Ein neuer Erklärungsansatz für die seltsame „Verschränkung“ von Elementarteilchen.
Nach dem die religiös – oder eher klerikal – grundierte Sicht der physischen Welt, so wie sie sich uns darstellt, dem heliozentrischen und schließlich galaktischen Weltbild samt „Urknall“ gewichen war, konnten sich rationale Modelle für die Erklärung unserer natürlichen Umwelt entwickeln. Isaak Newton brachte es mit seiner streng kausalen, mathematisch fundierten Methode von Beobachtung, Formalisierung, Vorhersage und experimenteller Bestätigung nicht nur zu Weltruhm, sondern eröffnete damit auch die Entwicklung der modernen Naturwissenschaft und Technik. Aus noch zu erläuternden Gründen nennt man dieses System auch „lokal“, da sämtliche Wirkungen auf letztlich „lokalen“ Einflüssen wie Druck, Schall oderLicht beruhen, die sich mit bestimmten Geschwindigkeiten innerhalb des „lokalen“ Systems ausbreiten und eine entsprechende Wirkung ausüben. Der Begriff „lokal“ kann sich dabei auf beliebig große Räume beziehen, solange sich die Ausbreitungsgeschwindigkeiten der Einflüssen mit den Wirkungen in Einklang bringen lassen. Als Beispiele mögen das Licht der Sonne, das acht Minuten bis zur Erde benötigt, oder die Kommunikation mit fernen Raumfahrzeugen, deren Signal teilweise Stunden bis zur Erde benötigen, dienen.
Dieses festgefügte „Glaubenssystem“ erlebte jedoch einen Schock durch die Merkwürdigkeiten der Quantenphysik. Dort entdeckte man, dass zwei von einander entfernte Elementarteilchen – etwa Photonen – gleichzeitig ihren Zustand wechseln, ohne dass sie Informationen über ihren jeweiligen Zustand austauschen können. Wie von einer geheimnisvollen Hand außerhalb der uns bekannten Welt gesteuert, scheinen diese miteinander „verschränkten“ Teilchen ein perfektes Zwillingsleben zu führen, dessen Zustandswechsel jedoch auf Zufällen beruhten. Einstein lehnte die Quantenphysik bekanntlich ab, da sie seinem Verständnis eines deutlich von Ursache und Wirkung geprägten Weltbildes zuwiderlief.
Seit der Entdeckung der „Verschränkung“ haben Wissenschaftler immer wieder zu Erklärungsversuchen im Rahmen der herkömmlichen Weltbilder angesetzt. Dies erwies sich als besonders schwierig, da die Verschränkung sich auch über unterschiedliche Bezugssysteme erstreckte, etwa wenn sich die verschränkten Teilchen mit hoher Geschwindigkeit gegeneinander bewegten. Dann können relativistische Effekte auftreten, die nur noch lokale, d. h. bezugssystemspezifische Definitionen der Zeit zulassen. Die einen schlossen auf Kommunikationspfade mit Überlichtgeschwindigkeit, die anderen auf ein übergeordnetes, sozusagen „absolutes“ System, das alle Teilchen mit ihren Zuständen kennt und im Sinne einer „Raumkraft“ unmittelbar einwirken kann. Doch wie diese Raumkraft sich ausbreitet, oder ob sie immer „da“ ist, ließ sich nicht klären.
Nicolas Gisin arbeitet seit Jahrzehnten auf diesem Gebiet und verfolgt eine andere Linie, die in den letzten Jahren deutlich an Bedeutung gewonnen hat. Für ihn spielen dabei der Zufall und die „Nichtlokalität“ eine zentrale Rolle. Unter letzterer versteht er Abläufe, die nicht auf einer deterministischen Beziehung von Ursache und Wirkung beruhen, sondern nur den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit unterliegen. Konkret gesprochen: bei einer begrenzten Menge möglicher Zustände gibt es eine bestimmte Wahrscheinlichkeit, dass zwei entfernte Systeme – hier: Teilchen – den selben Zustand einnehmen. Da die Teilchen-Zustände meist binären Charakter haben, etwa der „Spin“, können die Ergebnisse beliebiger Ursachen nur einen von zwei möglichen Zuständen widerspiegeln.
