Das Staatstheater Darmstadt präsentiert einen „Kafka-Abend“ mit zwei für die Bühne aufbereiteten Texten des Prager Außenseiters.
Franz Kafka gehört zum Bildungskanon deutscher Abiturenten, obwohl es höchst fragwürdig ist, gerade diesen schwierigen, an komplexen Metaphern und Assoziationen reichen Autor vom Leben noch unbeleckten jungen Menschen vorzusetzen. Doch je älter man wird, desto mehr entschlüsseln sich Kafkas Texte, und nicht umsonst hat sich der Begriff „kafkaesk“ zu einem festen Topos entwickelt. Das Staatstheater Darmstadt hat in den letzten Jahren zwei Stücke Frank Kafkas auf die Bühne gebracht: den „Bericht für eine Akademie“ im Jahr 1998 und den „Prozess“ im letzten Jahr. In der laufenden Saison kommt Kafka gleich in einer Doppelpremiere auf die Bühne des Kleinen Hauses, und zwar mit dem „Bericht für eine Akademie“ und „In der Strafkolonie“.
Für den „Bericht an eine Akademie“ hat Schauspieldirektor Jonas Zipf die Dramaturgie, Miriam Schliehe die Kostüme und Stephan Hintze die Choreographie übernommen. Einen separaten Regisseur weist das Programmheft wegen der Bedeutung der anderen drei Funktionen nicht aus. Die Kostüme beschränken sich nämlich nicht auf das Aussehen, und die Choreographie ist wegen der Eigenart der Kostüme erforderlich, die wiederum auf die besonderen Umstände zurückzuführen sind. In diesem Stück tritt nur eine Person auf, nämlich der vom Affen zum Menschen aufgestiegene Berichterstatter, der seine erstaunliche Karriere erklärt. Da der querschnittsgelähmte Samuel Koch nur eine reine Sprechrolle und auch die nur eingeschränkt hätte ausfüllen können, hat man ihn mit Robert Lang buchstäblich zu einer Doppelperson verschmolzen, bei der Lang seinen Kollegen sozusagen vor seinem Körper trägt. Das schwarze Kostüm presst beide Torsi zu einem zusammen, Arme und Beine sind durch Klebebänder so eng aneinandergefügt, dass die resultierende Gestalt wie eine einzige, etwas unförmige Figur wirkt. Die durch diese Verdoppelung bewirkte Unförmigkeit erinnert tatsächlich an eine Art Tier, etwa an einen großen Menschenaffen.
Zu Beginn sitzt die Gestalt bei abgedunkelter Bühne auf einem Stapel Autoreifen, Front zum Publikum. Der durch eine schwarze Maske abgedeckte Kopf verschwindet fast hinter Samuel Kochs unbedecktem Kopf, so dass man tatsächlich eine einzige Person vermutet. Nur der Text, in den ersten Sätzen von Robert Lang vorgetragen, mutet wie ein Playback an, da der „Frontmann“ Samuel Koch dazu den Mund bewegt. Erst als die Szene etwas besser ausgeleuchtet wird, erkennt man die Struktur dieser Doppelperson, die sich durchaus als eine Metapher für den Affen und den daraus sich entwickelnden Menschen verstehen lässt. Kafka wollte mit dieser Erzählung sicher nicht auf Darwins Evolutionstheorie anspielen. Seine Geschichten kommen aus einer tieferen, psychischen Schicht. Der Affe ist der Mensch, der sein Leben lang unter dem Druck steht, mitzuhalten und sich dadurch „einen Ausweg zu schaffen“, dass er sich der Gesellschaft anpasst – auf Kosten seines authentischen Wesens.
