Ein neuer Ansatz für den Ursprung des Universums.
Seit Jahrhunderten haben Wissenschaftler und Philosophen versucht, Wesen und Ursprung des Universums zu erkunden. Nachdem das lange von der Kirche verteidigte geozentrische Weltbild schließlich endgültig ad acta gelegt war, konnte man sich ungestört der Erforschung der tatsächlichen Verhältnisse widmen. Anfang des letzten Jahrhunderts sorgte dann Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie – erst der Speziellen, dann der Allgemeinen – für eine Revolution der Physik und des Weltbildes. Die aus der „Rotverschiebung“ der Galaxien gewonnene Erkenntnis eines sich in alle Richtungen ausdehnenden Universums führte im Umkehrschluss zu dem berühmten „Urknall“, in dem das Universum aus einer unendlichen hohen Dichte und unendlich kleinen Ausdehnung in Form einer Explosion entstand. Nun stellt dieser Urknall jedoch keine mathematisch abgesicherte Tatsache dar, sondern beruht lediglich auf dem Umstand, dass die Allgemeine Relativitätstheorie für den Zeitpunkt Null aus Sicht der Mathematiker zusammenbricht, d. h. keine sinnvolle Lösung mehr ergibt. Der Laie übersetzt diesen Umstand in „unendliche“ Größen. Zwar entstand parallel zu Einsteins Theorien mit der Quantentheorie Plancks und Heisenbergs eine weitere Theorie der Elementarteilchen, doch diese verhält sich in vielen Aspekten inkompatibel zu Einsteins Theorie. Einstein selbst hat einmal über den statistischen, nicht exakt quantifizierbaren Charakter der Quantentheorie geäußert, „der liebe Gott würfle nicht“, doch hat er andererseits erwartet, dass von dort einmal eine Erweiterung seiner Theorie kommen würde. Bis heute jedoch kämpft die offizielle Physik mit der Dualität der Theorien, die sich partout nicht auf einen Nenner bringen lassen.
Noch für Newton und weit bis in das 19. Jahrhundert galt die Welt als statisch – wohl nicht zuletzt aufgrund der religiösen Dogmen – und immerwährend. Die Frage nach dem Ursprung erübrigte sich und war eigentlich „a priori“ beantwortet. Erst Darwin brachte das statische Weltbild ins Wanken und die Idee einer kosmischen Evolution ins Spiel. Aufgrund dieses grundlegenden Paradigmenwechsels konnten Wissenschaftler wie Einstein ihre Theorien über das Universum, Raum und Zeit entwickeln und deren Nachfahren – z. B. Martin Bojowald – die Ansätze korrigieren und verfeinern.
Martin Bojowald betont gleich im Vorwort, bewusst den populärwissenschaftlichen Ansatz gewählt zu haben, da er der Meinung ist, ein Wissenschaftler dürfe nicht im Elfenbeinturm Unverständliches vor sich hin murmeln, sondern müsse seine Erkenntnisse einem breiten Publikum verständlich machen. In der erfolgreichen Vermittlung dieses Wissens liege eine „Messlatte“ für jeden Wissenschaftler. Das ist leicht gesagt und doch schwer umzusetzen. In dem vorliegenden Fall liegt das allerdings nicht an einem unverständlichen Stil des Autors sondern einfach an der Komplexität und Abstraktheit der Materie. Bis vor kurzem galt die „naive“ Frage nach der Zeit vor dem Urknall unter Wissenschaftlern als unstatthaft, und das nicht etwa aus Verlegenheit oder gar aus dogmatischen oder philosophisch-religiösen Gründen, sondern weil es dafür keinerlei Theorie gab. Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie beschreibt zwar den Zustand und die Genealogie bis wenige Bruchteile von Sekunden vor dem Urknall in sich konsistent, schweigt aber im Moment des „Big Bang“ selbst. Ein seriöser Wissenschaftler wird daher in Ermangelung jeglicher theoretischer Grundlagen die Fragen über das „Davor“ als unbeantwortbar zurückweisen. Jede Antwort wäre reine Spekulation und würde der Phantasie freie Bahn gewähren. Dennoch haben natürlich weltweit alle Wissenschafter an eben diesem Problem getüftelt und versucht, es auf der Basis vorhandener und bewährter Theorien zu lösen. Schließlich hat auch Einstein Newton nicht ad absurdum geführt sondern dessen Theorien als makroskopische Vergröberung seines allgemeineren Ansatzes integriert.
