Der Bericht über einen unbekannten aber zentralen Aspekt der Schlacht von Waterloo
Der Titel dieses Buches zitiert ein anderes bekanntes Buch der Kriegsliteratur: „Der längste Tag“, das die Invasion der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie beschreibt. Wie dieser Tag hatte auch der Tag von Waterloo zentrale historische Bedeutung, denn wer weiß, wie die Geschichte sich entwickelt hätte, wenn Napoleon an diesem Tage gewonnen hätte. Darüber hinaus geht es wieder einmal um ein Jubiläum, denn die Schlacht von Waterloo jährt sich dieses Jahr zum zweihundertsten Male.
Der Autor des Buches ist über den Verdacht des reißerischen Kriegsbuchverfassers erhaben, denn er ist Historiker und Professor an der Universität von Cambridge. Man kann ihm also zu Recht unterstellen, dass ihm Nationalismus, Ideologie oder gar Heldenverehrung fern liegen. Allerdings ist ihm die Art der bisherigen Darstellungen zum Thema „Waterloo“ negativ aufgestoßen, da dort offenbar wichtige Aspekte übersehen wurden. Da es dabei um die – herausragenden! – Leistungen deutscher Kriegsteilnehmer geht, kommt der Verdacht des Lokalpatriotismus erst gar nicht auf.
Jeder historisch rudimentär gebildete Leser kennt Wellingtons Ausspruch „Ich wünschte, es würde Nacht oder die Preußen kämen“. Dieses Stoßgebet entstand angesichts einer militärisch sehr prekären Situation, als die kriegserfahrenen Truppen Napoleons am späten Nachmittag des 18. Juni 1815 kurz davor waren, das alliierte Zentrum zu durchbrechen. Wie wir alle wissen, erreichte Blücher das Schlachtfest gerade noch rechtzeitig, um Napoleon in die Flanke zu fallen und die Wende in der Schlacht zu erzwingen. Doch warum Napoleon überhaupt so lange brauchte, um Wellingtons Zentrum ernsthaft zu gefährden, das wurde laut Simms in der bisherigen Literatur höchstens als Randnotiz behandelt.
Im Mittelpunkt steht in diesem Buch – und stand damals in der Schlacht – die „Königlich-Deutsche Legion“ – englisch „King´s German Legion(KGL)“. Diese Truppe stellten die Engländer, einzig verbliebene ernsthaften Gegner Napoleons bis 1813, aus flüchtigen deutschen Männern – vornehmlich Hannoveranern – zusammen, die sich weder Napoleon ergeben noch gar in dessen militärische Dienste treten wollten. In den einleitenden Kapiteln beschreibt Simms detailliert die Entstehung, Zusammensetzung sowie den Korpsgeist der KGL, die sich bereits in den spanischen Kriegen gegen Napoleon erste Meriten erworben hatte und deren Mitglieder ein patriotischer Hass auf das napoleonische Frankreich einte.
Die Bataillone der KGL standen denn auch wegen ihrer hohen Wertschätzung durch die Engländer im Zentrum der Schlachtaufstellung, die am 17. Juni nach einer unglücklich verlorenen Schlacht unter fast rückzugsartigen Bedingungen bei Waterloo erfolgte. Zwischen den alliierten und französischen Linien lag ein großer Gutshof, „La Haye Sainte“, der sich als vorgeschobener Posten und „Wellenbrecher“ gegen die französischen Truppen anbot. Hier postierte Wellington das 2. Leichte Bataillon der KGL mit gerade einmal 400 Mann, die aufgrund des hastigen Rückzugs weder über Befestigungsmaterial noch über schwere Waffen verfügten und überdies total erschöpft und vom Dauerregen völlig durchnässt waren.
Am Morgen des 18. Juni befestigte das Bataillon den Hof provisorisch und richtete sich auf die Verteidigung gegen die Franzosen ein, die dann auch gegen Mittag in der Absicht und Meinung kamen, den Hof einfach zu überrennen. Was nun folgte, war einer der seltenen Fälle eines Widerstands bis zur buchstäblich letzten Patrone, der die Franzosen schwere Verluste kostete und sie bis in den frühen Abend immer wieder zurückwarf. Als dann der Hof nicht mehr zu halten war und alles verloren schien, betraten Blüchers Preußen die Szene und retteten den Sieg, aber das ist nicht mehr Gegenstand dieses Buches.
Simms schildert diesen „längsten Nachmittag“, der übrigens fast mit dem längsten Tag des Jahres zusammenfiel, in allen militärischen Details, aber auch mit der gebührenden Betonung der individuellen Leistungen und Schicksale auf Seiten des 2. Leichten Bataillons. Offiziere, Unteroffiziere und einfache Mannschaften werden namentlich und mit ihren Leistungen an diesem Nachmittag vorgestellt, wobei sich Simms jeglicher heroischer Überhöhung enthält. Pazifistische Puristen mögen in dieser Schilderung eine Glorifizierung militärischer Leistungen sehen und sie als solche ablehnen, Simms geht es jedoch lediglich um die Beschreibung eines Orts und eines kurzen Zeitraums der europäischen Geschichte, die ausschlaggebenden Charakter für die weitere Entwicklung Europas hatten. Das tut er mit der gebotenen Sachlichkeit, aber auch mit viel Anteilnahme und schriftstellerischer Verve, so dass dieses Buch echte Spannung entwickelt. Auch wenn der Leser weiß, dass am Ende die Alliierten siegten, kann er sich der bis zum Schluss anhaltenden Spannung ob der Unsicherheit des Ausgangs nicht entziehen.
Wer sich nicht die detaillierte Literatur über „Waterloo“ zumuten will – auch das könnte sehr lehrreich sein! -, der findet hier zumindest anhand eines einzelnen, aber zentralen Aspekts einen Zugang zu diesem historischen Angelpunkt europäischer Geschichte.
Das Buch ist im Verlag C.H.Beck erschienen, umfasst 191 Seiten und kostet 18,95 €.
Frank Raudszus
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