Jonas Zipf hat den Text stark gekürzt, so dass nur noch die Kernsätze bestehen bleiben. Der Schwerpunkt dieser Inszenierung liegt nicht auf dem Inhalt des Berichtes sondern auf der Darstellung des äffisch-menschlichen Wesens. Die Textkürzungen sind offensichtlich auch aus einem praktischen Grund erfolgt. Samuel Koch hat nicht die Kraft, einen schwierigen Text über längere Zeit konzentriert vorzutragen. Daher muss Robert Lang in seinem Rücken nicht nur die gesamte Steuerung der Bewegungen sondern auch noch größere Teile des Textes übernehmen. Das macht einen ausgefeilten, auf Besonderheiten des Textes achtenden Vortrag so gut wie unmöglich.
Trotz der praktischen Hindernisse bilden die beiden Darsteller ein gut abgestimmtes Paar, das die Metapher des sich verzweifelt anpassenden Tieres „Mensch“ überzeugend zum Ausdruck bringt. Die beiden beschränken sich nicht auf eine statische Wiedergabe sondern nutzen die Bühne für kleine Ausflüge, die den Bewegungsdrang eines Tieres widerspiegeln. Auch die bei anderen Inszenierungen üblichen Bewegungen wie Kratzen oder „Über-den -Bauch-streichen“ fehlen hier nicht und sollen den Affen über das verbale hinaus präsentieren. Bewusst eingebaute Sprechpausen lenken die Aufmerksamkeit auf die Körpersprache.
Diese Form der Inszenierung birgt eine große Gefahr des Scheiterns in sich, da die Einschränkungen eines weitgehend handlungsunfähigen Schauspielers nicht nur kompensiert sondern sogar sinnvoll integriert werden müssen. Das gelingt weitgehend, wobei Robert Lang in jeder Hinsicht Schwerstarbeit „im Hintergrund“ leistet. Das bedeutet jedoch nicht, dass Samuel Koch nur als Aushängeschild fungiert. Im Rahmen seiner Möglichkeit trägt er zum Gelingen dieser Aufführung bei.
Nach der Pause schloss sich die Inszenierung des Prosastücks „In der Strafkolonie“ an, passend zum bevorstehende Karfreitag, der auf Dornenkrone und Folterung Jesu Christi verweist, und ebenso passend zum Jahrestag der Befreiung des Kontentrationslagers Buchenwald und des Ende des Nationalsozialismus, der sich bei dieser Erzählung als Assoziation geradezu aufdrängt. Der Dialog zwischen einem Offizier und einem Forschungsreisenden über die mechanisch-industrielle Folterung und Hinrichtung eines geringfügig Schuldigen entstand im Jahr 1919, lange vor dem Nationalsozialismus und seinen industriellen Mordmaschinen und zu einer Zeit, als man eigentlich noch an die Zukunft der Demokratie glauben konnte. Man sollte Kafka hier keine politische Vision unterstellen, auch wenn sie sich „a posteriori“ noch so sehr anbietet. Auch diese Geschichte hat wieder viel mit gefühlter und nicht rational nachweisbarer Schuld zu tun. Wenn man will, kann man die Exekutionsmaschine als Metapher des Lebens auffassen, das den Menschen als Schuldigen „per definitionem“ langsam und grausam hinrichtet.