Martin Bojowald, der heute an der Penn State University in den USA arbeitet, tut im Grunde genommen das Gleiche. Er setzt bei Einstein an und zieht die sperrige Quantentheorie Plancks und Heisenbergs hinzu, um aus beiden ein stimmiges Konzept für die Entstehung des Universums zu entwickeln. Dabei bedient er sich einer einfachen aber wirkungsvollen Methode: statt auf einen großen „Geistesblitzes“ stützt er sich hauptsächlich auf die umfangreiche Detailarbeit einer Aufarbeitung der bestehenden Theorien. Das hört sich vielleicht ein wenig abschätzig an, ist es aber keineswegs, denn das heute vorhandene Theoriegebäude der Teilchenphysik und der Kosmologie ist derartig gewaltig sowohl in der Abstraktion als auch in der mathematischen Komplexität, dass bereits deren Verständnis einen hohen Grad intellektueller Disziplin verlangt. Bojowald bringt diese Disziplin auf und gleichzeitig die Fähigkeit, über den Tellerrand einzelner Theorien hinauszublicken und nach „Synergien“ zu suchen.
Laut Bojowald erklärt Einsteins Relativitätstheorie zwar die meisten Eigenschaften des Universums, da sie jedoch weitgehend auf der Gravitation – als rein anziehende Kraft verstanden – beruht, bleibt die Frage, warum die Materie nicht einfach unter dieser allgemein wirkenden Kraft in sich kollabiert. Die Quantentheorie hat die Antwort für den Teilchenbereich dahingehend gefunden, dass sie für kleinste Ausdehnungen – den subatomaren – eine negative „Quantengravitation“ entdeckt hat, die sich dem ungebremsten Kollaps der Materie entgegenstemmt. Für diesen Bereich ist diese Kraft offensichtlich ausreichend bewiesen. Da jedoch das „Einstein-Lager“ und seine „Quanten-Gegner“ in gewisser Weise auch heute noch auf verschiedenen Seiten stehen, haben nur wenige Wissenschaftler versucht, beide Konzepte aktiv miteinander zu verbinden. Bojowald hat in diesem Zusammenhang die unter Physikern heiß diskutierte „String“-Theorie, die alle Elementarteilchen (selbst das Elektron) aus noch wesentlich kleineren „Ur-Teilchen“ mit dem Namen „String“ zusammensetzt, mit einem bereits seit einiger Zeit in Expertenkreisen kursierenden Konzept verbunden und damit die (noch) bestehenden Lücken und Schwächen des reinen String-Konzeptes beseitigt. Dieses „Schleifen-Quantengravitation“ genannte Konzept besteht aus einem Netz von Strings, die auf höchst komplizierte Weise miteinander verbunden sind und letztlich für die Erschaffung von Materie verantwortlich sind. Für den normalen Leser bleibt nur der Glaube, da Bojowald einerseits aus den erwähnten populärwissenschaftlichen Gründen auf jegliche mathematische Formeln verzichtet (die einzige, zentrale Formel sieht ziemlich „trivial“ aus…) und da auf der anderen Seite der durchschnittliche Menschenverstand an der Struktur dieser subatomaren String- und Quantenwelten verzweifelt. Dasselbe gilt übrigens für die gemäß Einstein gekrümmte (vierdimensionale) Raum-Zeit. Gerne zieht man als Erklärung das Beispiel eines (zweidimensionalen) aufgespannten Lakens hinzu, in das man unterschiedlich schwere Steine legt. Je nach Gewicht verursachen diese Steine Einbuchtungen („Krümmungen“) des zweidimensionalen Raums. So sehr dieses Beispiel in unserer dreidimensionalen Welt überzeugt, fällt doch die Übertragung auf eine vierdimensionale Raum-Zeit-Umgebung schwer…
Verzichtet man jedoch auf den Versuch eines „sinnlichen“ Verständnisses und folgt dem Autor auf seinem – mathematikfreien – Weg durch die Welt der Quanten und der gekrümmten Raum-Zeit, so tut sich eine außerordentlich faszinierende Welt auf, in der bis heute die Singularität im Urknall das größte Problem darstellt. Bojowald geht dieses Problem mit der Quantentheorie an, in dem er erst einmal die abstoßende Gravitationskraft auf Quantenebene auf das entstehende Universum anwendet. Damit steht ihm eine Kraft für die „Inflation“ – die hohe Ausdehnungsgeschwindigkeit im frühen Stadium des Universums – zur Verfügung. Zur weiteren Erklärung geht er detailliert auf das Wesen der „Schwarzen Löcher“ ein, die aufgrund ihrer unvorstellbar hohen Dichte im Kern und der daraus folgenden Massekonzentration selbst schon bereits in der Nähe einer Singularität liegen. Anhand der ein wenig besser – wenn auch immer noch recht rudimentär – bekannten Struktur der „Schwarzen Löcher“ kann er von diesen extrapolieren auf die Situation beim Urknall.
