. Sein Baß füllte die Bühne und war in allen Stimmlagen sicher und ausdrucksstark. Elisabeth Hornung als Alisa, Wilfred Plate als Normanno und Andreas Wagner als Arturo fügten sich nahtlos in diese Inszenierung ein.
Das Orchester unter der Leitung von Ian Watson lieferte die Musik zu diesem Gesangsdrama, ohne jemals das Bühnengeschehen zu übertönen. Mit Präzision und Klarheit folgte das Orchester den Vorgängen auf der Bühne und schmiegte sich förmlich vor allem dem Gesang Akiko Nakajimas an.
Das Publikum, das schon begeisterten Szenenapplaus gespendet hatte, feierte die Darsteller mit begeistertem Applaus. Nur für die Regie gab es erstaunlich heftige Buuhs, wobei unerfindlich blieb, worauf sich diese bezogen, denn der Beifall für Sänger und Orchester war einhellig. Vielleicht hat Einigen das puristische Bühnenbild nicht gefallen, nachvollziebar wäre das allerdings kaum.
Frank Raudszus
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