Die Rollen des Offiziers und des Forschungsreisenden sind in dieser Inszenierung durch Frauen besetzt, doch im Gegensatz zu anderen Stücken, bei denen das „Crossover“ bemüht oder gar aufgesetzt wirkt – „Romeo und Julia“ und „Penthesilea“ seien als Beispiele genannt – wirkt die Besetzung bei diesem Stück nicht sperrig. Das liegt im Wesentlichen daran, dass die beiden Figuren bei Kafka keine Männer im Sinne des Geschlechts sondern eher abstrakte Funktionsträger darstellen. Der Text bewegt sich in einer Ebene weit jenseits des üblichen menschlichen Alltags. Hier treffen zwei Systeme aufeinander, der Vertreter einer höheren, strafenden Instanz und der Vertreter der menschlichen Niederungen. Man kann das durchaus religiös auffassen, doch in diesem System sind beide Seiten aufeinander angewiesen. Wenn der Offizier nach der Ablehnung des Reisenden, beim neuen Kommandanten für die Beibehaltung der Exekutionsmethode einzutreten, sich selbst auf der Maschine zu Tode foltern lässt, kann man das als Ende des pseudo-religiösen Systems deuten. Der Reisende steht dann für die Menschheit, die ihren Glauben an höhere Instanzen verloren hat und ihnen nur noch gleichgültig gegenüber steht – der Reisende äußert nie seine persönliche Meinung über die Methode, er weigert sich lediglich, für die einzutreten -, und der Tod des Offiziers bedeutet letztlich das Ende aller Religionen oder Glaubenssysteme. Das mag Kafka mit der Selbstopferung des Offiziers im Sinne gehabt haben. Die Freilassung des Verurteilten ist auch nicht als Erlösung zu verstehen. Seine Schuld bleibt, sie ist „zweifellos“, wie gering sie auch immer sein mag, und er wird sich selbst überlassen. Weder der Offizier noch der Reisende kümmern sich noch um ihn. Nach dem Ende des Offiziers ist jeder nur noch für sich allein zuständig. Es gibt zwar keine Strafende, aber auch keine sorgende Instanz mehr. Der Forschungsreisende – ein indifferenter Beobachter – ist kein Ersatz für diese höhere Instanz, die nie begreifbar sein wird.
Gabriele Drechsel (Offizier) und Judith van der Werff (Reisender) präsentieren das Stück im reinen Dialog. Soldat und Verurteilter, im Prosatext durchaus Teilnehmer der Handlung, existieren hier nur in den Gesprächen der beiden Protagonisten. Der Text ist gegenüber dem Origonal zwar deutlich gekürzt, der Zusammenhang der Geschichte bleibt jedoch erhalten. Judith van der Werff spielt den Reisenden als distanzierte, ironische aber nie entsetzt reagierende Person, und setzt sich auch durch ihre fast elegante Kleidung von dem Offizier ab. Gabriele Drechsel tritt dagegen in einem entfernt militärisch anmutenden Kostüm auf – Reithosen, hohe Stiefel – und verleiht dem Offizier gespreizte und auftrumpfende Bewegengen, die Selbstbewusstsein mehr suggerieren sollen als es wirklich auszudrücken. Beide bleiben auf der distanzierten, realitätsfernen Ebene, die alle Texte Kafkas auszeichnet. Keinen Augenblick lang sind sie normale Menschen, sondern durchgängig Vertreter anstrakter, im Falles des Offiziers undurchschaubarer Prinzipien. Das lässt die Inszenierung zwar etwas steril wirken, aber Kafka in einem menschelnden Ambiente anzusiedeln, wäre wohl ein grundlegender Fehler. Seine Figuren müssen ziellos suchende, unter einem nicht zu verstehenden Joch leidende Figuren sein. Nur so lässt sich das durchgängige Leitmotiv von unverstandener Schuld und schicksalhafter Sühne auf der Bühne umsetzen. Man darf die Bühnenfassungen von Kafkas Texten nicht als dramatisierte Handlung sondern nur als weit ausholende Metaphern verstehen, falls man sie versteht.
Das karge Bühnenbild unterstützt diese Sicht, indem es darauf verzichtet, die Objekte der Handlung – Verurteilter, Soldat, Maschine – auf der Bühne zu zeigen. Hebungen und Senkungen verschiedener Bühnenelemente betonen gewisse Situationen, und am Schluss senkt sich ein bühnenbreites Drahtgestell von oben über die Bühne, das man als Abbild der im Text erwähnten mörderischen „Egge“ verstehen kann.
Viel Beifall für alle Beteiligten dieser Premiere, auch für die Regieteams, belohnte das Ensemble für zwei sicher nicht einfache Inszenierungen schwieriger Texte.
Frank Raudszus
Alle Fotos © Robert Schittko
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