Schillers „Räuber“ in einer unkonventionellen Inszenierung des Schauspiels Frankfurt.
„Franz heißt die Kanaille“ – ein Kernsatz in Schillers Jugendwerk, der das Wesen des Franz Moor und den Konflikt auf den Punkt bringt.
Jüngere Leser werden den Begriff „Kanaille“ vielleicht nicht (mehr) kennen: er bezeichnet einen äußerst miesen Charakter, der vor keiner Untat zurückschreckt; und so einer ist Franz Moor. Zweitgeborener und auch noch von der Natur benachteiligt, hält er alle schlechten Karten in der Hand. Welch Wunder, dass er einen missgünstigen und rachsüchtigen Charakter entwickelt, wenn er nicht auch den noch in seinen Genen hat. Da liegt es auf der Hand, dass er den im fernen Leipzig als Student über die Stränge schlagenden Bruder Karl, Liebling des Vaters, nicht nur systematisch denunziert, sondern sich schließlich als „Vermittler“ zwischen Vater und Bruder setzt und den reuigen Brief Karls im Namen des Vaters ohne dessen Wissen und entgegen dessen Absichten brüsk und unnachgiebig mit der Lossagung beantwortet. Gleichzeitig stellt er vergeblich aber beharrlich Karls Verlobter Amalia nach. Der voll auf die Verzeihung des Vaters hoffende Karl sieht dadurch sein Weltgebäude zusammenbrechen und schließt sich seinen kleinkriminellen Freunden an, die ihn sofort zu ihrem Hauptmann küren, um eine richtige kriminelle Karriere zu starten. Nach anfänglichen Räubereien im Stile Robin Hoods steckt die Bande eines Tages eine Stadt in Brand, um einen Kumpanen im letzten Augenblick vor dem Galgen zu retten, und dabei verbrennen, Alte, Kinder und schwangere Frauen. Karl ist damit endgültig und gegen seinen Willen zum Verbrecher mutiert und besucht, von Reue und Selbstzweifeln geplagt, inkognito das elterliche Haus. Dort gilt mittlerweile der Vater nach der Mitteilung Franzens über Karls angeblichen Tod als verstorben, wurde in Wahrheit jedoch von Franz in einen Turm geworfen, wo ihn ein Diener heimlich vor dem Verhungern bewahrt. Der entlarvte Franz bringt sich um, Karl gesteht dem Vater seine Verbrecherlaufbahn und bringt ihn damit endgültig ins Grab. Amalia erleidet von Karl als letzten Liebesdienst den Tod von seiner Hand, bevor sich dieser von seiner Bande trennt und sich den Behörden stellt.
Schiller, der die Uraufführung seiner „Räuber“ 1982 gegen den Willen seines Landesherrn 1782 in Mannheim miterlebte, hat mit diesem Stück durchaus nicht – wie gerne kolportiert wird – Tyrannenschelte betrieben. Der Zensur passte hauptsächlich die positive Darstellung des Räubers Karl Moor nicht, da damit – und das ist nicht weit hergeholt – so mancher junge Mensch sich veranlasst sehen könnte, eigenmächtig gegen vermeintliches oder echtes Unrecht vorzugehen. Denn hierum geht es: Karl Moor verlässt die Gesellschaft, weil diese – vermeintlich in der Gestalt des Vaters – alle christlichen Grundsätze von Reue Vergebung über Bord wirft. Der reuige Sünder wird verstoßen und nimmt diese Rolle konsequent und kompromisslos an. Karl liebt keine Halbheiten und Heucheleien und wirft sich der Autorität nur einmal vor die Füße. Seine Selbstachtung und sein Stolz machen ihm einen demutsvollen „Gang nach Canossa“ unmöglich. So explodiert er geradezu nach der väterlichen Verletzung und achtet nicht mehr die Autorität. Das Bild des Vaters lässt sich leicht in eine allgemeine Autorität – Staat, Gesellschaft, Konventionen – transponieren, von der Karl sich verraten sieht. Die eigene Gruppe schafft Nähe, Achtung und Zusammenhalt; sie gibt ihm etwas zurück, was die Familie ihm versagt hat. Dass nicht der Vater, sondern der intrigante Bruder dahinter steckt, kann Karl nicht ahnen, aber er versucht auch nicht, den Dingen auf den Grund zu gehen, sondern zieht sofort empört seine Konsequenzen.