Die Komplexität und Unzugänglichkeit dieses Themas für den nur in den lokalen drei Dimensionen denkenden Menschen konkretisiert Gisin anhand des „Bell-Spiels“, bei dem (binäre) Auslöser und (binäre) Ergebnisse zweier voneinander unabhängiger Systeme verglichen und mathematisch beschrieben werden. In dem Beispiel mit den Spielern A(lice) und B(ob) geht es gerade um die Wahrscheinlichkeit, dass beide dasselbe Ergebnis erzielen, ohne sich untereinander abzusprechen. Zwar erzielt Gisin mit dem „Bell-Spiel“ eine wesentlich größere „Griffigkeit“ des Problems, doch die Schwierigkeiten des Verständnisses kann er damit nur begrenzt auflösen, da dies einen radikal anderen Denkansatz erfordert, als wir ihn in unserem täglichen – auch naturwissenschaftlich-technischen! – Leben gewohnt sind. Sowohl mit „nur“ logischen als auch mit mathematischen und physischen Argumenten widerlegt er sowohl die (überlichtschnelle) Kommunikation zwischen den Teilchen – Austausch von lokalen Variablen – als auch das übergeordnete, allwissende System mit seinen „nichtlokalen Variablen“. Es bleibt der „unbegreifliche“ Zufall, der allerdings in einem mehrdimensionalen Raum nicht mehr ganz so unbegreiflich scheint. Es hat sich nämlich laut Gisin herausgestellt, dass sich die Quantenzustände in einem höherdimensionalen mathematischen Raum widerspruchsfrei darstellen lassen. Dies kann man spekulativ so deuten, dass unabhängige Teilchen des dreidimensionalen Raumes nur Abbilder eines einzigen Teilchens in einem höherdimensionalen Raum sind. Man kann das mit einer Maurerkelle vergleichen, bei der die beiden Enden des Griffes im zweidimensionalen Raum der Fläche vermeintlich unabhängige Punkte darstellen, die – zum Beispiel bei Erhitzung oder Aufladung des Griffs – auf „unerklärliche“ Weise denselben Wert annehmen.
Doch da dieser mehrdimensionale Raum uns – auch Gisin – begrifflich nicht zugänglich ist, lässt er sich zwar spekulativ, aber nicht argumentativ verwenden. Aus der Sicht unseres dreidimensionalen – mit der Zeit vierdimensionalen – Raums kann dann nur noch der Zufall herangezogen werden. Bei aller gedanklichen Schärfe der Beweisführung verlässt Gisin daher nie die Basis des seriösen Wissenschaftlers und geht nicht darüber hinaus, was er beweisen kann. Da er die anderen, auf Kommunikation basierenden Theorien, nur falsifizieren kann und dies auch tut, beschränkt er sich auf den „unbegreiflichen Zufall“ der Quantenverschränkung.
Dass diese Zufälligkeit folgenschwere konkrete Konsequenzen hat, zeigt Gisin in den praktischen Kapiteln. Hier kommt er auf die Quanten-Kryptographie zu sprechen, die es dank des unbegreiflichen Zufalls erlaubt, absolut sichere Verschlüsselungssysteme zu entwickeln. Darüber hinaus diskutiert er die „Quantenteleportation“, die es prinzipiell erlaubt, komplexe System an einem fernen Ort zu duplizieren. Das geht zwar nicht so naiv-einfach wie bei „Scotty´s Beamen“, stellt jedoch andererseits keine bloße Science Fiction dar.
Mit diesem kleinen Bändchen liefert der Autor einen guten, wenn auch nicht einfach lesbaren Statusbericht aus der seltsamen Welt der Quantenphysik und zeigt auf, dass auf diesem Gebiet in den nächsten Jahrzehnten noch spektakuläre Erkenntnisse zu erwarten sind.
Das Buch „Der unbegreifliche Zufall“ ist im Verlag „Springer Spektrum“ erschienen, umfasst 223 Seiten und kostet
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