Carl Maria von Webers „Freischütz“ im Staatstheater Darmstadt.
Um 1817 hatte sich Europa beruhigt: die französische Revolution mit ihren Exzessen war Geschichte, Napoleon endgültig in den Südatlantik verbannt, und Metternichs Restauration hatte für eine Rückkehr zum vermeintlich bewährten Feudalsystem gesorgt. In diesem faulen Frieden begann sich das Biedermeier einzurichten und konnte sich wieder Alltagssorgen und Aberglauben hingeben, da die Aufklärung ins Stocken geraten und die industrielle Entwicklung noch nicht um sich gergriffen hatte. In solchen „Zwischenzeiten“ haben Gruselgeschichten aller Art Hochkonjunktur, und lustvoll weidet man sich – ähnlich dem Horrorfilm heutigen Zuschnitts – an nicht mehr selbst zu erlebendem Schrecken.
Carl Maria von Weber griff diese Stimmung auf und vertonte die „schreckliche “ Legende vom Freischütz, der sich vom Teufel treffsichere Kugeln einhandelt, in seiner gleichnamigen Oper. Während jedoch die Volkssage tragisch endet, ließ Weber nur den Bösen sterben und die Guten überleben.
Der Jägerbursche Max will den alten Förster beerben und dessen Tochter Agathe heiraten. Vorher muss er jedoch nach altem Brauch for dem Landesfürst einen Probeschuss abgeben. Da er in letzter Zeit sehr schlecht geschossen hat, lässt er sich von seinem Kameraden Kaspar, der selbst ein Auge auf die Försterei geworfen hat, überreden, sich bei „Samiel“, dem Teufel, sieben „Freikugeln“ zu besorgen. Nur Kaspar weiß, dass nur sechs Kugeln dem Wunsch des Schützen folgen, die siebte aber vom Teufel gelenkt wird. Mit diesem vereinbart der selbst in der Falle der siebten Kugel steckende Kaspar, dass Maxens siebte Kugel Agathe treffen und damit Tod und Verzweiflung in die Förstersfamilie tragen soll. Doch bei Weber trifft die letzte Kugel dank höherer Mächten Kaspar tödlich, während Agathe nur in Ohnmacht fällt. Ende gut, alles gut.
Natürlich geht es Weber und auch seinen Interpreten nicht um die vordergründige Geschichte, sondern um die Konfrontation des schwachen Individuums mit einer es permanent prüfenden Gesellschaft, um die Angst vor dem Versagen und um die Versuchung, sich mit unlauteren Mitteln einen Vorteil zu verschaffen, um das schlechte Gewissen, das daraus erwächst, und um die befreiende Selbstüberwindung – sprich Reue – die sich bei Max in der Beichte und dem Bekenntnis zum Glauben manifestiert. Um diese eher ernste Botschaft zu übermitteln, hat Weber jedoch eine leichte Hand bewiesen. In leichter, nahezu komödiantischer Manier dramatisiert und vertont er die symbolschwere Handlung, so dass vordergründig eine temporeiche Oper mit Anklängen an die damals noch nicht ausgebildete Operette ensteht. Eingängige Lieder wie „Durch die Wälder, durch die Auen“ oder „Wir winden Dir den Jungfernkranz“ und viele temperamentvolle Chorszenen mit einem kopfstarken Ensemble sorgen für viel Tempo und Witz. Die Musik, weniger von Themen als von der Situation gelenkt, passt sich der jeweiligen Szene an und durchläuft alle Phasen vom schmissigen Liedthema bis zum schauerlichen, fast atonalen Konglomerat aus Klängen und Motivfetzen in der Wolfsschluchtszene.
Regisseur Friedrich Meyer-Oertel stand vor dem Problem, eine Oper, deren Wirkung weigehend auf dem Schaudern des frühen 19. Jahrhunderts vor Teufel und Magie beruhte, in unsere Zeit zu transportieren. Heute wird der Teufel allenfalls noch als theologisch-intellektuelles Denkmodell begriffen, und bei dunklen Schluchten besteht die größte Angst vor einem verstauchten Knöchel. Auch der Aberglaube beschränkt sich mittlerweile auf eine vom „Lifestyle“ gesteuerte Selbstinzenierung. Von der Wand fallende Portraits alter Ahnen erzeugen höchstens Ärger über den Sachschaden, und eine Vertauschung des Braut- gegen einen Totenkranz wirkt höchstens peinlich. Wie also brigt man dem Publikum diese Oper nahe, die ihre eigentliche Aussage hinter einer so schmissigen Fassade verbirgt?
Meyer-Oertel hat sich konsequent gegen eine radikale Modernisierung entschieden und lässt die Handlung in dem ursprünglichen Ambiente spielen. Die Kostüme verweisen deutlich auf das Biedermeier, ebenso wie die äußerst sparsame Kulisse, die auf einer perspektivisch geschickt bemalten Wand einen Biedermeiersalon mit Durchblick auf Flur und Fenster darstellt. Ein besonders hübscher weil doppelbödiger Einfall: auf diesem „Rückraumbild“ ist die Zimmerwand in den Hintergrund verlegt – vorne prangt ein schönes Sitzmöbel – , das von der Wand gefallene Bild des Ahnen jedoch hängt real an der Kulisse und schafft damit ein Vexierbild aus unterschiedlichen Realitätsebenen.