Die Lösung liegt in der diskreten Struktur des Quantenwelt. In einer einheitlichen „Raum-Zeit“ sind jedoch – und das ergibt sich mathematisch eindeutig – nicht nur Ausdehnungen und Massen diskret (d.h. es gibt kleinste, „messbare“ Einheiten) sondern auch die Zeit. Wir verstehen Zeit als einen kontinuierlichen und vor allem eigenständigen Prozess, in Wirklichkeit ist die Zeit in der Physik jedoch nur ein mathematisches Hilfsmittel für die Darstellungen von Bewegungen. Zeit besteht lediglich in der relativen Bewegung von Materie und lässt sich daher vom Raum nicht trennen. Wo keine Bewegung herrscht, gibt es auch keine Zeit! Mit dieser „Schritt-Technik“ gelingt es Bojowald, die Singularität im Urknall zu überschreiten, so wie ein Bergsteiger eine tiefe aber schmale Gletscherspalte mit einem Schritt überwindet, ohne damit die Gletscherspalte zu eliminieren. Mit diesem Ansatz gehen die relativistischen Gleichungen „durch die Singularität“ hindurch. Zwar herrschen dabei ringsumher extrem hohe Werte, aber eben nicht „unendlich“ hohe oder, wie der Mathematiker es ausdrückt, „alle Grenzen überschreitende“.
Damit kann Bojowald jetzt auch einen Zeitpunkt vor dem Urknall definieren und sich Gedanken über den entsprechenden Zustand machen. Eine – mathematische – Möglichkeit ist dabei die Verzweigung in ein Paralleluniversum, das ja als beliebig multiple Möglichkeit schon seit einiger Zeit durch die Fachpresse geistert. Bojowald negiert diese Möglichkeit nicht völlig, sieht aber einen zyklischen Charakter unseres Universums als wahrscheinlicher an. Demnach hat sich das Universum in verschiedenen Expansions- und Kontraktionsphasen von einem relativ kompakten Anfangszustand bis zu der heutigen Größe „aufgeschaukelt“. Eine ewige Ausdehnung mit einer finalen totalen Erstarrung – Angstvorstellung aller Physiker und Philosophen – sieht er aufgrund der Kräfte im Universum nicht als realistisch an, wenn er sie auch nicht ausschließen kann. Verständlich, dass er sich hier auf sehr spekulativem Pfaden bewegt, die noch um einiges unsicherer sind als seine Theorie vom „überwundenen“ Urknall. Daher streift er diese Frage nach der Zukunft und vor allem nach dem Anfang lange vor dem Urknall nur unter hohen Vorbehalten und mit Verweisen auf die entsprechenden philosophischen Diskussionen.
Wer sich dieses Buch vornimmt, sollte trotz dessen populärwissenschaftlicher Ausrichtung bereits über ein solides Grundwissen über (Teilchen-)Physik und Kosmologie verfügen; außerdem sollte er bereit sein, den abstrakten – wenn auch verständlich formulierten – Ausführungen über gekrümmte vierdimensionale Räume sowie über die Wellenfunktion der Materie und die prinzipielle Ummessbarkeit von Quanteneffekten zu folgen und sich ein Minimum an Verständnis dafür zu erarbeiten. Denn Arbeit ist die Lektüre dieses Buches auf jeden Fall, soll sie zu Erkenntnisgewinn führen, und zum „Party-Smalltalk“ eignet es sich sicherlich nicht. Auch ein griffig geschriebenes Buch bietet keinen Königsweg zu den Geheimnissen der Natur und vor allem des Kosmos.
Das Buch ist im Verlag S.Fischer unter der ISBN 978-3-10-003910-1 erschienen und kostet 19,95 e.
Frank Raudszus
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