Kit Armstrong spielt beim Rheingau-Musik-Festival Bachs „Goldberg-Variationen“.
Ein wichtiger Programmpunkt beim jährlichen Rheingau-Musik-Festival ist die Reihe „Next Generation“, bei der junge Nachwuchskünstler auftreten. Sie gelten als hochbegabt, aber unterschwellig gesteht man ihnen noch nicht die Reife etablierter Künstler zu. Dies scheint ein Reflex zu sein, über den man nachdenken könnte, denn wer kann schon solche Kriterien wie „Reife“ und „Tiefe der Interpretation“ wirklich beurteilen. Um diesem Problem der subjektiven Einschätzung aus dem Wege zu gehen, nennt man Künstler unter einem gewissen Alter eben „Nachwuchskünstler“, die ihr Können erst noch beweisen müssen. Sicher hat so mancher zu Mozarts Lebzeiten auch ihn als jungen Mann nur als „Nachwuchskünstler“ betrachtet…..
Warum eine solche Bemerkung zu Beginn dieser Rezension? Nun, es scheint, dass mit dem US-Amerikaner Kit Armstrong der Fall eines Ausnahmekünstlers vorliegt. Nicht nur, dass er mit gerade einmal dreiundzwanzig Jahren bereits perfekte Technik mit breit gefächerten Interpretationsfähigkeiten verbindet und sein langjähriger Mentor Alfred Brendel heißt. Er hat überdies neben seinem Klavierstudium noch ein Mathematikstudium mit dem Mastertitel abgeschlossen, nachdem er seit dem siebenten(!) Lebensjahr an verschiedenen Universitäten Naturwissenschaften studiert hatte. Ach ja, und mit dem Komponieren hat er als Fünfjähriger begonnen. Da wundert man sich überhaupt nicht mehr, wenn er – als junger Amerikaner(!) – nach seinem Klaviervortrag die Zugabe in einem fehlerfreien Deutsch ankündigt, das vermuten lässt, er sei hier aufgewachsen. Satzbau, Grammatik, Wortwahl – druckreif!
Ja, Klavier gespielt hat er an diesem Abend auch, und zwar Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“, die an der selben Stelle vor vier Jahren bereits Martin Stadtfeld vorgetragen hatte. Und dabei hat er bewiesen, dass er alle Züge eines Ausnahmekünstlers trägt. Denn immerhin spielt er ein Werk, dass sich mit Beethovens „Diabelli-Variationen“ um den Titel der berühmtesten Variationen-Komposition streitet.
Man könnte vermuten, die Neigung zur Mathematik habe eine eher intellektuelle oder gar mechanistische Spielweise zur Folge, die auch gerne mit einem dedizierten, wenn nicht gar harten Anschlag verbunden ist. Doch das ist bei Kit Armstrong nicht der Fall. Schon die Aria spielt er mit ausgeprägtem, aber nie übertriebenem Rubato. Dasselbe gilt für die langsameren Variationen, die im ersten Teil der Variationenfolge vorwiegend an zweiter Stelle der Dreiergruppen stehen. Sie lebt er förmlich aus, gönnt ihnen Raum zur Entwicklung und zum Klang und führt eine nachdenkliches Element ein. Dagegen kommen die schnelleren Variationen, zu Beginn meist am Anfang der Dreiergruppen, frisch und temperamentvoll daher. Hier zeigt Armstrong seine virtuose Technik. Die intellektuelle und Struktur gebende Kraft steckt jedoch in den Kanons, die jeweils eine Variationsgruppe abschließen. Von Kanon zu Kanon erhöht sich dabei der Stimmenabstand um einen Schritt, von der Sekunde des ersten Kanons bis zur None des letzten. Diese Kanons weisen eine fast mathematische Struktur auf und werden von Mal zu Mal komplexer und anspruchsvoller. Hier regiert nicht mehr die Emotion und die Spielfreude sondern die Präzision. Jede Stimme muss für sich modelliert werden, ohne deswegen die andere zu beeinträchtigen. Das erfordert höchste Konzentration und permanentes Mitdenken des Solisten. Kit Armstrong meisterte diese Kanons souverän und verlieh ihnen ihre je eigene Kontur, wobei er ihren Stellenwert im gesamten Variationensatz durch ein besonders akzentuiertes Spiel hervorhob.
Den zweiten Teil des ohne Pause gespielten Werks leitet eine Ouvertüre ein, die durch ihre orchestrale Gefälligkeit ein wenig aus dem Rahmen fällt. Man fühlt sich kurzfristig in eine andere Welt aus Bachs Gesamtwerk versetzt. Diese Zäsur würde es erlauben, den Zyklus mit einer Pause dazwischen zu spielen, doch die meisten Interpreten verzichten darauf und spielen das Werk in einem Stück. In diesem zweiten Teil sind die einzelnen Variationen stilistisch nicht mehr so klar voneinander getrennt wie im ersten Teil. Der Zwang, dem Thema immer neue Seiten abzugewinnen, führt zu immer höheren Abweichungen und Freiheitsgraden, die sich sowohl rhythmisch wie auch thematisch niederschlagen. Bach lässt nun seiner Phantasie und seinem Improvisationsgefühl freien Lauf und entfernt sich – bis auf die Basslinie – immer weiter von dem ursprünglichen Material. Dadurch entschweben die späten Variationen in immer höhere musikalische Ebenen und lassen sich nicht mehr in ein einfaches Raster einpassen. Kit Armstrong zeichnete diesen ansteigenden Weg in kühlere und schwer zugängliche musikalische Regionen meisterlich nach und malte das Bild einer Musik, die sich mit den üblichen Kriterien der unterhaltsamen Musik nicht mehr beschreiben lässt.
Den letzten Höhepunkt des Werks bildet dann die Variation 30, eine wahres Feuerwerk an thematischen und pianistischen Einfällen. Sie trägt die Bezeichnung „Quodlibet“ und enthält eine Reihe volkstümlicher Liedthemen. Man könnte sie als eine Zusammenfassung aller Ideen des Variationenzyklus in lebhafter Form auffassen. Hier geht es nicht mehr um die strenge Form des Kanons sondern nur noch um ausgelassene, deswegen aber nicht weniger virtuose Musik, die Kit Armstrong zu einem wahren Höhepunkt des Abends hochspielte. Hier nahm sein Spiel den Zuhörern buchstäblich den Atem, und viele mussten wohl an sich halten, um nicht spontan Szenenapplaus zu spenden. Denn es kam ja noch die abschließende Aria vom Beginn, die den Kreis schließt und die Armstrong im selben Stil wie zum Auftakt präsentierte.
Nach dem letzten Ton herrschte einige Sekunden Pause, und dann brach ein Begeisterungssturm aus. Der Beifall ging schon bald in rhythmisches Klatschen über, so dass sich Armstrong bemüßigt fühlte, nach einer kurzen Ansprache – siehe oben – als Zugabe eine frühe Variationenfolge aus nicht ganz gesicherter Feder zu spielen.
Frank Raudszus
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