Die Bühne selbst ist raumhoch mit schwarz- weißen, abstrahierten Darstellungen des Waldes behängt und wird damit selbst zur Schlucht, der Bühnenboden steigt nach hinten links hoch an und symbolisiert damit den Abstieg in die Schlucht menschlicher Ängste und Gefahren. Im schrecklichen Finale nach dem fehl gegangenen Probeschuss hebt sich dieser Boden auf ganzer Breite an und droht die Protagonisten unter sich zu begraben.
Eine Eigenart – soll man es Schwäche nennen? – der Oper besteht in den ausufernd langen Sprechszenen, die zwar zum Verständnis des Geschehens beitragen, das Tempo jedoch jedes Mal drosseln und wenig zur eigentlichen Dramatik beitragen. Die bei allem Bemühen eingeschränkten schauspielerischen Fähigkeiten der Sänger und die eher konventionellen als dramatisch aufgeladenen Dialoge verstärken diesen Effekt. Kurz: bei mancher Sprechszene werden die Augen schwer.
Wenn dann jedoch die Musik einsetzt, ist jedes Mal die Langeweile verschwunden. Das Orchester unter Stefan Blunier intoniert die Partitur mit viel Tempo und Dynamik. Doch neben der lebens- lustigen Seite der Romantik kommt auch die lyrische Seite zu ihrem Recht. Besonders bei den sehr innigen Arien der Agathe nimmt sich das Orchester soweit zurück, dass Doris Brüggemann keine Probleme hat, sich auf der Bühne stimmlich zu entfalten.
Und damit wären wir auch schon bei den Darstellern. Abgesehen davon, dass Scott MacAllister (Max) und vor allem Doris Brüggemann (Agathe) nicht unbedingt der Vorstellung eines verliebten jungen Pärchens entsprechen und einiges Abstraktionsvermögen bei den Zuschauern erfordern, zeigte sich das Ensemble der Darmstädter Oper wieder einmal von seiner besten Seite. Scott MacAllister und Christoph Begeman (Landesfürst Ottokar) hörte man die angekündigte Erkältung nicht an, vor allem der Part des Max litt darunter so gut wie gar nicht, und Doris Brüggemann beeindruckte wieder einmal durch ihre wandlungsfähige und klare Stimmgestaltung. Ihre Arien waren musikalische Höhepunkte des Abends. Doch Andrea Bogner als Ännchen lief Doris Brüggemann dieses Mal sogar noch den Rang ab, so beherzt und temperamentvoll gestaltete sie die allerdings auch dankbare Partie des lebenslustigen jungen Mädchens. Auch stimmlich war sie höchst präsent und überzeugte mit einer erstaunlichen Sicherheit in allen Lagen. Hans-Joachim Porcher legte als Erbförster im giftgrünen Gewand eine so sichere wie routinierte Partie hin, Christoph Begemann musste als würdiger Landesherr diesmal auf alle Späße verzichten und absolvierte seinen Part mit der gebotenen Würde. Überzeugend auch Friedemann Kunder als Jäger Kaspar, der in seiner verzweifelten Verderbtheit sogar mehr Kontur auf die Bühne brachte als der „gute“ Max. Aber die Bösen sind halt immer interessanter als die Guten. Besonders hervorzuheben ist auch Michael Witte als „schwarzer Jäger Samiel“, sprich: der Teufel. Überall schlich oder hinkte er hinterhältig-schlau umher, oft von den Menschen nicht gesehen, nur von Einigen erahnt, diente sich der hohen Politik (!) als alimentierter Berater an oder schleuderte aus der Höhe der Hölle (hier im (Bühnen-)Himmel angesiedelt) dem armen Kaspar seine so kalten wie hohlen Worte entgegen. Michael Witte bildete mit seinen weit gehend stimmlosen Auftritten dennoch eine Art Mittelpunkt dieser Inszenierung. „Am Teufel hängt, zum Teufel drängt doch alles, ach wir Armen“ – möchte man da in plagiatorischer Abwandlung fast ausrufen!
Ein besonderers Lob gilt auch dem Chor, der diesmal durch den „Mozartverein 1843 Darmstadt“ verstärkt wurde. André Weiß hatte besonders an der szenischen Integration des Chors gefeilt, mussten dessen Mitglieder doch in vielen Verkleidungen und Verrenkungen auftreten, so bei der wahrhaft schaurigen Szene in der Wolfsschlucht als wolfsköpfige Gehilfen des Teufels. Selbst das 21. Jahrhundert konnte diese Szene noch – ein wenig – das Gruseln lehren.
Das Publikum dankte dem Ensemble für diese Leistung mit langem Beifall, zur Begeisterung reichte es dieses Mal jedoch nicht. Nur bei Andrea Bogners Verbeugungen zeigte der Beifall deutliche, fast begeisterte Ausschläge nach oben. Das mag wohl daran liegen, dass die Geschichte selbst eigentlich niemanden wirklich faszinierte oder zutiefst berührte. Tempora mutantur……
Frank Raudszus
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