Gerade dadurch, dass es hier nicht vordergründig um staatliche Willkür geht – wie bei Michael Kohlhaas – verleiht dem Stück seinen zeitlosen Charakter. Im Grunde genommen knüpft Schiller direkt beim Alten Testament an: Kain und Abel lassen grüßen; auch nach Schiller sind familiäre und vor allem brüderliche Konflikte immer wieder thematisiert worden. Es geht um die uralte Frage der männlichen Nachfolge, kurz um Macht, und die Kämpfe sind immer wieder die selben.
Es lohnt sich, einmal die einzelnen Figuren und ihre Rollen zu untersuchen. Da ist natürlich in erster Linie Karl, ein idealistischer und „hoch gesinnter“ junger Mann, der zwar altersgemäß über die Stränge schlägt, aber letztlich an die Regeln und Gesetze einer bürgerlich-christlichen Gesellschaft glaubt. Die vermeintliche Verfluchung durch den Vater wirft ihn aus der Bahn, lässt ihn tief sinken und dann angesichts der Gräuel zur Einkehr kommen. Ganz im Sinne des klassischen Theaters durchläuft er eine Entwicklungslinie „per aspera ad astra“. Am Ende überlässt er sich geläutert und reumütig der irdischen Gerechtigkeit. Franz dagegen bleibt von Anfang bis Ende derselbe. Er dient dramaturgisch nur als Widerpart zu Karl, um einerseits die Handlung in Gang zu setzen und in Schwung zu halten, andererseits, um einen deutlichen Kontrast zu Karls zu setzen. Schiller mag in ihm auch einen Glauben an das im Menschen unabänderlich vorhandene Böse dargestellt haben, das sich nicht aus der Umgebung oder Erziehung erklären lässt. Der Idealist Schiller glaubte sowieso an die sittliche Selbstreinigungskraft des Menschen – siehe Karl – und in diese Welt passt der von Veranlagung Böse durchaus. Der alte Moor kittet dramaturgisch die beiden Brüder zusammen und wird für den Anstoß der Handlung benötigt, spielt selbst allerdings keine tragende Rolle. Daher lässt ihn Schiller auch schwach erscheinen. Er ahnt nichts von Franzens Intrigen, überlässt sich ihm fast willenlos, obwohl er als Vater seinen Charakter eigentlich kennen müsste, und hinterfragt auch nicht die Nachrichten über Karl. Amalia passt nur mit Mühe in den Handlungsablauf. Karls Liebe zu ihr kommt anfangs nur in der negativen Spiegelung von Franz´ Begehren zum Vorschein, erst gegen Ende äußert sich diese Liebe gegenüber Karl. Sie dient mehr oder minder als Verstärkung des brüderlichen Antagonismus´. Die anderen Rollen sind „Füllmaterial“, so der Diener Daniel oder die Räuberbande mit Schweizer, Roller, Schufterle und Spiegelberg.
Regisseur Peter Kastenmüller vollzieht in Frankfurt einen drastischen Schnitt. Schon das Bühnenbild ist mehr als karg: statt der üblichen Requisiten – Schloss, böhmischer Wald – breitet sich vor dem Publikum lediglich der nackte, schwarze Bühnenboden aus. Die Seitenwände sind ebenfalls schlicht schwarz, nur an der Rückwand ist – bisweilen fast scherenschnittartig – eine weibliche Rockband platziert. Die Schauspieler agieren extrem isoliert auf der weiten Bühne, immer mit deutlichem Abstand zueinander, selten die Nähe suchend. Gunnar Teuber spielt einen Franz Moor, der gar nicht so hässlich ist, und auch seine Neid- und Hasstiraden kommen weniger aus der Mördergrube einer benachteiligten Kreatur als aus dem Kopf eines Jungmanagers, der sich einen Rivalen vom Hals schaffen muss. Bei aller entschiedenen Gegnerschaft zu Karl wirkt Teubers Franz nie von Gefühlen getrieben, sondern von Überlegungen geleitet. Es ist ein „cooler“ Franz, der hier geschäftsmäßig agiert, und auch sein Freitod am Ende klingt mehr nach „Pech gehabt“ denn nach einer existenziellen Katastrophe.
Karls Auftritte werden – besonders zu Beginn – durch infernalische Rockmusik aus dem Hintergrund begleitet. Hier feiert die anti-bürgerliche Jugend ihre Befreiung von allen Konventionen. Harte Musik, mehr oder minder unterschwellige Aggression und die Lust an der Provokation prägen diese Gruppe, die eigentlich keinen Anführer duldet und Karl schließlich nur notgedrungen für die erfolgreiche Karriere als Räuberbande zu ihrem Hauptmann kürt. Robert Kuchenbuch verleiht Karl Moor – mit Jeans und Rapper-Mütze – eine „smarte Coolness“, um ausnahmsweise diesen Jargon zu verwenden, die ihn zu allem Distanz halten lässt und niemand in sein Inneres schauen lässt. Obwohl er Schillers Text verwendet, scheinen seine Reaktionen eher wortlos zu erfolgen. Der gesprochene Text – natürlich im Schiller-Deutsch – und Kuchenbuchs moderne Interpretation eines „coolen“ Karl Moor lassen Wort und Tat in gewissem Sinn auseinanderfallen. Was er redet, ist Schiller, was er tut, ist Kuchenbuch. Doch das ist keine Schwäche des Schauspielers, sondern wohl kalkulierter Effekt. Kastenmüller entlarvt damit Schillers Sprache als nicht mehr zeitgemäß; die idealistischen Worte können die Welt weder erklären noch verbessern, und so distanziert sich diese Inszenierung von ihm, lässt aber deshalb den Konflikt nicht weniger realistisch erscheinen.
Der alte Moor (Wolfgang Gorks) ist bei Kastenmüller ein prä-seniler Golfspieler, der mit Franz im Golf-Wagen über die Bühne saust und während seiner Putting-Übungen seinem Sohn nur mit einem Ohr zuhört. Wie zur Strafe für diese Gleichgültigkeit lässt ihn der Regisseur denn auch statt in einen düsteren Turm in eine Art Kasperle-Theater einsperren, aus dem er zum Schluss geistig verwirrt herauskommt und mit imaginären Maschinenpistolen um sich schießt. Sein Tod wird in dieser Inszenierung genauso marginalisiert wie der von Schweizer oder Amalia (Katrin Grumeth), die zum Schluss wie ein Geist über der Szene schwebt. Wenn sie als weißer Wurm in einem hautengen Leinensack sich auf die Bühne windet, trägt das bereits starke Züge geistiger Verwirrung, und die ist ja fast gleich bedeutend mit dem Tod. Dieser Eindruck verstärkt sich anschließend, wenn sie die schnell aufeinander folgenden Ereignisse eigentlich nur noch ungläubig bestaunt. Dies Mädchen merkt zu keiner Zeit, was um sie herum gespielt wird, und in dieser Interpretation führt Kastenmeier Schiller konsequent zu Ende.
Zum Schluss weist Karl Moor mit einem Zeigefinger – mahnend(?) – auf eine übergroße Digitaluhr, die verschiedene Zahlenkombinationen anzeigt, je nachdem, wer die Fernbedienung in der Hand hält. Menetekel für einen „Countdown“? Leider muss der Schiller-gewohnte Zuschauer auf die Erwähnung des armen Tagelöhners mit seinen elf Kindern und den Hinweis auf die Wohltat einer Kopfprämie für Karl Moor verzichten. Dem Manne kann nicht geholfen werden.
Das immer noch reichlich vorhandene Publikum – die Premiere war im September – goutierte die Aufführung allerdings nicht besonders. Der Beifall kam eher müde und pflichtgemäß, einige Buhs waren zu hören. Offensichtlich ist diese Inszenierung für das Abonnementspublikum etwas zu modern.
Frank Raudszus
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